Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
2
Montag
Als es an der Tür ihres WG-Zimmers klopfte, stand Mila van der Holst an ihrem Schreibtisch in der Fensternische und sortierte die Abzüge ihrer Fotos aus Manila für die Ausstellung im Gewerkschaftshaus. Jedes Bild erzählte seine eigene Geschichte. Das Mädchen auf der Suche nach Brot vor dem überquellenden Mülleimer, der Rikschafahrer, der sich eine Schneise in der Menge bahnte. Der Junge auf dem Fahrrad, dessen Silhouette sich in einer Pfütze spiegelte. Wie erwartet kamen die Bilder in Schwarz-Weiß besser heraus. Sie ähnelten klassischen Pressefotos. Bilder, in denen die Zeit stillstand.
Menschen, dachte Mila. Endlich hatte sie ein Thema gefunden, das sie interessierte. Vielleicht hatte Jannik recht, der behauptete, sie würde es noch bis in die National Geographic schaffen.
Wieder klopfte es. Mila ignorierte das Geräusch.
Der Sommer neigte sich. Durch das offene Fenster duftete es nach den Lindenbäumen, die die Bismarckstraße im Stuttgarter Westen säumten. Von Zeit zu Zeit segelte ein goldgrünes Blatt zwischen die parkenden Autos.
Sie bewohnten die Drei-Zimmer-Wohnung zu dritt, Mareike, Mila, die oft auf Reisen war, und Malte, der an der Uni in Vaihingen Maschinenbau studierte. Bald würde das Arrangement der drei Ms zu Ende gehen.
Mila konnte selbst nicht glauben, dass sie am 30. September mit Jannik vor den Traualtar treten würde. Er im Smoking, sie in dem Traum aus weißer Spitze und blassrosa Perlen, der an ihrem Schrank hing und auf den großen Tag wartete. Ihre zukünftige Schwiegermutter Stephanie fand, das Kleid passe perfekt zu ihrem exotischen Äußeren mit den dunklen Haaren und den grünen Augen. Gestern hatten sie gemeinsam die dreistöckige Torte bestellt, auf der ein zuckersüßes Brautpaar aus Marzipan prangte. Mila hatte den Prototyp fotografiert und per WhatsApp an Jannik geschickt. Auf eine Reaktion hatte sie vergeblich gewartet.
Kneif mich, ich heirate! Mila atmete tief durch und wartete auf das Gefühl überwältigender Freude, das sich nicht einstellen wollte. Vielleicht lag es daran, dass sich Jannik seit Tagen nicht meldete. Mistkerl.
Das Klopfen wurde penetrant. »Mila?«
»Komm rein!«
Mareike schob sich durch die Tür. Ihr Blick hatte etwas Schuldbewusstes, das nicht zu ihrer spontanen Art passte. Mareike war Erzieherin und eine Frohnatur, wovon nicht nur die Kinder profitierten.
Eine finstere Vorahnung erfasste Mila. Etwas stimmte nicht. Es hatte mit Jannik zu tun, um dessen Facebook-Account sie seit Tagen einen Bogen machte.
»Ich finde, das solltest du wissen. Es tut mir so leid.« Mareike legte ihr Smartphone auf den Schreibtisch zwischen die Fotos. »Vielleicht sollte ich dir das lieber vorenthalten. Aber dich geht es doch als Erste an. Ich verstehe gar nicht, wie er das tun kann.«
»Okay.« Mila trat näher, klickte sich auf Janniks letzten Post auf Facebook und las. Wie fühlte es sich an, wenn das eigene Leben in Trümmer brach?
»Es ist Schluss«, sagte sie.
Jannik hatte viertausendneunhundertachtundneunzig Freunde, die alle eher Bescheid gewusst hatten als sie.
