Kapitel 1
Als der Abend herankroch, lag Paulina im Bett, beobachtete den träge durch ihr Sichtfeld ziehenden blinden Fleck einer Migräne und erinnerte sich an das jahrelange Paillettennähen. Sie lauschte den Wellen, die gegen die Steilküste schlugen, dem Knarzen ihres sehr alten Hauses, und stellte sich zwei Schachteln vor. Die erste war eine Zigarrenkiste, in der sie die roten Pailletten für das Zaubererassistentinnenkleid aufbewahrte, das sie früher bei der Arbeit mit Michel getragen hatte: ein Schlauch mit einem darin versteckten Drahtgestell, das ihr eine Figur verlieh, bevor sie eine besaß. Die zweite war eine Hutschachtel voller grüner Pailletten für ihren Meerjungfrauenschwanz. Der fehlende Hut hatte ihrer Mutter gehört. Die Zigarren ihrem Vater. Die Schachteln gehörten ihr, wenn sie sich auch die roten Pailletten mit Michel geteilt hatte. Seine Hände hatten nach den Vorstellungen zu stark gezittert, weshalb sie die Fliege und die Weste für ihn ausgebessert hatte. Obwohl es Michels Zirkus war, hatte sie ihn immer als ihren eigenen empfunden.
Jetzt legte sie die Fingerspitzen zusammen, dort, wo noch Jahre später die Haut von der Nähnadel verhärtet war, von den Hunderten und Tausenden Malen, die sie sich gestochen und den Blutfleck unter einer Paillette verborgen hatte.
Das Baby weinte. O Gott. Kleine Füße stolperten durch den Flur. Es war Simon, der hastig nach s einer Schwester sehen ging. Nichts machte solchen Lärm wie ein sechsjähriger Junge. Die Erleichterung, nicht aufstehen zu müssen, verband sich mit dem schlechten Gewissen, ihren Sohn jetzt schon auf ihre Kopfschmerzen trainiert zu haben. Aber so etwas tat man eben. In sämtlichen Büchern, die sie gelesen hatte, stand, man solle den älteren Kindern unbedingt begreiflich machen, dass ein Baby auch zu ihnen gehöre. Dass ein jüngeres Geschwisterchen ein Geschenk sei, wie ein Hundewelpe oder eine kleine Katze, nur noch besser, weil man es das ganze Leben lang habe. Ihre Kinder wären nie allein. Simon machte sich so gut als Bruder, es war schon beinahe unheimlich. Das Fürsorgliche hatte er von Daniel. Die Sehnsucht, jemanden für sich zu haben, von ihr.
Als sie elf war, hatte Michel, um die Blutung zu stoppen, ihre Fingerspitzen geküsst wie ein aufgeschürftes Knie und ihr damit ein wenig Angst gemacht, weil sie damals immer noch ein bisschen geglaubt hatte, dass Alter doch ansteckend sein könnte.
»Manchmal komme ich mir vor wie dein Opa«, sagte er. »Würde dir das gefallen?«
»Alt genug bist du ja«, sagte sie.
Er lachte. »Stimmt. Genug genäht.« Den restlichen Vormittag zeigte er ihr einen Kartentrick, den er Die Vier Reiche nannte. Er ließ die Könige hopsen und gleiten und verschwinden.
Das hatte sie sich gewünscht, einen Großvater. Jemanden, der blieb. Michel hatte einen zur Seite geneigten Eckzahn, und den hatte sie mehr als alles andere auf der Welt geliebt. Aber jemand gehörte einem nicht, weil man einen Zahn liebte.
Jetzt vermisste sie ihn, wenn sie Kopfschmerzen hatte, wenn sie in einen Traum glitt. Sie vermisste ihn, wenn sie Nelkenzigaretten roch, und jedes Mal, wenn sie in einem Auto saß. Er hatte sie immer in seinem Kastenwagen mitfahren lassen, wenn ihr Vater schlechte Laune hatte. Dann drehte er an den Radioknöpfen, bis er Jazz fand. Michel mochte Sänger aus den 1930ern, näselnde Frauen und Männer, die klangen, als gurgelten sie mit Murmeln. Damals fand sie heraus, dass es Abschnitte der Route A1A gab, die ihr Herz zum Surren brachten wie eine Trompete mit Harmon-Dämpfer. In der Stille rauchte er, um wach zu bleiben.
»Furchtbare Angewohnheit«, sagte er, eine Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt. »Wenn du damit anfängst, sage ich deinem Vater, er soll dich an die Katzen verfüttern. Das ist ein schnellerer, schönerer Tod.«
Eine leere Drohung. Ihr Vater würde niemals riskieren, dass die Tiere sich den Magen verdarben.
»Wenn es so schlimm ist, warum hörst du dann nicht auf?«, fragte sie.
»Bei mir ist das was anderes. Ich wurde da reingeboren.«
Damals hatte sie überlegt, ob das Rauchen für ihn war wie die rote Unterwäsche für die Russos. Die Russo-Mädchen hatten beim Aufwärmen immer auf dem Trapez gesessen und allen ihre knallroten Höschen gezeigt. Lucia Russo hatte gesagt, es sei ein Familiending. Tradition.
Der blinde Fleck dehnte sich aus und wanderte zur Seite, rutschte über die Zimmerdecke, und sie fragte sich, warum sie Michel nie gesagt hatte, dass sie sich wünschte, er wäre ihr Großvater. Sie hatte ihm die Pailletten auf die Weste genäht, die Fliege straff gezogen und den Scotch verdünnt, wann immer es ging, weil ein ungeschickter Sturz ihn hätte umbringen können.
