Schweitzer Fachinformationen
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In der Stadt ist an diesem Morgen viel Polizei unterwegs, das sagte Ulo schon beim Schichtwechsel zu ihr, und auch Ina bemerkt es jetzt, als sie nach der Nachtschicht auf den Mönkeberg zurückfährt. Zuerst denkt sie an Verkehrskontrolle, drosselt ihre Geschwindigkeit, wartet brav hinter jedem Bus. Aber die Polizei interessiert sich nicht für ihr Taxi. Die suchen etwas, aber was, kann Ina nicht erkennen. Sie biegt von der Angerstraße auf den Schotterweg zu den Garagen ein. Ausgerechnet heute trifft ihr linker Voderreifen den Buckel aus Altschnee, der seit Tagen hier liegt und den sie bisher mit Leichtigkeit umfahren hat. Es knirscht, als der krustige Schnee über den Unterboden des Wagens kratzt. Im angrenzenden Wohnblock steht ein älteres Paar im Mantel auf dem Balkon und verfolgt Inas Kurve so genau, als wollten sie den Fahrweg protokollieren. Wahrscheinlich haben sie auch die neue Delle vorne rechts im Visier. Ina gibt Gas, der Motor heult auf, und im nächsten Moment rutscht der Reifen zurück auf den Weg. Sie fährt im Schritttempo weiter. Im Rückspiegel sieht sie, dass der Schneeklumpen in kleine Stücke zerborsten ist. Wie nervös sie ist. Sie schiebt es der langen Schicht zu, ihrer Müdigkeit, die langsam alle Sinne befällt. Ina hält vor ihrer Garage und wirft einen Blick aufs erleuchtete Armaturenbrett. Zehn Uhr elf. Normalerweise endet ihre Nachtschicht um fünf, aber heute Morgen kamen drei frühe Krankenfahrten dazu, eine nach der anderen, und Ina sagte jedes Mal Ja.
Sie redet sich ein, dass sie das Geld braucht. Aber in Wahrheit braucht sie Ablenkung. Sie wollte nicht nach Hause. Sie wollte verdrängen, was ihr gestern Abend auf dem Weg zur Arbeit passiert ist.
Genau genommen war es nicht ihre Schuld, das Moped kam aus dem Nichts. Sie fuhr eine Abkürzung über die Windigstraße, das hätte sie nicht tun sollen. Der hintere Teil der Windigstraße ist am Abend wie ausgestorben, niemand kümmert sich mehr um die Beleuchtung, denn das letzte Haus, das dort steht, soll im Sommer abgerissen werden. Rückbau nennt man das.
Warum das Moped aus einem Gebüsch heraus auf die Straße schoss, konnte Ina sich nicht erklären. Die Kollision hat sie durch eine Vollbremsung vermieden. Trotzdem hat ihr Kotflügel eine Delle und mehrere Kratzer abbekommen, wie reingekämmt sehen die aus. Ihre Kollegen am Taxistand fragten natürlich sofort, was passiert sei, und Ina sagte, sie sei zu blöd gewesen, aus ihrer eigenen Garage auszuparken. Die anderen haben gelacht und den Kopf geschüttelt. Nur Ulo, der hat ihr das nicht abgekauft. Erzähl mir doch so was nicht, sagte sein Blick. Aber er ließ sie in Ruhe, das ist bei Ulo so.
In der Garage stellt sie den Motor ab und muss ihre Hände fast gewaltsam vom Lenkrad lösen. Die Handbremse knarrt, als sie sie anzieht. Dann ist es still. Im nächsten Moment fühlt Ina, wie sich die Angst mit langen Spinnenbeinen über ihre Schultern tastet. Es ist Unsinn, was soll hier schon sein, aber sie wartet trotzdem im Auto, bis sie sicher ist, allein zu sein. Erst dann steigt sie aus.