»Ich konnte ihn tagelang nicht erreichen.«
»Er hat sich nicht bei dir gemeldet?«, fragte Mareike entrüstet. »Ihr wolltet heiraten.«
Mila legte ihr den Arm um die Schultern und versuchte, das Mitgefühl zu ignorieren, das ihr wie eine Welle entgegenschlug.
»Der Herr war in den letzten drei Tagen nicht für mich zu sprechen.«
»Und auf WhatsApp?«
»Ich hab's ungefähr tausend Mal versucht. Er hat nicht zurückgeschrieben.« Weder fünf Tafeln Schokolade noch ein Haufen zu bearbeitender Fotos hatten Mila von der bedenklichen Tatsache ablenken können, dass Jannik sie ignorierte. Sie atmete tief durch. Die Luft in ihrem Zimmer war zu knapp, was nicht am Stuttgarter Feinstaub lag. »Der Bräutigam, der sich nicht traut, also. Die Hochzeit ist damit ja wohl geplatzt.«
Am liebsten hätte sie sich in einen hysterischen Anfall hineingesteigert, aber das verbot sich von selbst. Zusammenbrechen war nicht drin. Mechanisch öffnete sie Janniks Reiseblog »Wunderwelt« und überprüfte, ob er sie auch dort abserviert hatte. Das war nicht der Fall. Der letzte Post stammte von einem Aufenthalt in Kerkyra letzte Woche. Lauter schöne Fotos von schmiedeeisernen Balkonen, die wie Vogelnester an den Häusern hingen.
»So ein Vollpfosten«, sagte Mareike leise.
»Du kannst nichts dafür.«
Entschlossen zog Mila ihren Rucksack vom Schrank, wobei sie jeden Blick auf das Brautkleid vermied, das wahrscheinlich für die Tonne war. Sie warf den Rucksack aufs Bett und stopfte wahllos hinein, was sich an sauberer Wäsche finden ließ. Jeans, Shorts, T-Shirts, zwei Blusen, einen warmen Pulli, Slips, Shampoo, ihre Zahnbürste, Zahnpasta, ihr Buch »Alice im Wunderland«. Die Kameratasche mit der Nikon legte sie daneben, auch wenn es auf dieser Reise nichts zu fotografieren geben würde.
Mila verfiel immer in hektische Aktivität, wenn das Leben sie zu überrollen drohte. Blinden Aktionismus nannte ihre Großmutter das. Mareike beobachtete sie wie paralysiert, was Mila noch mehr aus der Fassung brachte. Sie musste ihr etwas zu tun geben.
»Könntest du mir einen Flug nach Korfu buchen?«
»Na klar.« Erleichtert klickte sich Mareike in Milas Laptop ein.
Sechzehn Stunden später saß Mila im Flieger nach Korfu und lauschte ihrer Nachbarin, die ihr ausführlich darlegte, wie sehr sie sich auf ihren Traumurlaub am Meer freue, während das Paar auf der anderen Seite des Ganges sich vergeblich bemühte, seinen Säugling zu beruhigen. Mila begrüßte das bohrende Gebrüll als willkommene Ablenkung.
Mit Jannik zu sprechen würde nicht viel bringen. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er stur wie ein Esel. Dennoch musste sie es versuchen.
Trotz der Lärmkulisse im Flugzeug schlief sie über Albaniens Küstenlinie ein. Zum ersten Mal seit zwei Jahren begleitete sie das Gefühl der Einsamkeit in ihre Träume.
Sie erwachte erst wieder, als sich der Flieger über Korfus Westküste in die Kurve legte. Die Insel lag im Meer wie ein leuchtender Smaragd. Bevor sie zum Landeanflug an der Ostküste ansetzten, überflogen sie die lang gestreckten Sandstrände bei Chalikounas, die Lagune von Korission und die grün bewachsenen Berge des Inselinneren. Der Flughafen Ioannis Kapodistrias lag so nah an der wichtigsten Verbindungsstraße nach Süden, dass man sie für manche Landungen sperren musste. Villen, Hügel voller Zypressen, weiß leuchtende Schiffe auf dem blauen Meer - die Umgebung wurde rasant größer. Dann setzte das Flugzeug holpernd auf der Landebahn auf.
