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Jahrzehntelang lebte Monika Sznajderman im Schatten des Schweigens. Ihr Vater hatte über seine Odyssee durch die Konzentrations- und Vernichtungslager, seine Flucht und die Rückkehr nach Warschau nie sprechen wollen. Bis die Fotos aus Übersee kamen: Absender waren Verwandte, von deren Existenz sie nichts gewusst hatte. Sie beginnt zu recherchieren. Wenige Dokumente im Stadtarchiv von Radom und der Bericht des einzigen Überlebenden, des Großonkels Eliasz Sznajderman, im Holocaust Museum in Washington - mehr Spuren hat die große Familie in Polen nicht hinterlassen.
Im Gegensatz zu ihnen, »gewöhnlichen Menschen ohne Geschichte«, sind die polnischen Vorfahren der Mutter Angehörige der Oberschicht, national und antisemitisch eingestellte Gutsbesitzer und Unternehmer, die nach den Regeln und Gesetzen ihrer Klasse leben. Monika Sznajderman ist in ihren Recherchen weit fortgeschritten, als sie entdecken muss, dass etwa zur selben Zeit, als ein bekannter Künstler ihre elegante polnische Großmutter auf einem Gemälde verewigte, zweihundertfünfzig Kilometer weiter östlich ihre jüdische Großmutter von Ukrainern erschlagen wurde.
Die Geschichte, die Monika Sznajderman aus Interviews, Briefen, Fotos und veröffentlichten Quellen rekonstruiert, spricht mit seltener Eindringlichkeit von der Tragik des jahrhundertelangen polnisch-jüdischen Zusammenlebens, die nicht nur ihre Familie, sondern die ganze Gesellschaft bis heute nicht loslässt.
Die Stadt, von der sie mir erzählten, existierte bereits nicht mehr. Sie wurde zusammen mit den Juden deportiert.
Elie Wiesel, Die letzte Rückkehr (Gesang der Toten)
Elie Wiesel reist nicht nach Radom, sondern nach Marmaros-Sighet, »nicht an das Ende der Nacht, sondern zu ihrem Beginn [.]. Dorthin, wo alles begann, wo die Welt ihre Unschuld und Gott seine Maske verloren.« Sein Sighet, eine Stadt, die »ihre Vergangenheit verleugnet« hat, doch »ihrem Griff ausgesetzt« ist, erinnert stark an Radom nach dem Krieg: »Verdammt, außerhalb der Zeit zu leben, atmet sie nur noch im Gedächtnis derer, die sie verlassen haben.«4
Es gibt zahlreiche unsichtbare Städte in Polen, doch Radom scheint geradezu getränkt zu sein mit Unsichtbarkeit. Nichts erinnert hier an nichts, nichts passt zu nichts. Baufällige Kammern und Kämmerchen in weitläufigen Höfen von Mietshäusern, die Vorderfront revitalisiert, der Reichtum von Luxusvillen, Katzenkopfpflaster und löchrige Gehsteige, tadellose Knochensteine, rostige Teppichstangen, Studios mit modernen Küchenmöbeln, wild wucherndes Grün, bunte Spielplätze, heruntergekommene Industrieplätze, eine aus Deutschland, vielleicht auch aus Österreich stammende neue Adrettheit, mit Pappe gedeckte, alte, windschiefe Hütten. Plastik erobert und verschlingt wie eine gefräßige Pflanze das altersmorsche Holz und die Steine - die ursprüngliche Materie der Stadt. Es gibt in Radom ein Solarium und ein Fitnesscenter, eine Tankstelle mit Red Bull, R.??e.??d.??d. und Grillanzündern, es gibt einen Supermarkt mit Weißwurst und Schweinekamm. Es gibt Disco und Techno, ein Handelszentrum und eine Kirche, »die sich«, wie der junge Schriftsteller Ziemowit Szczerek schreibt, »zwischen diesem mittel- und osteuropäischen, architektonischen Gestammel von Blocks, Zinshäusern und Einfamilienhäusern, Löchern im Asphalt und gesprungenem Stahlbeton erhebt. Spitz, in einem Kreuz endend, ragt sie aus der Siedlung wie ein kaputter Zahn.« Es ist die ganze moderne Welt in a nutshell, es gibt alles, nur eines nicht - eine greifbare Spur jener, die jahrhundertelang in dieser Stadt gelebt haben und unbemerkt verschwunden sind. Von den Juden der Vorkriegszeit. Von meinen jüdischen Vorfahren. Nach Aussagen des Radomer Schriftstellers und Historikers Marcin Kepa sind vielleicht zwei alte Eichen und ein baufälliges rotes Vorkriegszinshaus in der Kosna, die Kepa, auf Bruno Schulz anspielend, die Radomer Krokodilgasse nennt, die einzigen derartigen Spuren und gleichzeitig Zeugen des Holocaust.
