Schweitzer Fachinformationen
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Vincent Roper ist der Letzte, den Maeve Maloney in ihre Pension am Meer sehen will. Nach fast 50 Jahren steht er vor ihrer Tür und lässt sich nicht abweisen. Sie beide verbindet eine gemeinsame Jugend - und das Wissen um Maeves Zwillingsschwester: Edie, die singen konnte wie eine Nachtigall und berühmt geworden wäre, hätte sie die gleichen Chancen wie Maeve gehabt. Widerwillig gesteht Maeve sich ein, wie viel ihr Vince noch immer bedeutet. Wie ist es, zu lieben und geliebt zu werden? Jahrelang hat Maeve die Frage verdrängt, jetzt aber stellt sie sich wie nie zuvor ...
An dem Tag, als Vincent Roper zurückkehrte, befand ich mich im Geißblatt-Zimmer und bezog die Betten. Die vertrautesten Einzelheiten erscheinen mir plötzlich wichtig: die Barbershop-Band, die in unserer Lounge probte, das blasse Gelb des Deckenbezugs, das Aroma des Wäscheschranks, in dem es nach Lavendelsäckchen, Kupferrohren und warmer Wolle roch - ein Duft, der ein wenig an Milch kurz vor dem Sauerwerden erinnert, der Tribut, den die Arbeit von meinem Rücken forderte.
Vielleicht wurde ich ja wirklich langsam zu alt für all das. Vielleicht hatte Zenka recht, wenn sie mich wieder einmal drängte, die Hausarbeit doch ihr zu überlassen. Aber wie üblich war sie in hochhackigen Schuhen und Minirock erschienen, um in Sea View Lodge zu putzen, und ich hatte sie zur Küchenarbeit verdonnert, damit unsere Gäste sie nicht zu Gesicht bekamen.
Ich gönnte mir eine Atempause, denn das Geißblatt-Zimmer bietet eine herrliche Aussicht auf die Morecambe Bay: taubengrauer Sand, der sich über viele Meilen erstreckt, ehe er die kohlschwarzen Wellen erreicht; ein Himmel in allen Grauschattierungen.
Als ich den älteren Herrn sah, der auf unsere Haustür zukam, dachte ich zunächst, es handele sich um einen Franzosen. Etwas am Schnitt seines Jacketts, dem legeren Schal und der rechteckigen Form seiner Brille ließ darauf schließen. Sein glänzend polierter Gehstock jedoch und die Art, wie er in einer Mischung aus Angriffslust und Kapitulation den Kopf gegen den Wind neigte, waren unverkennbar englisch.
Lange blieb er mit der Hand am Tor vor dem Haus stehen und betrachtete Sea View Lodge. Vielleicht war ihm aufgefallen, dass die Wände wieder einmal gestrichen werden müssten oder dass die Regenrinne einer Reparatur bedurfte.
Als der Mann direkt zum Geißblatt-Zimmer hinaufblickte, überkam mich eine Erinnerung: ein Mädchen, das seine Schwester über die Wellen hielt, bis das Wasser die Zehen der Kleinen benetzte, das Staunen im elfenhaften Gesicht des Kindes, als sich schaumige Gischt in seinen Locken verfing.
Ich erstarrte am Fenster. Vincent Roper blickte zu mir hinauf. Seine blauen Augen sahen jetzt, wo sein Haar so weiß wie Möwengefieder war, noch viel heller aus.
»Steph!«, rief ich. »Len!« Ich schüttelte den Kopf, um die Erinnerung loszuwerden, versuchte, die Panik in meiner Stimme zu unterdrücken, und fügte hinzu: »Würde bitte einer von euch herkommen?«
Steph erschien schnaufend an der Tür. In der Hand hielt sie die zusammengefaltete, malvenfarbene Tagesdecke aus dem Flieder-Zimmer. »Probleme?«, fragte sie. Ihre Hand öffnete und schloss sich - wie immer, wenn sie abgelenkt oder bedrückt ist.
