Schweitzer Fachinformationen
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1. KAPITEL
Es dämmerte, als das Taxi unterhalb der Porta al Prato, des imposanten Stadttors aus gelblichen Sandsteinquadern, anhielt.
»Von hier aus müssen Sie zu Fuß gehen, Signorina. Autos sind in der Altstadt von Montepulciano verboten«, sagte der Fahrer knapp und machte sich daran, ihr Gepäck aus dem Kofferraum zu laden. Müde stieg Alessia aus, schwang sich ihren großen Rucksack über die Schulter und griff nach dem schweren Koffer. Sie war nach der langen Zugfahrt von Norddeutschland bis in die Toskana und der Taxifahrt vom Bahnhof bis vor die mittelalterliche Stadtmauer völlig erledigt.
Umständlich begann sie in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie zu graben. »Wissen Sie vielleicht, wie ich zum Haus von Principe Farnese komme? Ich kenne mich in Montepulciano leider überhaupt nicht aus.«
»Die Via di Voltaia nel Corso hier hinter der Porta al Prato hoch, vorbei am Caffè Poliziano. Halten Sie sich rechts, und wenn Sie die Piazza Grande erreichen, müssen Sie wieder rechts«, erklärte er in schnellem Italienisch. »Dort, in der engen Gasse, finden Sie den Palazzo Farnese. Achten Sie auf den steinernen Löwenkopf. Der ist nicht zu übersehen.« Er nickte ihr aufmunternd zu und stieg in sein Auto.
Alessia sah ihm nach, als er mit quietschenden Reifen davonfuhr. Obwohl der Fahrer nicht besonders gesprächig gewesen war, fühlte sie sich jetzt, ohne ihn, mit einem Mal schrecklich allein und verlassen. Dabei flanierten um sie herum eine ganze Menge Menschen, die durch den imposanten Bogen des Stadttors in die Innenstadt strebten.
Trotzdem hatte sie das Gefühl, unsichtbar zu sein. Niemand beachtete sie. Sie beobachtete die Pärchen, die Hand in Hand oder Arm in Arm nur Augen füreinander hatten. Die meisten waren Touristen, ausgerüstet mit Kamera und Reiseführer, aber auch ein paar Einheimische, die sich zielstrebig zwischen ihnen hindurchschlängelten. Alle schienen ein Ziel zu haben und erwartungsvoll darauf zuzusteuern.
Alessia dagegen wusste nicht so recht, was sie im Palazzo von Principe Leonardo Farnese erwartete. Seine Stellenanzeige, die sie vor ein paar Wochen in einem Fachmagazin entdeckt hatte, hatte für die frischgebackene Kunstwissenschaftlerin allerdings sehr interessant geklungen:
Cataloguer gesucht
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Principe Leonardo Farnese
Palazzo Farnese
53045 Montepulciano, Toskana
Das Stellenprofil hatte Alessia sehr gereizt, zumal ihr erster Job nach der Uni, in dem kleinen Antiquariat in Wandorf, nicht ganz das gewesen war, was sie sich erträumt hatte. Das meiste, was sie dort für den Besitzer begutachtet hatte, war nur wertloser Trödel gewesen. Doch nachdem sie mit ihrem Freund Christian nach Niedersachsen gezogen war, musste sie sich glücklich schätzen, in der Kleinstadt überhaupt eine Stelle gefunden zu haben, die im weitesten Sinne mit ihrem Abschluss zu tun hatte.
Sie war einverstanden gewesen, mit ihm aus der hektischen Metropole in die Provinz zu ziehen. Hier wollten sie sich gemeinsam etwas aufbauen. Sie hatten sich vor knapp zwei Jahren in Hamburg kennengelernt, wo er BWL und sie Kunstgeschichte studierte. Christian wollte heiraten und für sich und seine Familie ein Haus bauen, und irgendwann würde er das Geschäft seines Vaters übernehmen. Er hatte alles genau geplant und war sich sicher, dass Alessia die Richtige dafür war, um seine Lebensziele umzusetzen.
Vor einem halben Jahr waren sie nach Wandorf gezogen, in die komplett möblierte Einliegerwohnung im Hause seiner Eltern. Hier hatte Alessia sich nie besonders heimisch gefühlt. Und Christians Mutter machte es ihr auch nicht gerade leicht .
Weder die Abstammung noch die Kochkünste ihrer Schwiegertochter in spe waren nach ihrem Geschmack. Als Halbitalienerin benutzte Alessia natürlich ausschließlich natives Olivenöl und verschmähte das Sonnenblumenöl, das seine Mutter bevorzugte. Wenn die köstlichen Knoblauchgerüche aus Alessias Küche durchs Haus zogen, rümpfte Christians Mutter die Nase. Die italienischen Gerichte waren ihr zu scharf, der Espresso zu stark, und sie mochte nur weiche Eiernudeln, keine Pasta al dente aus Hartweizengrieß.
