Schweitzer Fachinformationen
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Kunststoff knirschte gegen Kunststoff.
Erschrocken drehte Katja den Kopf, nicht sicher, woher das Geräusch gekommen war. Im Ausparken war sie nicht gerade eine Expertin, hatte sie womöglich den Spiegel des Nachbarn touchiert? Sie bremste, ließ die Scheibe herunter und spähte vorsichtig ins Morgengrauen, um festzustellen, dass es nicht beim Touchieren geblieben war: Sie hatte den Spiegel voll erwischt.
Kurz hielt sie inne, wusste nicht, wie sie reagieren sollte.
»Dasdarfdochallesnichtwahrsein!«, presste sie dann hervor. »Das ist nicht meine Woche.« Ihr Blick streifte das Schreiben auf dem Beifahrersitz. Der weiße DIN-A4-Umschlag lag weiterhin dort, wohin er am Vortag von ihr verbannt worden war, nachdem sie ihn aus dem Briefkasten geangelt und mit Magengrimmen gelesen hatte. Darin: eine Absage. Die dritte diesen Monat. Und nun auch noch der zerstörte Außenspiegel. »Ich fass es nicht. Was tun wir jetzt, Roberta?« Sie drehte sich um und linste in den Fond.
Ihre verkehrsregelkonform gesicherte Mitfahrerin schien kurz zu überlegen, dann neigte sie aufmunternd den Hals zur Seite.
»Ja, du hast wieder einmal recht. Schlechte Gedanken bringen einen nicht weiter. Aber es ist schwierig, weißt du?« Katja atmete einmal tief durch.
Roberta kommentierte diese Aussage mit einem Kopfzucken.
»Ja, das gebietet eigentlich der Anstand.« Katja runzelte die Stirn. »Aber meinst du nicht, es ist noch etwas früh dafür?«
Da Roberta dazu nichts zu sagen hatte, musste Katja diese Entscheidung allein treffen. Ein Blick auf ihre Armbanduhr zeigte ihr, dass es immerhin nicht mehr sechs war.
Der Motor blubberte und erstarb dann abrupt, als ihre Sandale von der Kupplung rutschte. Sie stieg aus, eilte den von violetten Teppichglockenblumen eingesäumten Weg zum Hauseingang mit der Nummer 23 entlang und drückte dann entschlossen auf das Klingelschild.
Da sich nach zehn Sekunden noch nichts tat, klingelte sie erneut. Und nach weiteren zehn Sekunden ein drittes Mal. Endlich öffnete sich im ersten Stock ein Fenster.
»Herr Huber!«, brüllte Katja nach oben. »Herr .« Ihre Stimme erstarb, als sich der zerzauste Schopf des alten Mannes ins Freie schob. Seine Frisur glich so sehr der Robertas - der aufgestellte Kamm, diese Fülle -, dass Katja für eine Sekunde mächtig aus der Fassung geriet. Auch das Gesicht des Mannes hatte dieselbe Farbe angenommen wie Robertas fettiger Hautlappen. Puterrot. Nach einem kurzen Moment fing sie sich wieder.
Nicht so Herr Huber.
»Frau Sommerrain!«, zeterte es von oben herab. »Zefix! Es ist sechs Uhr in der Früh! Am Sonntag!«
Zehn nach inzwischen.
»Verzeihen Sie, Herr Huber, aber ich habe .«
»Schon gut, ich habe noch drei Kartons mit Ersatzspiegeln in der Garage.«
»Wirklich?«, hakte Katja erfreut nach.
»Wirklich«, kam es mit einem Seufzer von oben.
Fünf Minuten später trat Katja erneut aufs Gas, und der weiße Volvo hüpfte aus der Einfahrt auf die Straße. Kies knirschte, als sie in den nächsten Gang schaltete und das Pedal weiter herunterdrückte.
Roberta liebte Geschwindigkeit. Der puterrote Kamm wackelte.
Abwechselnd zuerst auf die Straße und dann auf die CD in ihrer Hand schauend, befreite Katja die Scheibe von der Hülle und schob sie in den Player. Sie bildete sich ein, dass Roberta nicht nur Tempo liebte, sondern auch Gitarrenklänge. Und da das Huhn jetzt in zuckende Bewegungen verfiel, den Kopf vor- und zurückriss wie ein Rockstar und dabei mit den Krallen im Sand ihres auf der Rückbank gesicherten Käfigs scharrte, fühlte sich Katja in ihrer Einschätzung bestätigt.
Aber Roberta brauchte mehr Bewegungsfreiheit, so viel war klar. Langsam steuerte Katja deswegen den Wagen an den Straßenrand, zog die Handbremse, löste den Gurt und schob ihren Oberkörper zwischen den Sitzen nach hinten. Nachdem sie Robertas Käfig entriegelt hatte, tat das Huhn einen Satz in den Fußraum, flatterte anschließend auf den Beifahrersitz und machte sich pickend über den Umschlag her.
»Tu dir keinen Zwang an.« Katja löste die Handbremse und lenkte den Volvo zurück auf die Straße. Jedoch nicht, ohne vorher zweimal in den Seitenspiegel geschaut zu haben.
Zehn Minuten und zwei Melissa-Etheridge-Songs später bog der weiße Volvo zu den Klängen von Bring me some water auf den Parkplatz ein. Kurz gackerte es empört von rechts, als Katja zu scharf bremste, dann aber sah Roberta interessiert zum Fenster hinaus.
Katja stieg aus, ging um ihren Schneewittchensarg herum und öffnete dessen Heckklappe. Gespannt verfolgte Roberta jede Bewegung.
»Mist!« Entnervt blickte Katja nach unten, wo ihr gerade der Sack mit dem Futter in den Matsch gefallen war.
