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Eigentlich war ich nur auf der Suche nach etwas zu essen in diesem Kaufhaus im schickeren Norden Teherans. Da fiel sie mir auf - eine Frau, die allein nahe den Restaurants saß und ruhig ihre Mahlzeit verspeiste. Sie fiel mir nicht auf, weil ich hungrig war und sie eine Mahlzeit vor sich hatte - was genau sie aß, registrierte ich gar nicht -, sondern weil etwas anderes meine Aufmerksamkeit erregte: Sie trug beim Essen kein Kopftuch. Und das an einem öffentlichen Ort - im Iran, wo restriktive Sittengesetze, die es Frauen verbieten, sich ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit zu zeigen, seit Jahrzehnten durchgesetzt werden. Das Ganze ereignete sich Anfang Oktober 2018. Erst wenige Monaten zuvor war eine Protestwelle brutal unterdrückt worden und die Stimmung im Lande entsprechend niedergeschlagen. Der Staat hatte fürs Erste gewonnen. Meine Freunde, denen ich von der Frau erzählte, reagierten daher ungläubig. Zwar setzten Frauen auch im öffentlichen Raum immer wieder das Kopftuch ab, wenn sie außer Sichtweite waren, zum Beispiel in ein Auto stiegen oder durch eine unbeobachtete Ecke in einem Park liefen. Oder sie banden es eher locker, legten die Kleidungsregeln legerer aus, ohne sie direkt zu brechen. Aber es ließ sich bis dahin eigentlich niemand in der Öffentlichkeit ohne blicken - zu groß war die Angst vor Konsequenzen. Mir blieb die Frau im Kaufhaus daher umso mehr in Erinnerung, denn das war kein öffentlicher feministischer Protest, sondern eine beiläufige Alltagshandlung - mit potenziell dramatischen Konsequenzen.
Es war schließlich noch nicht ganz ein Jahr her, dass Vida Movahed in der Enghelab-Straße in Teheran auf einen Stromkasten geklettert war, ihr Kopftuch an einen Stock gebunden hatte und diesen wie eine Flagge schwenkte. Ihr Bild ging um die Welt, verbreitete sich in sozialen Medien und fand Nachahmerinnen: Eine Handvoll Frauen schlossen sich im Laufe des Jahres ihrer Protestform an, nahmen ihr Kopftuch ab, während sie auf Verteilerkästen stiegen - und wurden, wie Vida Movahed, prompt verhaftet. Zu keinem Zeitpunkt schien es jedoch so, als würden mehr als einige wenige Feministinnen öffentlich das Kopftuch ablegen - zu groß war der politische Druck, zu gefährlich die möglichen Folgen. Neben Geldstrafen drohten ihnen auch Verhaftungen.
Bis Jina Mahsa Amini im September 2022 in Polizeigewahrsam starb. Und Frauen im ganzen Land gleichzeitig ihr Kopftuch abnahmen und sich widersetzten - ungeachtet der Sittenregeln im Land, ungeachtet der Strafen und Repression, die diese Handlung zur Folge haben könnte. Der Staat wollte diesen Widerstand gern schnell im Keim ersticken, doch es gelang ihm nicht. Was hier geschah, unterscheidet sich von den meisten Dynamiken, um die es in den nächsten Kapiteln gehen wird. Die Frauen, die nun ihr Kopftuch ablegten, taten dies nicht organisiert. Sie waren in der Regel nicht miteinander vernetzt, taten es nicht im Rahmen von größeren Protesten, als Ergebnis einer sozialen Bewegung oder gar um Brüche innerhalb des Systems zu provozieren und einen Regimewechsel zu erwirken. Was sie antrieb, war vor allem eins: Empörung. Sie nahmen ihr Kopftuch ab, weil sie es abnehmen wollten, und schafften dadurch kollektiv neue Tatsachen. Ihr Handeln schaffte die Sittengesetze nicht ab, aber es setze sie de facto außer Kraft - nicht weil die Politik sich verändert hatte, sondern weil sie schlicht nicht damit hinterherkam, ihre Regeln durchzusetzen.
Das Abnehmen des Kopftuches war ein Akt zivilen Ungehorsams. Und genau darum soll es in diesem Kapitel gehen.
Ziviler Ungehorsam unterscheidet sich von Demonstrationen. Im Vordergrund steht nicht die Bevölkerungsmehrheit, die von etwas überzeugt werden soll, oder die Erfahrung, im Kollektiv vereint zu sein. Sondern es geht um das Individuum, das durch eine relativ kleine Handlung überproportional viel Aufmerksamkeit erzeugt. Wenn eine Demonstration zeigen soll, wie wichtig einer Minderheit ein politisches Thema ist, dann geht der zivile Ungehorsam noch einen Schritt weiter: Eine einzelne Person oder eine kleine Aktionsgruppe will ein Zeichen setzen und aufrütteln. Die Mehrheit soll gar nicht überzeugt werden, sondern eher Tatsachen geschaffen oder ein sofortiger Handlungsdruck auf die Politik erzeugt werden. Um das zu erreichen, bricht ein Individuum oder eine Gruppe bestehende Gesetze. Denn anders als die Demonstration beruft sich ziviler Ungehorsam nicht auf das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit. Die Argumentation lautet nicht, dass ihr Handeln legal ist, sondern: dass das gebrochene Gesetz ungerecht ist.
