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KAPITEL 1
«Platon, Sohn des Ariston und der Periktione, Athener; sie (die Mutter) führte ihr Geschlecht auf Solon zurück» - so beginnt das Platon-Kapitel in der biographisch orientierten Philosophiegeschichte des Diogenes Laertios aus dem dritten Jahrhundert nach Christus. Für die Griechen der Antike war es nichts Ungewöhnliches, sich in dieser Form auf Personen der Vergangenheit zu beziehen: Durch die Angabe von Geschlecht und Vaterstadt in Verbindung mit dem Namen war ein Mensch sozusagen - zwar nicht in seiner Individualität, wohl aber im Hinblick auf seinen gesellschaftlichen und geschichtlichen Ort.
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Platon ist im kulturellen Diskurs unserer Zeit allgegenwärtig. Begriffe wie Platonismus, Idealismus, Idee und Ideenlehre, Staatsutopie und Atlantis-Mythos können in den verschiedensten Zusammenhängen auftauchen - einen gibt es beispielsweise auch in der Mathematik -, ohne jedesmal neu erläutert werden zu müssen. Hinzu kommt, daß Platon in neuerer Zeit als der größte aller Philosophen bezeichnet wurde, und dies gerade von den Großen des 20. Jahrhunderts, bis hin zu dem provokativen Urteil Alfred North Whiteheads, das mittlerweile zum geflügelten Wort aller Philosophiehistoriker geworden ist, nämlich daß die gesamte abendländische Philosophiegeschichte nichts weiter sei als eine Reihe von Fußnoten zu Platon.[1]
Insofern könnte man von der mächtigen und immens facettenreichen heutigen Präsenz Platons ausgehen, sie zu bündeln und philosophisch zu deuten versuchen. Ohne Zweifel würde dieser Zugang auf vieles Wesentliche führen, im Idealfall gerade zum Bleibenden seiner Philosophie.
Zugleich bestünde aber auch die Gefahr, auf diese Weise vieles zu verlieren. Keine Epoche kann das, was ihr aus der Vergangenheit zur Verfügung steht, vollständig in ihren eigenen geistigen Raum integrieren. Denn die Geistesgeschichte ist nicht nur die Geschichte der erfolgreichen Aneignungen, kreativen Verwandlungen und Fortentwicklungen des Ererbten, sondern auch die Geschichte der Verluste und Mißverständnisse. Angesichts des immensen Reichtums der geistigen Welt Platons war von vornherein zu erwarten, daß jede Zeit nur einen Ausschnitt dieses Reichtums für sich nutzbar machen würde, und die Geschichte der Platondeutung bestätigte das immer wieder. Trotz der vielseitigen historischen, literarischen und philosophischen Interpretationsarbeit der letzten zwei Jahrhunderte macht auch unsere Zeit keine Ausnahme davon. Gewiß kursieren heute mehr Platonbilder als zu irgendeiner Zeit vor der unsrigen. In der Fähigkeit jedoch, der eigenen beschränkten Sichtweise den ganzen Platon rigoros anzupassen - sei es durch Weglassen, Vernachlässigen oder Herunterspielen von allem, was sich nicht einfügt, sei es durch Bestreiten von unbestreitbaren Textbefunden -, ist die Gegenwart allen früheren Epochen wenigstens ebenbürtig. Solchen Einseitigkeiten nach Kräften entgegenzuwirken ist ein Anliegen dieses Buches.
Solch eine Zielsetzung legt eine gewisse Zurückhaltung beim Aufspüren und Feiern von Platons wirklicher oder vermeintlicher Aktualität nahe. Platon hat als Denker und Dichter den Test der Zeit bestanden wie kein zweiter. Sein Werk hat es nicht nötig, in den sich wandelnden intellektuellen Konsens jeweils neu hereingeholt und - unter diesem oder jenem Aspekt - zu werden. Daher kann die Annäherung an Platon behutsam erfolgen, fern jeder Suche nach sensationell Neuem. Der Zugang über Herkunft und Umfeld - gemäß Diogenes Laertios' Eingangssatz - verspricht Auskunft über nicht zu vernachlässigende Kontingenzen der historischen Existenz Platons und verbürgt die nötige Distanz zu dem Mann, den alle Zeiten irgendwie zu einem der machen wollten und der doch allen gleich fern blieb.
