Schweitzer Fachinformationen
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Jedes Jahr, wenn die Aprilstürme vorüber waren und die ersten warmen Maitage anbrachen, erfüllte beinahe über Nacht der schwere Duft von Obstbäumen die Luft. Weiße Blüten schwebten sanft von den Bäumen herab, während die Wiesen mit gelben Butterblumen übersät waren. Die Sonne strahlte golden auf die grünen Felder und tauchte die Landschaft in ein warmes Licht. In der Ferne konnte man das leise Rauschen des nahen Meeres hören.
Die typische Marschlandschaft Dithmarschens zeigte sich in ihrer ganzen Pracht: Weite Felder, eingefasst von Deichen und Gräben, erstreckten sich bis zum Horizont. Die roten Backsteinhäuser mit ihren teilweise reetgedeckten Dächern fügten sich harmonisch in die Umgebung ein. Das Klappern der alten Windmühlenflügel war zu hören, während Möwen kreischend über die Salzwiesen flogen.
Auf den großen Höfen herrschte nun geschäftiges Treiben, denn die Dithmarscher mussten sich allmählich auf den bevorstehenden Ansturm erholungssuchender Städter vorbereiten, die nach etwas Idylle strebten.
Für die Bewohner der prächtigen Anwesen bedeutete das, vom Dachboden bis zum Gewölbekeller zu putzen und zu schrubben. Auch die Fensterscheiben samt Rahmen, Haus- und Nebentüren durften dabei nicht vernachlässigt werden - alles wurde poliert und geputzt, bis es glänzte.
Sobald im Haus Ordnung war, widmete man sich mit großer Begeisterung den Beeten und Vorgärten. Es wurde akribisch geharkt, geschnitten, gezupft und gesammelt, bis auch der letzte vertrocknete Laubhaufen im grünen Sack verschwunden war. Mit geschickten Händen wurden bunte Begonien in Kübel und Töpfe gepflanzt, um den Garten mit lebendigen Farben zu schmücken.
Doch trotz des idyllischen Anblicks lag eine gewisse Anspannung in der Luft, als ob etwas Neues, womöglich sogar Gefahrvolles drohte.
Amalia von Platen konnte dem ganzen aufgeregten Frühjahrsputz so oder so wenig abgewinnen. Nicht etwa, weil die Sechsundsiebzigjährige ihr denkmalgeschütztes imposantes Fachwerkhaus mit seiner einzigartigen Handwerkskunst und der prächtigen Eingangspforte, die den Weg auf das herrschaftlich anmutende Grundstück wies, verkommen lassen würde. Oh nein, das käme für Amalia niemals in Frage! Sie war einfach äußerst gut organisiert, sodass es erst gar nicht zu auffälligem Staub, unschönen Fensterschlieren oder welken Blumen in den Beeten und Kübeln kommen konnte. Immer auf Zack und alles im Griff behalten, ohne dabei den Blick für das Wesentliche zu verlieren - das war Amalias Anspruch an sich selbst.
Trotzdem spürte auch sie eine gewisse innere Unruhe, während sie ans Fenster trat. Die schweren Vorhänge aus burgunderrotem Samt schwangen leicht im Wind, der durch das offene Fenster hereinwehte und den Raum mit einem Hauch von Frische erfüllte. Vor ihr erstreckte sich eine perfekt gepflegte Gartenanlage mit majestätisch anmutenden alten Bäumen, die ihr dann und wann Geschichten aus längst vergangenen Zeiten zuflüsterten. Die Blumen in den Beeten, die wunderschönen Stauden blühten bereits in den herrlichsten Farben, üppiger Efeu rankte an der nach links den Garten begrenzenden Scheunenwand.
Amalia liebte es, in ihrem frisch erwachten blühenden Paradies zu verweilen, die harmonische Atmosphäre ihres Anwesens spiegelte ihre eigene innere Ausgeglichenheit wider.
Normalerweise!
Doch nun brachen neue Zeiten an. Eine Veränderung stand bevor in Amalias sonst so geordnetem Leben. Eine Veränderung, auf die sie sich dennoch von Herzen freute. Endlich kehrte wieder etwas Schwung in ihr eher zurückgezogenes Dasein ein, das sie seit dem Tod ihres Mannes vor fünf Jahren führte: Conzi, der Sohn ihres Neffen Julius seitens ihres verstorbenen Ehemanns und zugleich ihr absoluter Lieblingsgroßneffe, war auf dem Weg nach Marne, um sich hier als neuer Tierarzt niederzulassen - bei ihr, auf Amalias Anwesen, unter ihrem Dach und mit ihrer vollen Unterstützung.
Amalia war so aufgeregt, dass sie immer wieder ihr feines Spitzentaschentuch unter dem Saum ihres hellblauen Blusenärmels hervorholte, um sich damit die Nase zu trocknen. Seit ihrer Kindheit litt Amalia bei großer Anspannung an einer lästigen Tropfnase, gegen die sie schon mit allen erdenklichen Methoden angegangen war - ohne Erfolg. Das Einzige, was half, war ständiges Tupfen. Ansonsten bewahrte Amalia von Platen stets Ruhe und verlor nicht einmal einen Wimpernschlag lang die Fassung. Es kam nur äußerst selten vor, dass sie ihre erstklassigen Manieren vergaß - es sei denn, es ging um inkompetente Kriminalisten.