Wenn es nicht möglich scheint, eine größere Gruppe von Menschen zu mobilisieren, dann bleibt oft nur der Ungehorsam. Es kann zum Beispiel sein, dass mein Thema gerade nicht genug Menschen interessiert, um eine Demonstration veranstalten zu können. Dann kann ich durch Akte zivilen Ungehorsams vielleicht dennoch etwas bewirken. Es kann aber auch sein, dass Demonstrationen in dem Land, in dem ich lebe, grundsätzlich oder momentan verboten sind - weil der Staat autokratisch ist oder auf dem Weg dahin und Demonstrationen hart bestraft oder generell politisches Engagement erschwert. Wenn ich keine Gruppen bilden kann, ohne Spionage und schwere Haftstrafen zu befürchten, bleibt oft nur der einsame Protest. Ebenso kann es sein, dass Demonstrationen für ein politisches Thema nicht das richtige Mittel sind. Wenn Geflüchtete im Mittelmeer ertrinken, wird eine Demonstration daran wenig ändern. Die Seenotrettung hingegen hilft direkt. Oder nehmen wir das Beispiel Rassismus. Während der Rassentrennung in den USA war jeder Bruch mit den Rassengesetzen eine Form des zivilen Widerstandes, egal, ob sich jemand in das falsche Abteil im Bus setzte oder eine Beziehung mit einer Person anfing, die die »falsche« Hautfarbe hatte. Das mag zwar illegal gewesen sein, weil die zugrunde liegenden Gesetze aber ungerecht waren, ist es moralisch vertretbar, wenn nicht sogar notwendig, diese Gesetze zu brechen.
Was genau kann also alles als ziviler Ungehorsam gelten? Diese Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten. Denn ziviler Ungehorsam hat ein großes Definitionsproblem: Wo er Gesetze bricht, kann er theoretisch immer mit Kriminalität verwechselt werden. Diese Frage haben wir in Deutschland in den letzten Jahren immer wieder hitzig diskutiert, wenn es um die Aktionen der Letzten Generation ging. Eine Straße zu blockieren ist illegal. Der Grund, warum jemand dies tut, macht aber einen Unterschied: Geschieht es aus Fahrlässigkeit oder der Freude an Vandalismus, dann ist diese Handlung nicht politisch. Wenn jemand damit jedoch beispielsweise auf den Klimawandel aufmerksam machen will, ist dieselbe Handlung politisch. Nun hat aber nicht nur die Letzte Generation Straßen blockiert, sondern 2024 auch die Bauern, um ihren Unmut über die Subventionskürzungen der Ampel-Regierung kundzutun. Dass beide Straßenblockaden immer wieder unterschiedlich beurteilt wurden, dass konservative Medien und Politikerinnen bei der Letzten Generation etwa auch schon einmal von der »Klima-RAF« sprachen, während sie bei der Bauernschaft eher bereit waren zuzuhören und ihre Anliegen ernst zu nehmen, zeigt deutlich, wie umstritten die Bewertung der Protestform ist. Die unterschiedliche Bewertung kommt daher, dass verschiedene Kriterien angelegt werden. Im einen Fall wird rein juristisch geurteilt, also geschaut, ob der Protest legal ist (meistens bei der Protestgruppe, die einem selbst politisch fremder ist), und im anderen Fall wird ausschließlich darüber geurteilt, ob der Protest politisch legitim ist (und das wiederum eher bei der Protestgruppe, die einem politisch nähersteht). Ob ich nun Bauern oder Klimaaktivisten grundsätzlich sympathischer finde, ist kein besonders objektives Kriterium dafür, ob es sich dabei um legitimen Protest oder einen kriminellen Akt handelt.
Jürgen Habermas hat sich bereits 1983 mit genau diesem Problem zivilen Ungehorsams beschäftigt und diesen folgendermaßen definiert: Der Protest sei moralisch begründet und nicht privat, er sei öffentlich und verletze absichtlich Gesetze, akzeptiere aber die rechtlichen Folgen für den Rechtsbruch, weil er letztlich symbolisch und friedlich sei und damit das Rechtssystem im Ganzen nicht ablehne.1 Habermas gab hier enge Grenzen für zivilen Ungehorsam vor. Ihn interessierten nämlich Proteste in demokratischen Rechtsstaaten, die...
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