Schweitzer Fachinformationen
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16
Fünfzehn Minuten später kamen sie frisch duftend am Mercedes an. Walter hatte sich den Vollbart bis auf einen buschigen Schnauzbart abrasiert, Onkel Hassans Wollsakko angezogen und die Schiebermütze aufgesetzt und sah tatsächlich aus wie ein beliebiger Berliner Taxifahrer, wenn auch kein türkischer. Emine musterte ihn kritisch.
»Da müssen wir noch ein bisschen nachhelfen«, sagte sie, kramte ihr Schminkzeug hervor und verpasste dem zum Glück dunkelhaarigen Walter eine dunklere Gesichtsfarbe, dunklere Augenbrauen sowie Augenringe. Tatsächlich sah Walter jetzt etwas türkischer und deutlich älter aus.
»Mehr kann ich nicht machen«, sagte Emine. »Aber nachts sind alle Katzen grau, das wird schon klappen.«
Walter und Yilmaz nickten.
Walter versteckte noch schnell sein altes Fahrrad im Gebüsch hinter einem Schuppen.
»Meinst du, dass den Schrotthaufen jemand klaut?«, fragte Yilmaz.
»Nicht wirklich«, antwortete Walter, auch wenn er etwas beleidigt war, dass Yilmaz so über seinen widerspenstigen, aber doch verdienten Drahtesel sprach. »Aber wenn sie das hier stehen sehen, werden sie nach mir suchen.«
»Daran hatte ich nicht gedacht«, gab Yilmaz zu. »Am besten setzt Walter ., nein, Hassan, ab jetzt bist du Hassan! Hassan setzt sich nach hinten zu den Kindern, da ist es dunkler, und tut nachher so, als würde er schlafen. Alle hinten tun so.«
»Darf ich auch wirklich schlafen, und nicht nur so tun?«, fragte Selma. »Ich bin hundemüde!«
»Noch besser!«, erwiderte Yilmaz. Er schaute auf seine Armbanduhr. Es war inzwischen halb fünf Uhr morgens. Der Zwischenstopp hatte sie viele Stunden gekostet. Zum Glück hatte Walter nicht lange überredet werden müssen, und nach Hause wollte er auch nicht nochmal. Seltsamer Mensch, hatte der keine Familie, nichts, was er vermissen würde?
Alle stiegen ein. Emine setzte sich wieder ans Steuer. Yilmaz versuchte gar nicht erst zu widersprechen. Er nahm also einfach auf dem Beifahrersitz Platz, direkt hinter ihm Walter, in der Mitte saß Cem und Selma hinter ihrer Mutter.
Als sie losfuhren, warf Walter noch einen Blick zurück auf die Hühnerfarm. Sie war für ihn eine perfekte Zusammenfassung der DDR. Willenlose Einwohner, eingesperrt in einem viel zu engen Hochsicherheitsgefängnis, das zum Himmel stank. Er war froh, zumindest diese Miniatur-DDR schon mal hinter sich zu lassen. Abschließen konnte er damit aber noch lange nicht, denn Cem begann ihn zu löchern.
»Gibt es da viele Hühner?«, fragte er.
»Eine Million!«, bestätigte Walter. »Plusminus. Genau weiß das keiner. Die werden nicht gezählt, nur die Eier, die sie legen.«
»Eine Million?!«, staunte Cem. »Und du hast die alle gefüttert?«
Cem hatte offensichtlich trotz der unglaublichen Zahl immer noch die Hühnerhaltung seiner türkischen Verwandten vor Augen, die, soweit sie Platz hatten, jeweils zwischen drei und fünf Tiere im Garten hielten.
»Nein, ich habe nur aufgepasst, dass die keiner klaut. Gefüttert werden sie von der Futtermaschine. Die schiebt die Körner auf Laufbändern in die Käfige. Wasser bekommen die Hühner über Nippeltränken, und der Mist wird per Intervallentmistung über ein Kotband unterhalb der Käfige wieder rausgefahren. Alles vollautomatisch! Geht auch nicht anders, sind ja je nach Stall bis zu zweiundvierzigtausend Tiere drin.«
Walter hatte mechanisch den Vortrag runtergespult, den er schon oft hatte anhören müssen, wenn das Kombinat hohen Besuch erhalten hatte und Nollau mit den Delegationen wie ein Gockel durch die Anlage stolziert war. Die Hühnerfarm galt als eine der modernsten im ganzen Ostblock. Besonders die Mitarbeiter von Schweinezucht- und Milchbetrieben waren doch tatsächlich neidisch auf den reibungslosen Ablauf hier. Sogar Notstromaggregate gab es, damit bei einem Stromausfall weitergearbeitet werden konnte. Die Dinger sahen zwar ziemlich beeindruckend aus, hatten allerdings von Anfang an nicht funktioniert. Nach einem längeren Stromausfall vor vier Jahren hatte dann auch ein Viertel der Hühnerpopulation das Zeitliche gesegnet, was vorübergehend zu einer flächendeckenden Versorgung der DDR mit preiswertem Hühnerfleisch geführt hatte - den Grund dafür hatte niemand außerhalb des Kombinats je erfahren. Die vielen Hühner, die für den Verkauf zu klapprig gewesen waren, hatte man schlicht verbuddelt. Onkel Hassan war also nicht der Einzige, der auf dem Gelände beerdigt war.
»Und was machen die mit den ganzen Eiern?«, hakte Cem nach.
»Die werden in die gesamte DDR geliefert«, antwortete Walter. »Wenn sie da überhaupt ankommen. Wir haben nämlich viel mehr Eier und Broiler als Kühlmöglichkeiten. Da ist schon einiges schlecht, bevor es das Ziel erreicht. Deshalb esse ich auch nirgendwo Broiler.«
»Was ist Broiler?«
»Hähnchen«, übersetzte Yilmaz.