Neben ihrer Leidenschaft für das britische Königshaus, insbesondere die bezaubernde und gebildete Kate, widmete Amalia sich den dunkelsten Abgründen der Menschheit, dem banalen Verbrechen - und das mit großer Begeisterung. Sie liebte Kriminalromane, auch wenn die Ermittler darin häufig nicht ihren hohen Ansprüchen genügten. Oft handelte es sich um offensichtliche Trottel, bei denen Amalia bereits nach wenigen Seiten wusste, wie der Fall gelöst werden konnte. Hirnlose Aktionen, direkt am Kern des Übels vorbeiermittelt. Himmel und Hölle, über derartiges Fehlverhalten konnte sie sogar richtig in Rage geraten.
Doch nun würde sie nicht mehr viel Zeit haben dafür. Constantin benötigte nicht nur ihre räumliche Unterstützung, sondern auch ihre organisatorische Hilfe bei der Einrichtung seiner Praxis.
Böse Zungen behaupteten, ihr feiner Herr Großneffe aus Hannover würde sich bei ihr ins gemachte Nest setzen. Immerhin hatte sie bereits die Räumlichkeiten bestens eingerichtet - nur vom Feinsten, denn sie konnte es sich schließlich leisten.
Doch Amalia hatte dem Gerede der Leute noch nie groß Beachtung geschenkt, sie gab nichts darauf, wenn die Landfrauen sie misstrauisch beäugten und anschließend beim gemeinsamen Häkelnachmittag sie das einzige und ausschließliche Gesprächsthema war.
»Wer viel redet, tut nichts. Die Gefährlichen schweigen und agieren aus dem Hinterhalt«, pflegte sie stets zu sagen.
Amalia drehte sich vom Fenster weg und ließ ihre Hand im Vorbeigehen über die Lehne des cognacfarbenen Ohrensessels aus feinem Nappaleder gleiten, der einst der Lieblingssessel ihres verstorbenen Gatten gewesen war. Leise murmelte sie vor sich hin: »Wo bleibt er nur?« - und bezog sich dabei natürlich auf ihren Großneffen.
Hm, diese Ungeduld war auch neu, tatsächlich durchlebte sie gerade in Bezug auf Constantin und seine Zukunftspläne betreffend eine Veränderung. Sie erkannte sich selbst kaum wieder, fand seit Tagen nur schwer in den Schlaf und träumte wirr.
Ein besonders verrückter Traum war ihr noch gut im Gedächtnis geblieben, den sie gleich nach dem Aufwachen in ihr kleines Büchlein auf dem Nachtschränkchen niedergeschrieben hatte: Die wunderbare Kate war zu Besuch gekommen. Wie beste Freundinnen hatten sie in Amalias Bibliothek gesessen und delikate Orangenplätzchen zu aromatischem Earl Grey genossen - zumindest behauptete Kate, dass die Plätzchen delikat und der Tee besonders aromatisch seien. Solch bizarre Träume hatte Amalia noch nie gehabt, und sie war überzeugt, dass die anstehende Veränderung in ihrem Leben dafür verantwortlich war. Sie hoffte, dass derartige Phantasien verschwinden würden, sobald Constantin in Marne angekommen war und alles seinen zwar ungewohnten, aber dennoch geregelten Gang nahm.
Seufzend warf Amalia einen Blick auf ihre elegante goldene Armbanduhr, ein Geschenk ihres Anton - Gott hab ihn selig. Es war zehn vor zwölf. Wo blieb ihr Großneffe nur? Sie hatte ihn um elf Uhr erwartet, und das war bereits großzügig bemessen gewesen. Unpünktlichkeit war etwas, das Amalia durch und durch missbilligte, und Constantin wusste das nur zu gut. Daher musste es einen triftigen Grund für seine inzwischen fast einstündige Verspätung geben.
Hoffentlich war ihm nichts zugestoßen. Vielleicht war er in einen Autounfall verwickelt worden? Constantin hatte den neuen Transporter erst vor wenigen Tagen vom Autohändler abgeholt. Vielleicht hatte er in einer brenzligen Situation die Kontrolle über den Wagen verloren, weil er noch nicht geübt darin war, ein so großes Fahrzeug zu fahren?
Die Sorge um ihren Großneffen ließ Amalias Herz schneller schlagen und sie schließlich entschlossen zum Telefonhörer greifen, um Constantins Handynummer zu wählen.
In diesem Moment klingelte es an der Haustür.
»Herr im Himmel!«, rief Amalia erschrocken aus, während sie sich die Hand auf die Brust presste und einmal tief durchatmete. »Nein, meine Liebe, so geht das nicht weiter«, sprach sie kopfschüttelnd zu sich selbst. »Diese übertriebene Sorge tut dir nicht gut.«
Nach einem weiteren tiefen Atemzug verließ sie schließlich die Bibliothek - neben dem wunderbaren Garten war dies Amalias bevorzugter Aufenthaltsort in dem großen Haus, weil sie es liebte, von Büchern umgeben zu sein. Mit eiligen Schritten durchquerte sie die Halle mit der prächtigen Standuhr, deren sanftes Ticken mit dem Klacken ihrer Absätze auf dem weißen Marmorfußboden die Stille durchbrach. Hoch unter der mit Stuck verzierten Decke hing der schöne Kronleuchter, den Anton und sie auf einer ihrer geliebten England-Reisen in einem kleinen Antiquitätenladen in Yorkshire entdeckt und sich sofort darin verliebt hatten. Das warme Licht der Kristallgläser brach sich funkelnd an den Wänden und tauchte die sonst eher kühl wirkende Halle in ein magisches Leuchten. Licht und Schatten im gemeinsamen Tanz. Wie sie das liebte.
Als Amalia wenige Momente später die Tür öffnete, war sie sicher, Constantin vor sich zu haben. Ihre Augen füllten sich bereits mit Freude und Erleichterung - doch sie machte einen überraschten Schritt...
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