Alessia bemühte sich, freundlich zu sein, und lobte den obligatorischen Sonntagsbraten mit der dicken braunen Soße, der im Eiche-rustikal-Esszimmer der Eltern pünktlich um zwölf Uhr mittags verspeist wurde - obwohl sie Mehlschwitze nicht ausstehen konnte.
Doch es blieb nicht bei unterschiedlichen Auffassungen in Sachen Essen. Alessia konnte ihrer zukünftigen Schwiegermutter fast nichts recht machen: Die Musik von Paolo Conte klang nicht so gut wie die von Helene Fischer. Ihre Röcke waren der Mutter zu kurz, und die Geschichte altertümlicher Kunst interessierte sie nicht. Ihr Malereigeschmack war der deutsche Wald samt Hirsch in Öl, der über dem Sofakoloss aus dunkelgrünem Samt im spießigen Wohnzimmer röhrte.
Als die Konflikte sich weiter zuspitzten und Christian sich so gut wie immer auf die Seite seiner Mutter schlug, kam es schon bald zum ersten großen Krach. Der entstandene Riss in ihrer Beziehung ließ sich nur mühsam wieder kitten. Von der Verliebtheit und erotischen Anziehungskraft der Anfangszeit ihrer Liebe war praktisch nichts mehr übrig geblieben. Sie hatten seit Monaten nicht mehr miteinander geschlafen.
Und dann fand Alessia vor ein paar Wochen heraus, dass Christian sie mit seiner Trainerin aus dem Fitnessstudio in Wandorf betrog .
Beim Gedanken an die unschöne Trennung spürte sie wieder den dicken Kloß im Hals. Doch genau den wollte sie jetzt endlich loswerden. Sie atmete tief durch, rückte den schweren Rucksack zurecht, griff nach dem alten Lederkoffer, der leider keine Rollen hatte, und schleppte sich die leicht ansteigende Kopfsteinpflasterstraße hinauf.
Gleich hinter der Stadtmauer nahm das Gedränge zu. Menschen schlenderten an den Schaufenstern und Auslagen unzähliger kleiner Geschäfte vorbei, blieben hier und da stehen, um sich die verlockend auf Tischen und an Ständern angebotenen Weine, Souvenirs und kulinarischen Spezialitäten anzusehen. Alessia hatte keine Augen für all die schönen Dinge, sondern ging zielstrebig zwischen ihnen hindurch.
Vor dem Caffè Poliziano machte sie eine kurze Pause. Es sah sehr einladend aus. Zu gerne hätte sie dort einen Espresso getrunken, doch sie wollte endlich ankommen und ihr schweres Gepäck loswerden. Deshalb begnügte sie sich mit einem Blick durch das große Fenster ins wunderschöne Innere des Jugendstilcafés. Hier würde sie demnächst herkommen und die italienische Lebensweise genießen, beschloss sie und wischte mit dem Handrücken über ihre feuchte Stirn.
Selbst am Abend flirrte die Luft. Die dicken Steinmauern der hohen Häuser hatten die Hitze des Tages gespeichert. Das kurze dünne Baumwollkleid klebte Alessia am Rücken. Ihr Aufzug war ihr ein bisschen peinlich. Ein adrettes Kostüm hätte sicher einen besseren ersten Eindruck auf ihren neuen Arbeitgeber gemacht. Was würde Principe Farnese von ihr denken, wenn sie so in seinem Palazzo aufkreuzte?
Erschöpft raffte sie sich wieder auf, bog in eine kleine Gasse ab und fand an der nächsten Ecke ein Hinweisschild zur Piazza Grande. Die schmalen Straßen wurden immer steiler, und sie musste ihren Koffer mehrmals absetzen, bevor sie endlich den weiten Platz vor dem Rathaus, das mit einem hohen Turm geschmückt war, erreichte. Links von ihr erhob sich die Kathedrale, an der bis 1680, über hundert Jahre lang, gebaut worden, deren Fassade aber bis heute unvollendet war. Alessia war hingerissen von der Renaissance-Architektur, die sie in dieser Stadt umgab. Sie bog nach rechts ab und schleppte sich weiter. Jetzt wurde es enger und ruhiger. Die Touristenströme verirrten sich scheinbar nicht bis hierher. In der düsteren Gasse war sie völlig allein.
Suchend ließ Alessia den Blick über die Fassaden der imposanten Gebäude schweifen, deren massive raue Sandsteinmauern sich dicht an dicht drängten. Ihr war ein bisschen unheimlich zumute, und sie hatte das Gefühl, als würden die riesigen Häuser sie erdrücken.
Dann entdeckte sie den steinernen Löwenkopf. Beinahe in Lebensgröße schien er aus der grauen Mauer herauszuspringen. Mit wallender Mähne und gefletschten Zähnen blickte die Raubkatze ein paar Meter über ihrem Kopf grimmig auf sie...
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