Von den Garagen sind es nur einige Schritte bis zu Inas Wohnblock in der Wallstraße. Sie steigt gerade über einen Schneerest, als ihr Blick auf eine Gruppe frierender Menschen vor dem Nachbarhaus fällt. Drei Polizeiautos parken vor dem Eingang. Unter der Haustür klemmt ein Keil und hält sie offen. In allen Fluren brennt Licht. Da ist was passiert, denkt Ina und schaut verstohlen hin. Es kann nichts mit ihrem Unfall von gestern zu tun haben, oder doch? Sie justiert den Riemen ihrer Handtasche im Gehen, schiebt ihn auf die Schulter bis fast zum Jackenkragen. Mit den Knöcheln fühlt sie den Pelzbesatz, und die Weichheit lässt sie einen Moment innehalten. Vielleicht sollte sie die Straße überqueren und fragen, was los ist. Würde nicht jeder Mensch, der nach der Nachtschicht von der Arbeit nach Hause kommt und Polizei in der Nachbarschaft vorfindet, fragen, ob etwas geschehen ist? Die Antwort ist Ja, und Ina will schon den Fuß auf den Schneesaum am Fahrbahnrand setzen, um die Straße zu überqueren, als ein Polizeiauto unmittelbar vor ihr auf der Straße wendet und neben ihr hält.
Ina senkt den Blick. Eine Scheibe wird hinuntergekurbelt. Man sei auf der Suche nach einem elfjährigen Jungen aus der Nachbarschaft.
Das ist es also. Ein vermisstes Kind. Inas erster Gedanke geht zu ihrem Sohn, Benno, doch der kann es nicht sein. Benno ist fast dreizehn.
Vermisst seit gestern Abend. Ob sie etwas gesehen habe?
Gestern Abend.
»Nein«, sagt Ina. Und weil ihr das zu billig vorkommt, fügt sie hinzu: »Leider.«
Der Polizist auf der Beifahrerseite nickt.
»Bitte an uns wenden, wenn Sie etwas Verdächtiges bemerken.«
»Irgendwas bemerken«, setzt sein Kollege hinzu.
Und Ina versichert, das werde sie tun.
Sie hastet weiter. Nach Hause. Fast erwartet sie, dass auch ihre Haustür offen steht, aber nein, sie ist geschlossen, der Hausflur wirkt dunkel im spärlichen Tageslicht. Ina tritt auf die Steinstufe vor dem Eingang und sperrt auf. Ihr Herz klopft schnell, während sie die Worte verdaut. Ein verschwundenes Kind. Schon seit gestern. Sie versucht zu verstehen, was das bedeutet. Die Suchaktion, die Präsenz der Polizei, die Nachbarn vor dem Haus. Gestern. Ausgerechnet. Ist dieses Wort nicht im Grunde ein Todesurteil? Niemand überlebt bei diesen Temperaturen eine Nacht im Freien. Auch wenn sie nicht so denken sollte - nicht schwarzmalen, denn gibt es nicht auch ganz harmlose Erklärungen, Übernachtung bei einem Freund? Abgehauen? Streit mit den Eltern? -, kann Ina nicht aus ihrer Haut. Sie nennt die Dinge beim Namen. Zu lange hat sie sich in ihrem eigenen Leben alles schöngeredet, die aufopfernde Arbeit im Saatgutlager der LPG, die in Wahrheit eine elende Plackerei war, das Gefängnis ihrer Ehe mit Andi und die Quetschmale, die sie blaue Flecken nannte, obwohl sie nichts Geringeres waren als der exakte Abdruck von Andis Zangengriff auf ihrer Haut.
Im Hausflur strömen ihr erste Mittagsgerüche entgegen. Zwiebeln, Mehlschwitze, Angebranntes. Aus der Wohnung im Hochparterre erreichen sie Wortfetzen eines Streits, eine männliche Stimme und eine weibliche.
