Schweitzer Fachinformationen
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Im Leben bekommt man nie, was man verdient, nur das, was man für sich heraushandelt.
Das war die erste Lektion, die er mir beibrachte.
Während der letzten drei Tage habe ich diese Weisheit in die Praxis umgesetzt und pausenlos mit meinen Anwälten und Verfolgern in dem verzweifelten Versuch verhandelt, die Todesstrafe abzuwenden, von der alle glauben, ich hätte sie verdient.
Wie die Geier sammeln sich vor dem Gefängnis die Presseleute. Ihre Nachrichtenkanäle können von mir gar nicht genug bekommen. Sie präsentieren meinen Fall als abschreckendes Beispiel dafür, was passiert, wenn Raffgier auf Naivität prallt und so jenes bluttriefende Unglück verursacht, das bei uns Mord ersten Grades heißt. Immer wieder wird das kurz nach meiner Verhaftung aufgenommene Verbrecherfoto der Polizei gezeigt. Sunlight TV hat sogar ein grobkörniges Klassenfoto ausgegraben, auf dem ich in der ersten Reihe kerzengerade vor Mrs Saunders sitze, meiner Lehrerin in der Achten in meiner Schule in Nainital. Im Moment ist Nainital für mich wie eine andere Welt, ein Nimmerland saftig grüner Berge und silbriger Seen, wo mir mein jugendlicher Optimismus vor langer, langer Zeit einmal vorgaukelte, dass die Zukunft grenzenlos und der Geist des Menschen unbezwingbar sei.
Ich möchte hoffen, träumen, glauben können, aber stets aufs Neue erdrückt mich die kalte Last der Realität. Mir ist, als durchlebte ich einen Albtraum, gefangen in einem tiefen, dunklen Brunnen endloser Verzweiflung, aus dem es kein Entkommen gibt.
In der schwülheißen, fensterlosen Zelle wandern meine Gedanken zu jenem schicksalshaften Tag, an dem alles begann. Es ist zwar schon sechs Monate her, aber ich kann mich so deutlich an jedes Detail erinnern, als wäre es erst gestern gewesen. Vor meinem inneren Auge sehe ich mich an einem kalten, grauen Nachmittag zum Hanuman-Tempel am Connaught Place gehe.
Es ist Freitag, der zehnte Dezember, und auf der Baba Kharak Singh Marg herrscht der übliche Verkehr, ein Chaos aus Hitze und Lärm. Rumpelnde Laster, hupende Autos, jaulende Vespas und knatternde Motorrikschas verstopfen die Straße. Der Himmel ist wolkenlos, doch bleibt die Sonne unsichtbar in dem giftigen Smogcocktail, der sich wie jeden Winter über der Stadt zusammenbraut.
Nach der Arbeit habe ich mich wie immer umgezogen und trage statt meiner Uniform nun eine graue Strickjacke über einem züchtigen himmelblauen Salwar Kamiz. So mache ich das jeden Freitag: Während der Mittagspause schlüpfe ich aus dem Verkaufsraum und laufe die kurze Strecke über den Marktplatz zum alten, dem Affengott geweihten Tempel.
Die meisten Leute gehen in einen Tempel, um zu beten; ich gehe hin, um zu büßen. Alkas Tod bedrückt mich noch immer, und ein Teil von mir ist weiterhin davon überzeugt, dass ich schuld an dem bin, was geschah. Seit dieser schrecklichen Tragödie sind die höheren Mächte meine einzige Zuflucht. Zudem verbindet mich mit der Göttin Durga, der im Hanuman Mandir ebenfalls ein Schrein geweiht ist, eine ganz besondere Beziehung.
Lauren Lockwood, meine amerikanische Freundin, findet es immer wieder faszinierend, dass wir über dreihundertdreißig Millionen Götter haben. »Wahnsinn, ihr Hindus geht wirklich auf Nummer sicher«, sagt sie, was vielleicht ein wenig übertrieben klingt, aber es stimmt schon, dass in jedem Tempel, der seinen Namen verdient, Schreine für mindestens ein halbes Dutzend Götter stehen.
Alle diese Gottheiten verfügen über besondere Kräfte. Göttin Durga ist die Unbesiegbare, die von äußerstem Kummer erlösen kann. Sie half mir, als mir mein Leben nach Alkas Tod nur noch wie ein dunkler Tunnel aus Leid, Schmerz und Schuldgefühlen vorkam. Und sie steht mir bei, wann immer ich sie brauche.
Für einen Freitagnachmittag ist der Tempel ungewöhnlich voll, und ich gerate in den schier endlosen Strom von Gläubigen, die zum innersten Heiligtum drängen. Der Marmorboden unter meinen nackten Füßen fühlt sich kühl an, und die Luft ist schwer vom betäubenden Geruch nach Schweiß, Sandelholz, Blumen und Weihrauch.
Ich reihe mich in die deutlich kürzere Frauenschlange ein und brauche kaum zehn Minuten für mein Gebet zu Durga Ma.
Nach meinem darshan will ich die Stufen hinuntergehen, als mir jemand eine Hand auf die Schulter legt. Ich wirble herum und sehe einen Mann, der mich prüfend anblickt.