»Tut mir leid, Liebes«, sagte ich, als sie besorgt zu mir aufblickte. »Ich wollte dir keinen Schrecken einjagen.«
Len polterte gerade ins Zimmer, als die Türglocke läutete.
»Würdet ihr unserem Besucher bitte sagen, dass ich nicht zu Hause bin?«
»Aber du bist doch zu Hause, Maeve!«, widersprach Steph.
»Erinnerst du dich, wie wir es vor dem Spiegel geübt haben, Liebes?«, fragte ich und versuchte, meine Panik zu verbergen.
Steph nickte und stellte sich gerade hin. »Willkommen in Sea View Lodge. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ganz genau so, Liebes. Und jetzt los.«
Len strahlte sie an. »Du bist die beste Empfangsdame der ganzen Welt.«
»Das bist du wirklich«, bestätigte ich. »Und wenn der Herr mich sprechen möchte, sagst du, ich wäre nicht da.«
»Du wärst nicht da?«
»Genau.«
»Aber das stimmt doch nicht!«, rief sie, als ob wir für ein Theaterspiel probten.
»Im Augenblick ist Ehrlichkeit aber nicht angebracht«, erwiderte ich kurz angebunden. Menschen mit Down-Syndrom - so nennt man es heutzutage - fällt das Lügen oft schwer.
Len begutachtete sich im Spiegel und schob den Ärmel seines knallbunten Weihnachtspullovers ein Stück höher, um seine angespannten Muskeln zu zeigen. »Ich kann die Koffer tragen«, erklärte er. »Ich bin ein gut gebauter Mann.«
»Aber ihr müsst den Herrn wieder wegschicken, hört ihr? Er darf nicht hier ins Haus.«
Stephs pummelige Hand begann sich wieder zu öffnen und zu schließen. Ich machte mir Vorwürfe, weil ich gereizt reagiert hatte.
Es klingelte zum zweiten Mal. Offenbar war Vincent Roper mit zunehmendem Alter ungeduldiger geworden.
»Ihr würdet mir einen großen Gefallen tun«, sagte ich so ruhig wie möglich, »wenn ihr ihm erklärt, dass ich nicht gestört werden möchte.«
Steph und Len trollten sich, und ich musste mich erst einmal setzen.
Die Barbershop-Band begann in der Lounge mit einer ihrer Gesangsübungen. Ich wartete eine gefühlte Ewigkeit im Geißblatt-Zimmer, konnte aber kein Wort von dem verstehen, was unten gesagt wurde. Ich ließ den Gartenweg nicht aus den Augen und erschrak jedes Mal, wenn die Bass-Stimme die hohen Noten in ihrer Interpretation von Auld Lang Syne anstimmte. Innerlich bereitete ich mich schon darauf vor, dass Vincent Roper an die Zimmertür klopfen könnte.
Wieder überrumpelte mich die Erinnerung. Es war dein Elfengesicht, das ich sah, Edie. Dein Gesicht, das ich - Gott, vergib mir - mit Müh und Not für einige Zeit ausgeblendet hatte. Im Koffer draußen im Gartenhaus war ein Foto von mir, wie ich dich über die Wellen halte. Es stammt aus der Zeit, bevor du anfingst, dich vor Wasser zu fürchten. Auf dem Bild siehst du höchstens wie fünf aus, aber in Anbetracht meiner Größe waren wir mindestens schon zehn Jahre alt.
Als ich sah, wie Vincent Roper das Haus wieder verließ und gegen den Sturm ankämpfte, schien mein Körper in sich zusammenzufallen. Meine Hände wurden feucht, das Blut rauschte in meinen Ohren und ich atmete laut aus, als ob sich alles in mir angespannt hätte, bis ich sicher sein konnte, dass Vincent Roper Sea View Lodge ein weiteres Mal verlassen hatte.
***
Liebe Maeve,
entschuldige, dass ich so unangemeldet auftauche, aber nachdem ich von Franks Tod erfahren hatte, musste ich oft an dich denken.
Es war wunderbar, Sea View Lodge unverändert vorzufinden, und dass alles noch von dir geleitet wird und wie immer seinen Gang geht. Ich muss zugeben, ich hatte ein wenig Angst zurückzukommen.