Sie kennt diese Art von Streit, sie kennt seine schaukelnde Melodie und sein Crescendo. Ein Hin und Her ist es, er provoziert, sie dementiert, er tritt nach, sie wird persönlich. Die Nachbarn heißen Hilprecht. Ihr Briefkasten hängt genau unter Inas. An der Hilprecht'schen Wohnungstür huscht Ina jeden Abend besonders schnell vorbei. Sie will nicht in den Strudel gezogen werden, nicht mal passiv. Sie befreit zwei längliche Briefe, Rechnungen, aus ihrem Briefkastenschlitz, dann rennt sie drei Treppen nach oben. Sie tritt fast lautlos auf die Steinstufen, das hat sie über die Jahre gelernt, hastet an den Türen der Nachbarn vorbei, bis zu ihrer Wohnung, steht dort einige Sekunden still und horcht. Erst dann schließt sie auf, drückt die Tür wieder ins Schloss und ruft: »Benno?«
Keine Antwort. Keine Jacke am Haken. Natürlich nicht. Benno ist in der Schule.
Ina schiebt den Türriegel vor.
Sie sieht, dass Benno seine Adidas-Tasche mit den Sportsachen vergessen hat. Muss er eben nach der Schule mit Straßenschuhen zum Training. Seine neuen Winterstiefel haben einen Salzrand auf dem Vorleger hinterlassen, Größe 43, als wäre er schon erwachsen. Die hat er sich zu Weihnachten gewünscht, schwarze Stiefel mit dicker Sohle und Stahlkappe, weil alle so was tragen. Die Schuhe gefielen ihr nicht, aber er wollte keine anderen und ließ nicht mit sich reden. Es missfällt ihr, dass Benno sich in dieser Weise von anderen beeinflussen lässt. Eigentlich sollte sie sich darüber freuen, denn offensichtlich hat er Freunde gefunden. Aber sie fragt sich, warum er keinen seiner Freunde je mit nach Hause bringt.
Ina hängt ihre Jacke auf und schlüpft in die Hausschuhe. Auch die mit Fell besetzt. Die hat sie vor Weihnachten gekauft, einfach so, weil die Verkäuferin aussah wie ihre Mutter. Sie konnte nicht anders, das Fell zog sie magisch an. Du verhätschelst dich, sagt Ina zu sich selbst. Einfache Pantoffeln hätten doch gereicht.
Ein Kind ist verschwunden. Im Nachbarhaus. Wie schrecklich. Das Wort stellt sich fast automatisch ein. Aber wenn Ina ehrlich ist, fühlt sie nichts. Sie hat gerade kein Mitleid übrig für die Sorgen anderer. Wer sich allein durchschlägt, so wie sie, braucht alle Kraft für sich selbst. Sie muss heute Abend mit Benno reden. Wer weiß, was mit dem verschwundenen Jungen passiert ist. Sie will Benno in Zukunft um sieben zu Hause wissen, besonders wenn sie Nachtschicht fährt, das ist nicht zu viel verlangt. Oder doch? Vielleicht muss sie ihm diese Freiheit gönnen, die Sorge aushalten, nach allem, was er durchgemacht hat.
Auf ihren Jungen ist Verlass, sagt sie sich, als sie in der Küche steht und auf das ordentlich gestapelte Geschirr auf dem Abtropfgitter schaut. Benno hinterlässt nie einen ungespülten Teller. Dass er gefrühstückt hat, kann sie nur ahnen. Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel aus der Schule, darauf, quer gelegt, ein Stift für sie zum Unterschreiben. Ina muss lächeln. Manchmal fragt sie sich, wer hier auf wen aufpasst.
Als es an der Tür klingelt, fährt Ina vor Schreck zusammen.
Im Hausflur stehen ein Mann und eine Frau. Noch während sie durch den Spion schaut, hält der Mann einen Dienstausweis in ihre Richtung. Polizei. Natürlich. Sie suchen den verschwundenen Jungen. Ina entriegelt die Tür.
»Mein Name ist Groth. Kriminalpolizei. Und das hier ist meine Kollegin Frau Thiese.«
Als Ina nicht antwortet, sagt der Polizist: »Es geht um den Jungen aus dem Nachbarhaus, der vermisst wird. Sie haben sicher davon gehört.«
Ina nickt und spürt Zugluft im Haus. Das Licht im...
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