Wenn ein erwachsener unbekannter Mann in Delhi eine junge Frau anfasst, greift sie besser instinktiv nach der Dose Pfefferspray, die sie für solche Fälle parat haben sollte. Doch der Fremde, der mich anstarrt, ist kein Obdachloser und kein Tagedieb, sondern ein älterer Herr im cremeweißen Kurta-Seidenpyjama mit einem lässig über die Schulter geschwungenen weißen Pashmina-Schal. Ein Mann von großer Statur, hellhäutig, mit Adlernase und einem harten, entschlossenen Mund; das volle schneeweiße Haar trägt er nach hinten gekämmt. Auf der Stirn prangt ein zinnoberrotes Tika, und die Hände strotzen vor diamant- wie smaragdbesetzten Ringen. Doch was mich am meisten verunsichert, sind die durchdringend blickenden braunen Augen. Sie mustern mich mit einer Unverblümtheit, die ich beinahe furchteinflößend finde. Dies ist ein Mann, der es gewohnt ist, jede Situation zu beherrschen.
»Könnte ich Sie bitte sprechen?«, fragt er ein wenig reserviert.
»Was wollen Sie?«, erwidere ich knapp, aus Respekt vor seinem Alter allerdings weniger ruppig, als ich sonst vermutlich reagiert hätte.
»Ich heiße Vinay Mohan Acharya«, erklärt er gelassen. »Mir gehört das Acharya Business Consortium. Haben Sie schon von der ABC-Group gehört?«
Ich nicke instinktiv. Die ABC-Group ist weithin als eines der größten Konglomerate Indiens bekannt, das von Zahnpasta bis Turbinen nahezu alles herstellt.
»Ich möchte Ihnen etwas vorschlagen«, fährt er fort, »etwas, das Ihr Leben für immer verändern könnte. Geben Sie mir zehn Minuten, um mich genauer zu erklären?«
Von lästigen Versicherungsfritzen und Waschmittelverkäufern habe ich solche Sätze schon oft gehört. Und sie lassen mich immer extrem vorsichtig werden. »Ich habe keine zehn Minuten«, erwidere ich. »Ich muss zurück zur Arbeit.«
»Hören Sie mich nur kurz an«, beharrt er.
»Worum geht's denn? Jetzt sagen Sie schon.«
»Ich möchte Ihnen die Chance geben, Geschäftsführerin der ABC-Group zu werden und ein zehn Milliarden schweres Geschäftsimperium zu leiten.«
Jetzt weiß ich, dass ich ihm nicht trauen kann. Er klingt genau wie ein Betrüger, wie einer der vielen Straßenhändler auf der Janpath Road, die einem schauderhafte Kunstledergürtel oder billige Taschentücher anzudrehen versuchen. Ich warte auf das angedeutete Lächeln, mit dem er mir sicher gleich zu verstehen geben wird, dass er nur Spaß macht, aber er verzieht keine Miene.
»Danke, kein Interesse«, antworte ich bestimmt und beginne, die Stufen hinunterzugehen. Er folgt mir.
»Sie wollen mir sagen, dass Sie das Angebot des Jahrhunderts ausschlagen? Mehr Geld, als Sie in sieben Leben verdienen könnten?«, fragt er in scharfem, schneidendem Ton.
»Hören Sie, Mr Acharya oder wer immer Sie auch sein mögen. Ich habe keine Ahnung, was für ein Spiel Sie treiben, aber ich bin nicht daran interessiert. Würden Sie also bitte aufhören, mich zu behelligen«, sage ich und hole mir meine Bata-Slipper von der alten Dame wieder, die am Tempeleingang gegen ein kleines Trinkgeld auf die ausgezogenen Schuhe aufpasst.
»Ich verstehe. Sie halten dies vermutlich für einen Scherz«, sagt er und schlüpft dabei in ein Paar brauner Sandalen.
»Nun, ist es keiner?«
»Ich habe es in meinem ganzen Leben noch nie so ernst gemeint.«
»Dann sind Sie sicher von einer dieser TV-Ulksendungen. Sobald ich einwillige - Überraschung! Versteckte Kamera.«
»Sie glauben, ein Mann in meiner Position gibt sich mit dummen Fernsehshows ab?«
»Na ja, einer beliebigen Fremden Ihr Geschäftsimperium anzubieten, klingt für mich ziemlich dumm, meinen Sie nicht? Was mich übrigens daran zweifeln lässt, dass Sie wirklich der sind, der Sie zu sein behaupten.«
»Zugegeben.« Er nickt. »Ein bisschen Skepsis ist gesund.« Er fasst in die Tasche seiner Kurta, zückt ein schwarzes Lederportemonnaie und reicht mir eine Visitenkarte. »Vielleicht kann Sie das ja überzeugen.«
Neugierig schaue ich mir die Karte an. Sie sieht wirklich beeindruckend aus, eine Karte aus halb transparentem Plastik mit dem eingeprägten Logo der ABC-Group, darunter in kräftigen schwarzen Lettern: Vinay Mohan Acharya, Vorsitzender.
Ich gebe ihm die Karte zurück. »So was kann sich jeder für ein paar Hundert Rupien drucken lassen.«
Er zieht eine weitere Plastikkarte aus dem Portemonnaie und hält sie mir hin. »Wie ist es mit dieser hier?«
Er zeigt mir eine gänzlich schwarze American-Express-Centurion-Karte, auf der am anderen Rand Vinay Mohan Acharya eingraviert steht. Nur ein einziges Mal habe ich bislang eines dieser seltenen Exemplare gesehen, als nämlich ein protziger Bauunternehmer aus Noida damit einen knapp vierhunderttausend Rupien teuren, sechzig Zoll breiten Sony-LX-900-Fernseher gekauft hat. »Die ändert überhaupt nichts«, sage ich und zucke mit den Achseln. »Woher soll ich wissen, dass sie nicht gefälscht ist?«
Mittlerweile haben wir den Vorplatz des Tempels überquert und fast die Straße erreicht. »Das da ist mein Wagen«, sagt er und zeigt auf ein chromblitzendes Fahrzeug am Straßenrand. Am Steuer sitzt ein Chauffeur mit Schirmmütze und weißer...
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