»Da kennst du Mamas Hähnchen aber nicht«, meldete sich jetzt Selma zu Wort. »Das ist das Leckerste auf der ganzen Welt!«
»Gib nicht so an!«, mahnte Emine vom Fahrersitz, auch wenn sie sich doch geschmeichelt fühlte. »Außerdem solltet ihr jetzt wirklich mal schlafen, es wird gleich schon wieder hell!«
Wegen der nahen Großstadt Dresden war der Himmel ohnehin nicht wirklich dunkel gewesen. Aber jetzt mischte sich langsam die Morgenröte mit ins Himmelsgrau. Emine wollte so schnell wie möglich am Grenzübergang ankommen, damit der ostdeutsche »Onkel Hassan« im Dunkeln bessere Chancen hatte, nicht aufzufliegen.
Sie hatten Dresden schnell hinter sich gelassen und fuhren hinauf ins Erzgebirge. Der Kontrollposten Zinnwald-Georgenfeld zur Tschechoslowakei lag auf dem höchsten Punkt der Strecke, in etwa achthundert Metern Höhe. Der nahende Morgen stellte keine wirkliche Bedrohung dar, denn dank greller Flutlichtanlagen war die Umgebung der Grenze sowieso taghell erleuchtet.
»Mist!«, entfuhr es Yilmaz.
»Alle schlafen!«, befahl Emine, die nun komplett das Kommando übernahm. »Tut zumindest so.«
Also machten alle die Augen zu und stellten sich schlafend.
Der Kontrollposten war komplett leer, kein anderes Auto und kein Lastwagen hatten sich um diese morgendliche Stunde hierher verirrt. Die Grenzer würden viel Zeit für sie haben, wenn sie wollten. Die Fahrspur für PKW war mit einem entsprechenden Schild gekennzeichnet. Emine fuhr auf den Schlagbaum zu, wo sie schon von mehreren DDR-Grenzern erwartet wurden. Einer stand mit einem geschulterten Maschinengewehr in ein paar Metern Entfernung. Ein anderer begann direkt, mit einem an einem langen Stab befestigten Spiegel um das Auto herumzugehen und den Unterboden nach Schmuggelware und Flüchtlingsverstecken abzusuchen.
>Kuck besser nicht auf den Rücksitz<, dachte Emine, die Probleme hatte, ihrer Nervosität Herr zu werden. Sie lenkte sich ab, indem sie die Spiegelkonstruktion mit dem kleinen Instrument verglich, mit dem Zahnärzte einem in den Mund schauen. »Hauptsache, die fangen nicht noch an zu bohren!«, murmelte sie.
Ein dritter Polizist trat an die Fahrertür heran. Er war ungefähr Mitte vierzig, leicht dicklich und trug die übliche graue Uniform und darüber noch eine dicke Winterjacke. Emine wunderte sich über die Aufmachung - bis sie das Fenster runterkurbelte und kalter Wind hereinwehte. Trotz des Sommers hatte es hier um diese morgendliche Stunde nur wenige Grad.
»Morgen!«, grummelte der Grenzer.
»Guten Morgen!«, erwiderte Emine mit künstlich aufgesetztem türkischem Akzent. Eigentlich sprach sie akzentfrei deutsch, wenn man mal von einem deutlich hörbaren Berliner Einschlag absah.
Der Grenzer hob eine Augenbraue. »Ah, verstehe. Sie fahren in die Türkei?«
»Genau. Mein Mann, ich, meine beiden Kinder und unser geliebter Onkel Hassan.« Sie reichte ihm die Papiere raus.
Der Beamte schaute kurz ins Auto auf die anscheinend einhellig schlafende Reisegruppe und sah dann die Pässe durch. Beim Ausreisestempel aus Berlin wurde er stutzig.
»Sie sind schon vor über acht Stunden aus Berlin abgereist - warum haben Sie so lange gebraucht?«
»Oh, das kann ich erklären«, antwortete Emine, die sich schon im Kopf eine Geschichte zurechtgelegt hatte. »Das ist ein altes Auto. Es hat nicht gut funktioniert, wir sind liegengeblieben, mussten reparieren.«
»Aha«, meinte der Grenzer knapp, ohne den Blick von den Dokumenten zu heben.
Emine wagte kaum zu atmen. Wenn der Mann näher nachfragen würde, könnte sie nicht mehr viel hinzufügen, weil sie keine Ahnung von der Technik der Autos hatte, egal ob die nun funktionierte oder nicht.
»Hm«, brummelte der Beamte und blickte sie unschlüssig an.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte Emine nun scheinheilig.
»Sagen Sie es mir!«
»Ich finde, alles in Ordnung!«
»Ich finde das nicht.«
Emine schlug das Herz bis zum Hals. Auch wenn sie ja höchstpersönlich alle im Auto zum Schlafen verdonnert hatte, wünschte sie sich jetzt doch die Unterstützung ihres Mannes. Aber der gab keinen Mucks von sich, obwohl sie sich sicher war, dass er höchst angespannt verfolgte, was passierte.
»Was stimmt denn nicht?«
»Das wissen Sie selbst doch am besten, oder?«, stellte der Grenzer ihr nun eine Falle. Hatte er ihren Plan etwa durchschaut? Hatte er bemerkt, dass Onkel Hassan nicht Onkel Hassan war, sondern Walter, ein Republikflüchtling? Ihr kamen unzählige Geschichten in den Kopf, die sie über Vorfälle an der Mauer und an der innerdeutschen Grenze gehört...
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