Die Pailletten hatten ihr die Finger ruiniert. Fingerhüte hätten sie möglicherweise davor bewahrt, aber zu Beginn hatte sie die nicht gekannt, und hinterher war nichts mehr zu retten gewesen. Sie hatte sich so oft gestochen, dass sie in den Fingerspitzen der linken Hand kaum noch Gefühl besaß, wodurch Berührungen zu einem Austesten wurden, wo sie selbst aufhörte und alle anderen anfingen.
»Paulina?«
Daniel war zu Hause, was bedeutete, es war 17:45 Uhr. Sie lag seit einer Stunde im Bett, und die Sehstörungen würden sich bald auflösen, der Schmerz sich aber verschärfen, und im Laufe von zwei Stunden müsste sie sich übergeben. Enola hatte nicht die ganze Stunde durchgeweint. Das war gut, besser als beim letzten Mal. Es war eine hübsche Idee gewesen, sie Enola zu nennen, einen befleckten Namen mit etwas so Hoffnungsvollem wie einem kleinen Mädchen zurückzuerobern. Allerdings hatten Daniel und sie in den Jahren nach Simons Geburt vergessen, dass Babys wie ein Bombeneinschlag sein konnten.
Wieder ihr Name. Sie gab keine Antwort. Das Rasseln ihrer Stimme im Kopf würde den Schmerz nur öffnen. So unangenehm Geräusche von außen waren, die von innen waren noch schlimmer.
Daniel roch nach Schmierfett, wobei jedes Maschinenöl gleich roch. Schwer, sauer und beißend. Sie wusste, dass er verstand, warum sie den Geruch von Fett liebte.
»Hast du deine Tabletten genommen?«
»Nein.«
»Paulina.«
»Von mir aus. Hol sie mir.«
Tabletten waren reine Glückssache, mehr Wunsch als alles andere und nicht so wohltuend wie eine große Tasse Kaffee mit doppeltem Whiskey, ein Trick, den Michel ihr mit dreizehn beigebracht hatte, als die Kopfschmerzen nach Abendvorstellungen im Meerjungfrauenbecken, bei fünf Atemzügen die Stunde, angefangen hatten. Sie schluckte die Pillen und wartete darauf, dass ihr Magen rebellierte.
Eine Stunde und fünfundvierzig Minuten später lag ihre Wange auf den Badezimmerfliesen. Sie blinzelte und sah Simon um die Tür herumspähen. Große Augen, Rotznase. Roter Sirupmund. Er musste zum Frisör. Wunderschön.
»Mama?«
»Ich mach nur ein kurzes Nickerchen.« Lächelnd schloss sie die Augen.
Nach einem Migräneanfall schlief sie tagelang unregelmäßig. In den dunklen Morgenstunden hatte das Ritual von Papier auf Papier etwas Beruhigendes, selbst wenn sie die Kanten der Karten nicht immer spüren konnte. Mischen, Abheben gingen so automatisch wie sich die Haare zu flechten, die Schnürsenkel zu binden oder mit Spucke und Daumen einen Fleck abzuwischen. Sie stellte Fragen. Von Michel hatte sie gelernt, dass zu allen Karten Fragen gehörten, ob man nun Tarot legte, Poker spielte oder zauberte.
Mama, ich muss mit dir reden.
Königin der Kelche.
Mama, ich muss mit dir reden.
Königin der Schwerter.
Mama, wie kommt man vom Wasser los?
As der Kelche und das rauschende Wasser.
»Mama?«, sagte ihr Junge. Immer beobachtete er, der Kleine. Wie sein Vater, wie das Wasser unmittelbar vor einem anständigen Gewitter. Wie war es möglich, an einem Ort bleiben und gleichzeitig so sehnsüchtig von ihm fort zu wollen?
»Was ist denn los, mein Schätzchen?«
»Kann nicht schlafen.« In dem Sch war zu viel Spucke. Früher oder später würde sich das von selbst legen, es war keiner echten Sorge wert, aber derlei alberne Dinge setzten ihr zu. Hätte er keine Schwächen, würden ihr die zaghaften Gedanken, die sie sich wegen all seiner Unvollkommenheiten machte, fehlen. Die Freude an Kindern bestand in den Sorgen, der ständigen Erinnerung daran, dass ein Teil von einem frei in der Welt herumlief.
»Komm her«, sagte sie. Simon schmiegte sich an sie, eine nach Hause gekommene fehlende Rippe.
»Was machst du da?«, fragte er, das Gesicht in ihre Seite gedrückt.
»Ich rede nur mit mir selbst.« Mit der rechten Hand kraulte sie ihm sanft den Kopf, spürte jedes Har, wie ihre linke Hand es nicht gestatten würde.
»Warum?«
»Weil ich am besten zuhören kann.«
»Erzähl mir eine Geschichte«, sagte er.
»Papa hat dir beim Schlafengehen zwei ganze Bücher vorgelesen.«
»Ja. Aber deine Geschichten sind besser.«
»Stimmt, oder?«
Als er zugedeckt im Bett lag, wollte Simon wieder vom Aalprinzen hören. Er mochte blutige Geschichten, also schmückte sie sie dieses Mal aus. Lang und breit schilderte sie, wie der faule, hinterlistige Schwager des Aalprinzen ihm mit der scharfen Schneide eines Krummschwerts den Kopf abschnitt und das Blut aus dem Körper des Aalprinzen strömte und das ganze Meer rot färbte.
»Deshalb heißt es Rotes Meer«, sagte sie und kam sich deshalb schlau vor. Obwohl der Aalprinz woanders herstammte, irgendwo weit weg. Gott allein wusste, von wem sie die Geschichte zum ersten Mal gehört hatte. Vielleicht hatte ihr Vater sie ihr erzählt, bevor er sich einen anderen Zirkus gesucht hatte. Ihr Vater ging, wohin die Katzen gingen; sie waren...