Die Fahrt vom Busbahnhof in Korfus Hauptstadt Kerkyra durch die Berge bis nach Acharavi dauerte gut eineinhalb Stunden. Mila stieg am Supermarkt »Zorbas« aus dem Green Bus und sah den Rücklichtern nach, die sich langsam in Richtung Kassiopi entfernten. In der Ferne hörte sie das Meer.
Es war ihr zweiter Aufenthalt auf der Insel. Sie hatte Jannik hierher begleitet, als ihre Liebe neu wie ein frisch gefundenes Stück Meerglas gewesen war. In ihrem ersten Urlaub hatte sie sich vor den griechischen Ladenschildern wie eine Analphabetin gefühlt. Jannik war entzückt gewesen, als sie es endlich geschafft hatte, einige wichtige Begriffe in der Landessprache zu entziffern, Dimitra, Pharmakeio, Nero. Und er hatte sich köstlich amüsiert, als es ihr einfach nicht gelingen wollte, eine Gyros-Pita aus der Hand zu essen, ohne dass ihr der Tsatsiki seitlich herausquoll.
Die Erinnerung tat weh. Entschlossen verdrängte sie das Gefühl, im Urlaubsparadies fehl am Platze zu sein. Vor der Tür des Supermarkts standen Gasflaschen und Sonnenschirme, eine Kühltruhe surrte, ein alter Hund hob langsam den Kopf, musterte sie und legte ihn zwischen seinen Vorderpfoten ab.
Mila zog die Gurte ihres Rucksacks fester und betrat den Laden. Zorbas, der an der Kasse saß und sich auf seine Fußballzeitschrift konzentrierte, verkaufte neben Lebensmitteln und Getränken alles, was Urlauber brauchten. Flipflops, Sonnenmilch und Sonnenbrillen, Strandtücher, Bikinis und Bücher in diversen Sprachen.
Ich muss essen, dachte Mila, auch wenn sich mein Magen wie zugeschnürt anfühlt. Verstohlen durchstreifte sie die Regalreihen und legte eine Wasserflasche, eine Packung Kekse und ein paar Trauben als Überlebensration in ihren Korb. Sie trat an die Kasse und hoffte, dass sich Zorbas seine Lust auf ein Schwätzchen verkneifen würde.
Er warf ihr einen prüfenden Blick zu, bevor er die Waren über das Kassenband zog. »Jannik ist an Strand.« Er zählte das Wechselgeld in ihre Hand. »Hab heute gesehen. Suchst du doch, oder?«
Wie die meisten Griechen konnte er sich einigermaßen in mehreren europäischen Sprachen verständigen.
»Ja.«
So weit zu ihrer Hoffnung, dass Zorbas sie übersehen würde. Jedes Jahr verbrachte irgendein Tersteegen seinen Jahresurlaub in dem Ferienhaus, das die Familie in Almiros besaß. Dass sich Jannik hier erholte, war dem Burn-out geschuldet, den er vor drei Monaten erlitten hatte. Anschluss fand er überall. Begabt, wie er war, lernte er problemlos die Landessprache, was die Griechen überaus lobenswert fanden. Jannik war ebenso offen und lebensfroh, wie Mila verschlossen und unzugänglich war. Normalerweise ergänzten sie sich perfekt.
»Alles in Ordnung mit dich?«
Mila überhörte den Grammatikfehler, raffte ihre Sachen zusammen und machte, dass sie davonkam. Zorbas' Anteilnahme konnte sie noch weniger ertragen als Mareikes Mitgefühl.
Ein Stück weit folgte sie der Landstraße. Dann bog sie links in den Stichweg zum Meer ein, stemmte sich gegen den Wind...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.