Athen mit seiner Kultur, Gesellschaft und Politik von 510 bis 338 v. Chr. - von der Überwindung der Tyrannenherrschaft bis zum Verlust der Selbständigkeit - ist uns so gut bekannt wie nur wenige Staaten der Geschichte. Dieser Zeitraum umfaßt den spektakulären Aufstieg von einem unbedeutenden Kleinstaat zur kurzzeitig führenden Macht im ganzen östlichen Mittelmeerraum, mit anschließendem Abstieg über den Status einer Mittelmacht zu einem außenpolitisch unfreien Gemeinwesen, bei gleichzeitiger Behauptung einer kulturellen Dominanz, wie sie keine Stadt der Antike oder der Neuzeit jemals erreicht hat. Was in dieser Stadt innerhalb von nur sechs Generationen an geistesgeschichtlich Neuem entstanden ist, bestimmt bis heute die europäische Kultur in ihren Grundzügen.[2] Hier entwickelten sich die Begriffe von und , wie sie bis heute verstanden werden, auch wenn sie natürlich inzwischen weiterentwickelt wurden. Hier baute man die erste voll funktionierende Demokratie aus, und zwar als direkte Herrschaft des Volkes - damals verstanden als die Gesamtheit der männlichen Vollbürger -, der eine noch so gut funktionierende parlamentarische Demokratie nicht sonderlich imponiert hätte. Diese Demokratie war getragen von einem doppelten Erleben von Freiheit: die Athener hatten durch den Seesieg von Salamis 480 v. Chr. die Griechen vor der Unterjochung durch die Großmacht Persien bewahrt, in der Folgezeit im Inneren aber auch den Begriff der offenen, der freien Rede, der parrhesia, entwickelt, die dem Individuum die Freiheit gegenüber den Magistraten und gegenüber dem Meinungsdruck der Mehrheit sicherte. In Athen erreichte die griechische Kunst im 5. Jahrhundert jene singuläre Höhe in Architektur, Vasenmalerei, Malerei und Bildhauerei, die alle nachfolgenden Zeiten als empfanden und auch so bezeichneten, und die im Vergleich mit der archaischen Kunst ein durchaus neues Bild des Menschen zeigte, das sich für zahlreiche andere Nationen und Epochen als unmittelbar anschlußfähig erwies. Ein damit korrespondierendes neues Menschenbild resultierte auch aus der neuen literarischen Gattung, die in Athen entstand und nur dort entstehen konnte: dem Drama in seinen beiden Grundformen Tragödie und Komödie. Auch für die Geschichtsschreibung wurde Athen im 5. und 4. Jahrhundert die maßgebliche geistige Heimat, erst recht für Philosophie und Wissenschaft. Hier kam auch eine einzigartige Kultur der durchstilisierten forensischen und politischen Rede auf, begleitet von der Reflexion auf ihre Bedingungen und Möglichkeiten in Gestalt der systematischen Rhetorik. Athen war ferner - das verwundert nach dieser Aufzählung nicht mehr - der Geburtsort der ästhetisch anspruchsvollen Kunstprosa und der philosophisch fundierten Literaturtheorie.
Wollte man diese athenischen Errungenschaften des politischen, künstlerischen und geistigen Lebens (bzw. ihre Fortentwicklungen in der Neuzeit) aus der gegenwärtigen Weltkultur entfernen, so wäre sie erheblich ärmer.
Auf dem Höhepunkt ihres Glanzes und ihrer Macht hat Platon seine Vaterstadt nicht mehr bewußt erleben können. 428/427 v. Chr. geboren, war er ein Knabe von sechs Jahren, als Athen nach 10 Jahren Krieg gegen Sparta im sogenannten Nikiasfrieden von 421 sich kurzfristig einbilden konnte, den mächtigen Rivalen niedergerungen zu haben. Sechs Jahre später - Platon war immer noch ein Kind - mag er vielleicht etwas mitbekommen haben von der patriotischen Euphorie, die nach der eindrucksvollen Schilderung des Thukydides (6.30-32) im Frühjahr 415 den Auszug der großen Flotte, die Sizilien erobern sollte, begleitete. Bis zur katastrophalen Niederlage, in der die sizilische Unternehmung endete, waren es nur noch zwei Jahre. Als dann die Spartaner die Festung Dekeleia im Norden von Athen dauerhaft besetzten, war es vorbei mit der Bewegungsfreiheit der Athener im eigenen Land. Auch Platon, jetzt ein Halbwüchsiger, muß gespürt haben, was es hieß, die Stadt nicht mehr ungefährdet verlassen zu können. Als er erwachsen wurde, mit 18 bis 20 Jahren, war der militärische und politische Niedergang der von zwei Verfassungsänderungen geschüttelten Stadt in vollem Gang. Auf die Kapitulation der Stadt in militärisch aussichtsloser Lage im Jahre 404 hätte die totale Vernichtung folgen können - die Athener selbst hatten im Umgang mit besiegten Gegnern im Peloponnesischen ...
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