Dabei bräuchte man nur einen Blick auf die Zahlen zu werfen: In der Zeit des Ersten Weltkriegs lebten in Radom über zwanzigtausend Personen jüdischer Herkunft, die beinahe die Hälfte der Stadtbevölkerung ausmachten. In der Zwischenkriegszeit nimmt ihre Zahl stetig zu (natürlich wächst auch die polnische Bevölkerung), und Anfang der dreißiger Jahre waren 32,2 Prozent der Einwohnerschaft Juden. Zum Vergleich: in Warschau waren es 30,1 Prozent, in Wilna 28,2 Prozent und in Krakau 25,8 Prozent. Man müsste nur die Zeugen anhören: Im Jahr 1939 - daran erinnert Ben-Zion Gold in seinem Buch Stille vor dem Sturm. Das Leben der polnischen Juden vor dem Holocaust - stellten die Juden ein Drittel der 85??000 Einwohner von Radom. Sie waren mehrheitlich religiös und tief in der Tradition verwurzelt. Auf der Straße hörte man vor allem Jiddisch, die Kinder lernten im Cheder und in der Jeschiwa, in der jüdischen Grundschule und der höheren Schule, in denen religiöse Inhalte dominierten. Im Jüdischen Gymnasium der Gesellschaft der Freunde des Wissens, dem Henoch Hurwicz als Direktor vorstand, waren Bajla Goldberg, Natan Frydman, Mina Rozen und Josek Korman tätig. Unter den Schülern, so schreibt Marcin Kepa, finden sich der streitlustige Benio Kamersztajn, die hübsche Guta Leslau, die schüchterne Niutka Fernebuk und die stolze Lola Frenkiel, in die sich Majer Brykman verliebte. Ist es möglich, dass einer meiner Radomer Vorfahren mit ihnen allen in dieselbe Klasse ging?
Es gab nur sehr wenig Juden, die sich assimilieren wollten. Man wohnte zwar unter Polen, und schwarze Kaftane mischten sich mit der gewöhnlichen städtischen Kleidung, aber rings um die ulica Walowa erstreckte sich ein eigenes jüdisches Viertel. Dort gab es Synagogen, Bet ha-Midraschs, Lehrhäuser, ein paar chassidische Betstuben und eine Mikwe, ein rituelles Bad. Auf den Straßen konnte man Chassiden in traditionellen Kleidern sehen - zwischen den Hüten nickten Fuchsmützen. Zum Himmel erhoben sich die Stimmen der Juden, die die Gemara lasen, und zwischen ihnen rannten Scharen von Jungen mit Pejes herum. Aus den schiefen kleinen Häusern mit den rußgeschwärzten Wänden riefen Schuster, Schneider und Händler. »Auf der Walowa«, so erinnert sich Ben-Zion Gold, »fühlte ich mich zu Hause. Mich faszinierte die Lebendigkeit dieses Ortes, die Verschiedenheit der hier befindlichen Läden, der Lärm der jüdischen Menge.« Nur am Schabbes trat auf der Walowa Stille ein, und der Duft von Gefiltem Fisch, Hühnerbouillon, Tschulent, gehackter Leber und Kompott zog durch die Straße.