Ich habe mir die Freiheit genommen, mich für eine Woche einzumieten. Steph hat mir freundlicherweise erlaubt, meinen Koffer dazulassen, obwohl sie mir mitgeteilt hat, dass ich erst ab vier einchecken kann. Ich werde also einen Spaziergang durch die Stadt machen und vielleicht die Messe in St. Mary's besuchen, aber ich freue mich darauf, dich später zu sehen.
Liebe Grüße von deinem alten Freund Vince
Der Wind pustete mir ins Gesicht und blähte meinen Mantel, aber ich zwang mich, aus dem Haus zu gehen. Vincent Roper konnte höchstens bis zum Alhambra gekommen sein. Ich würde ihn schnell einholen.
Der Frontmann von Aspy Fella A Cappella - wie sämtliche Bandmitglieder Asperger-Autist - folgte mir an die Tür.
»Entschuldigen Sie, Maeve«, sagte er mit seiner roboterartigen Stimme, »tut mir leid, wenn ich Sie aufhalte.«
»Geht gerade nicht, mein Lieber!«, rief ich über die Schulter zurück, während ich den Gartenweg entlangeilte. »Wir reden, wenn ich zurück bin.«
Obwohl Vincent Roper auf einen Gehstock angewiesen war, marschierte er ganz schön flott die Marine Road West hinauf. Ich konnte es mir nicht leisten, seine Spur zu verlieren. Bis ich die Promenade erreicht hatte, war er bereits an der Bowlingbahn angekommen und vergrößerte seinen Vorsprung mit jedem Schritt. Wer hätte geahnt, dass er sich von uns allen am besten halten würde? Meine eigenen Schritte wurden wahrscheinlich durch die Wut beflügelt, denn normalerweise wäre ich zu einer solch außergewöhnlichen Übung nicht mehr in der Lage: Immerhin war ich heute bereits wie ein Jo-Jo treppauf, treppab gelaufen - jedes Mal dreiunddreißig Stufen - und hatte fünf Quilts und sieben Decken aus dem Wäscheschrank geschleppt.
Am Midland Hotel, das über und über mit Weihnachtsbeleuchtung geschmückt war, hielt Vincent Roper inne. Bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen ich Sea View Lodge verließ, ging ich immer am Midland vorbei. Heute jedoch fielen mir unsere Kleider wieder ein. Mein meerblaues Kleid und deine pfirsichfarbene Bluse. Die seidigen Dessous von Wood's. Und die Brosche mit den türkisfarbenen Steinen.
Die Erinnerung ließ mich meine Schritte beschleunigen, bis mir der Mann vom Coffee Pot über den Weg lief, der einen Zwillingskinderwagen die Promenade entlangschob. »Guten Morgen, Miss Maloney«, sagte er. »Es ist schön, Sie einmal hier draußen zu sehen.«
Im Gegensatz zu einigen anderen Nachbarn war er ein anständiger Kerl, aber ich würde ihn kurz abfertigen müssen, denn ich war inzwischen auf Rufweite an Vincent Roper herangekommen.
»Ich wollte eigentlich schon längst einmal bei Ihnen vorbeischauen und Ihnen meine Enkelinnen vorstellen«, hielt der Mann mich weiter auf.
Er strahlte einen derartigen Stolz aus, dass ich nicht gut einfach weiterlaufen konnte, ohne kurz stehen zu bleiben und die Babys zu bewundern. Ich hatte gehört, dass seine Tochter es viele Jahre lang versucht hatte. Ehe ich in den Kinderwagen schaute, spähte ich hastig die Promenade entlang, aber Vincent Roper schien sich vor dem Midland Hotel ein Päuschen zu gönnen.
»Das hier ist Diza«, erklärte mir der Mann. »Sehen Sie das Grübchen in ihrer rechten Wange? Auf diese Weise kann ich sie auseinanderhalten.«
Für mich sahen die beiden kleinen Mädchen mit ihren dunklen Locken, den großen schwarzen...
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