Sie nahm Rucksack und Fernglas aus dem Kofferraum, stellte beides auf den Rücksitz und wuchtete anschließend den Futtersack auf die Rückbank. Wenigstens war er nicht geplatzt. Eiweiß-Mineral-Sticks. Robertas ausgewogene, bedarfsgerechte Ernährung, über die sich das Huhn später als Belohnung fürs geduldige Ausharren hermachen durfte.
Das Geräusch des zuknallenden Kofferraumdeckels hallte über den Hotelparkplatz, der Deckel schloss aber wie so oft nicht richtig. Obwohl sie damit womöglich einige Feriengäste aus dem Schlaf reißen würde, donnerte ihn Katja ein weiteres Mal zu. Danach ging sie um den Wagen herum, quetschte sich neben den Futtersack und tauschte die Sandalen gegen ihre Trekking-Schuhe.
»Positiv denken. Denk positiv«, murmelte sie ihr morgendliches Mantra. Ob es funktionierte? Da wollte sie sich noch kein abschließendes Urteil erlauben. Aber heute war Sonntag. Der Tag der Woche, an dem sie Kraft tankte. Kraft tankte, während sie reglos mit einem Fernglas vor den Augen dasaß, um die verschiedensten Vogelarten zu beobachten, die sich aus den Dunstfetzen des frühen Morgens schälten, mit den Schnäbeln ins Wasser tauchten und dabei laute Schreie ausstießen.
Nachdem sie den Volvo abgeschlossen hatte, setzte sie den Rucksack auf, hängte sich den Feldstecher um und machte sich auf den Weg zum Beobachtungsturm.
Noch gut ein Jahr zuvor hätte Katja niemals vermutet, dass es ein Genuss war, um diese Uhrzeit auf das Achendelta zu schauen. Aber wenn die Sonne an Kraft zunahm, den neuen Tag einleitete und ihre Strahlen über dem Chiemsee ergoss, so dass die Natur leuchtete wie in einem Farbkasten, füllte sich Katjas Körper mit Energie, was weder Yoga noch Joggen oder Bogenschießen vollbracht hatten. Sie hatte all das ausprobiert, und besonders auf Letzteres war Roberta nicht gut zu sprechen gewesen.
Ein Haustier war ihr zum Stressabbau empfohlen worden, eine Katze. Aufgrund ihres augenblicklichen Entsetzens, dass so ein Stubentiger womöglich die Amselküken in ihrem Nest im Kirschbaum vertreiben - oder Schlimmeres - würde, war sie dann glücklich auf ihr jetziges Hobby gekommen. Und Katjas neue Mitbewohnerin eine natürliche Folge des Ganzen. Im Garten hinter dem Haus hatte Roberta einen Stall mit reichlich Auslauf. Sie war in vielen Dingen dickköpfig und nicht immer zielstrebig. Katja fühlte sich ein bisschen an sich selbst erinnert. Das Huhn gehörte zur Rasse der Amrocks, denen man normalerweise eine enorme Wirtschaftlichkeit nachsagte - Roberta fiel in dieser Hinsicht aus dem Rahmen, was sie in Katjas Augen aber nur sympathischer machte. Die Wirtschaftlichkeit beziehungsweise deren Ausbleiben waren auch ihr großes Lebensthema.
Während einer Legehennenausstellung des regionalen Bauernverbands hatte sich Katja in das Tier verliebt. Es gab eben sonst nicht viel zu tun, in Nußdorf. Und auf der Stelle war sie dort den Tieren erlegen. Dem Tier, besser gesagt: Robertas Federkleid bildete durch mehrfach gestreifte Federn, die schwarz umrandet in einer ebenso schwarzen Spitze endeten, ein bezauberndes Muster. Und seit Gegacker in Katjas Leben eingedrungen war, lag nicht nur 220 Tage im Jahr ein Spiegelei auf dem Frühstücksteller, sondern sie fühlte sich auch ein wenig ausgeglichener. Die gefiederten Freunde streichelten ihre Seele, Roberta zu Hause und die Piepmätze im Naturschutzgebiet. Und sie lenkten auch von dem Brief auf dem Beifahrersitz ab.
Wie ein angegrauter Brautschleier, der nach Gebrauch in einem Karton vergessen worden war, legte sich der Morgennebel auf das Schilf unterhalb des Beobachtungsturms. Im Hintergrund schälten sich majestätisch die Chiemgauer Alpen aus den Wolken. Katja hob das Fernglas an die zusammengekniffenen Augen und sah zuerst nichts als ihren eigenen Atem, der in kleinen Wölkchen an der Linse vorbeitrieb. Lauschte den intensiven Vogelrufen. Dem Beginn eines Konzerts, das durch die zunehmende Helligkeit bestimmt wurde. In einer vorgeschriebenen Reihenfolge setzte jede Vogelstimme ein.
»Fünf nach schon.«
Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, von wem das brummende Genörgel gekommen war. Zuerst hatte sie aus der Ferne nur die surrende Batterie des E-Bikes gehört, die das Vogelkonzert wie eine Schar Hummeln beinahe übertönt hatte. Nur die letzten Meter über die Wiese zum Beobachtungsturm ging der »Zaunkönig« immer zu Fuß.
Er war vorhersehbar. Und wie der Vogel, nach dem Katja ihn getauft hatte, braun, klein und laut. Und stets der Zweite auf der Plattform. Bevor die anderen kamen, deren Namen Katja ebenso wenig kannte. Und dennoch hatte sich über die Monate hinweg eine Vertrautheit eingeschlichen. Jeden Sonntag in der Früh waren sie hier, bei Sonnenschein oder Regenguss. Mittlerweile nickten sie sich zu, zählten Vögel und brachen...
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