Die Radomer Juden bildeten eine geschlossene Gemeinschaft, die ihr eigenes Leben lebte, abgesondert vom polnischen. Sie waren unter sich. Der polnische Literaturwissenschaftler Jan Blonski schrieb in seinem Essay Pole-Katholik und Katholik-Pole, dass das Schtetl zweifellos ein Getto war, aber zugleich auch ein Ort der Freiheit und Vertrautheit. Im Roman von Jehoszua Perle, Die Juden des Alltags, ist die jüdische Welt von Radom zu Beginn des 20. Jahrhunderts beinahe völlig autark - nur in Zeiten der sommerlichen Fahrten aufs Land, nach Leniwa, Garbatek oder, wie bei Ben-Zion Gold, nach Jedlnia, tauchen polnische Bauern auf. Das wahre Leben spielt sich zwischen dem Cheder, der Synagoge und den jüdischen Fleischbänken ab, in armen, feuchten Souterrains mit blau gestrichenen Wänden oder in Holzhäusern, deren Böden mit gelbem Sand bestreut waren. Zu Tante Miriam, schreibt Perle, konnte man durch die uliczka Szewska gehen oder, obwohl dieser Weg länger war, durch die Spacerowa, vorbei an der Schenke von Szymszon Szloma. Die Synagogalna ist »schmal, wie ein Reifen gebogen, eng und dunkel. Die weiße Synagoge mit den blauen runden Fenstern stützt sich auf den niedrigen Bet ha-Midrasch, der ein wenig aus der Straße vorsteht. Die übrigen Häuser lehnen sich eins ans andere. Offensichtlich ist vor Jahren ein Sturmwind über sie weggebraust, weil sie jetzt alle gebeugt dastehen und sich nicht aufrichten können.« Am 24. Juni, dem katholischen Feiertag des heiligen Johannes, ziehen die Leute für gewöhnlich um - die Straßen sind dann voller Stroh aus den löchrigen Strohsäcken. Zu Purim duftet es in der Wohnung des Erzählers nach Zimt und Öl. »Bis zum abendlichen Festessen wurde die Wohnung gründlich sauber gemacht. Alle Lichter wurden angezündet. Der Boden, den Mama ein paarmal gereinigt hatte, glänzte rötlich wie der Wein in der Flasche auf dem Tisch. Eine Lampe und zwei versilberte Leuchter tauchten die Wohnung in eine Wärme von Wohlhabenheit. Es schien, als würde Vaters Bart, gekämmt und sauber, den Ehrenplatz bei Tisch einnehmen. Wären da nicht die müden Augen gewesen, wegen Tojbas Unglück überschattet von einem leichten Schleier der Müdigkeit, hätte man den Eindruck gewinnen können, Vater habe plötzlich das große Glück gefunden. Und vielleicht war das ja tatsächlich geschehen?« In dieser Welt träumt man von Türklinken aus Messing und geräumigen Wohnungen mit roten Böden und mehreren Balkonen wie in Warschau. Die Welt der Gojim - das Spital, das Gefängnis, das Bernhardinerkloster, die Fleischbank (nur die Frau des Lehrers Matias, die die Vorschriften koscheren Essens nicht beachtete, kaufte dort Fleisch ein) - stellt bloß die stumme Kulisse des titelgebenden jüdischen Alltagslebens dar, mit allen seinen gewöhnlichen und feiertäglichen Freuden und Sorgen, umso mehr, als sie in den neuen Park, wie Perle schreibt, »keine Jungen in langen Kaftanen lassen«.
Natürlich herrschten damals auch in Radom, wie in der gesamten Wojewodschaft Kielce und darüber hinaus in ganz Polen, antijüdische Ressentiments, es kam wiederholt zu antisemitischen Vorfällen, die manchmal beinahe den Charakter von Pogromen annahmen, wie etwa die Vorfälle vom 6. Mai 1931, und es wurde auch ganz bewusst eine nationalistische Politik betrieben (dazu gehörten regelmäßige Vorträge der Radomer Rechten) - dennoch, die jüdische Stadt existierte. Heute gibt es sie nicht mehr. Sie ist verschwunden, gestorben mit einem Drittel ihrer Einwohner. Meiner ganz persönlichen Radomer Familiengeschichte hat ein bis heute nicht gesühnter Mord, verübt in der Nacht vom 10. auf den 11. August 1945, den letzten Stoß versetzt.
Genau neunundsechzig Jahre später, im August 2014, publizierte Zbigniew Wieczorek, Lehrer für polnische Sprache und Kulturgeschichte am Jan-Kochanowski-Lyzeum in Radom, Mitglied des Vorstands der Radomer Wissenschaftlichen Gesellschaft, Ideengeber und Realisator von Initiativen zur Erinnerung an die Radomer Juden, in der Gazeta Wyborcza einen Brief, in dem er Erinnerung anmahnt: »Im August verstreicht der 72. Jahrestag der Liquidierung des Radomer Gettos. Während des Krieges verlor die Stadt Radom circa 30 Prozent ihrer Vorkriegseinwohnerschaft, überwiegend jüdischer Herkunft. Nach dem Krieg kam es zu keiner Rückkehr der Geretteten in die Stadt, denn diejenigen, die kamen, begegneten der Feindseligkeit der lokalen Bevölkerung. Die Radomer Synagoge wurde rasch...
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