Schweitzer Fachinformationen
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MOHAN KUMAR WIRFT EINEN BLICK auf seine Armbanduhr, löst sich aus den Armen seiner Geliebten und steht auf.
»Es ist schon drei. Ich muss los«, sagt er, während er im Kleiderhaufen neben dem Bett nach seiner Unterwäsche sucht.
Hinter ihm springt die Klimaanlage an und bläst einen Schwall lauwarmer Luft ins abgedunkelte Zimmer. Missmutig starrt Rita Sethi auf das Gerät. »Hat dieses elende Ding eigentlich jemals funktioniert? Ich habe dir gesagt, du sollst ein White Westinghouse besorgen. Diese indischen Fabrikate halten keinen Sommer durch.«
Die Rollladen vor den Fenstern sind unten, doch die drückende Hitze dringt trotzdem ins Schlafzimmer, sodass die Laken sich wie dicke Decken anfühlen.
»Ausländische Fabrikate sind nichts für die Tropen«, erwidert Mohan Kumar. Er hat größte Lust, nach der Flasche Chivas Regal auf dem Nachtschränkchen zu greifen, entscheidet sich aber dagegen. »Ich sollte mich lieber auf den Weg machen. Um vier Uhr ist Vorstandssitzung.«
Rita streckt die Arme aus, gähnt und lässt sich zurück in die Kissen fallen. »Warum gehst du noch zur Arbeit? Hat Mohan Kumar vergessen, dass er nicht mehr Staatsminister ist?«
Er verzieht das Gesicht, als hätte Rita an einer frischen Wunde gerührt. Mit seinem Ruhestand kann er sich immer noch nicht abfinden.
Siebenunddreißig Jahre lang war er in der Regierung gewesen - hatte Politiker manipuliert, Kollegen vorgesessen und Geschäfte abgeschlossen. Im Laufe dieser Jahre hat er Häuser in sieben Städten erworben, ein Shoppingcenter in Noida und ein Bankkonto in Zürich. Er hat es genossen, ein Mann von Einfluss zu sein. Ein Mann, der die Staatsmaschinerie mit einem einzigen Anruf in Gang setzen konnte, dessen Freundschaft verschlossene Türen öffnete, dessen Ärger Karrieren und Firmen zerstörte und dessen Unterschrift wahre Schätze im Wert von mehreren Millionen Rupien freigeben konnte. Sein stetiger Aufstieg im Bürokratieapparat hatte ihn selbstzufrieden werden lassen. Er dachte, es würde immer so weiter gehen. Doch dann besiegte auch ihn die Zeit, das unaufhaltsame Ticken der Uhr, die sechzig schlug und ihn mit diesem einen Schlag aller Macht beraubte.
In den Augen der Kollegen ist ihm der Ausstieg aus der Regierung ziemlich gut gelungen. Er sitzt jetzt im Vorstand von einem halben Dutzend privater Firmen, die zum Industriekonzern Rai gehören und das Zehnfache seines früheren Gehalts einbringen. Außerdem kann er über eine Firmenvilla in Lutyens' Delhi und einen Firmenwagen verfügen. Aber diese Vergünstigungen vermögen ihn nicht über den Verlust an Einfluss hinwegzutrösten. An Macht. Ohne ihre Aura kommt er sich minderwertig vor, wie ein König ohne Reich. In den ersten Monaten des Ruhestandes ist er nachts manchmal schweißgebadet aufgewacht, um gleich nach dem Handy zu greifen und zu prüfen, ob er nicht vielleicht einen Anruf des Ministerpräsidenten verpasst hat. Tagsüber blickte er unwillkürlich immer wieder zur Auffahrt hinüber und suchte nach dem tröstlichen Anblick des weißen Ambassadors mit blitzendem Blaulicht. Manchmal fühlte sich die fehlende Macht wie ein körperlicher Mangel an, wie der Phantomschmerz, der nach einer Amputation zurückbleibt. Die Krise nahm solche Ausmaße an, dass er seinen ehemaligen Arbeitgeber sogar um ein Büro bat. Vicky Rai tat ihm den Gefallen und wies ihm am Bhikaj Cama Place ein Zimmer in der Konzernzentrale von Rai Industries zu. Da fährt er jetzt jeden Tag hin, bleibt von neun bis fünf und liest ein paar Projektberichte, spielt aber meist auf seinem Laptop Sudoku und klickt sich im Internet durch Pornoseiten. Die Routine erlaubt ihm die Illusion, er sei noch erwerbstätig; und sie liefert ihm den Vorwand, eine Weile aus dem Haus zu verschwinden und seine Frau nicht sehen zu müssen. Außerdem kann er sich so an den Nachmittagen problemlos für ein Stelldichein mit seiner Geliebten verdrücken.
Immerhin ist mir Rita geblieben, denkt er, während er sich den Schlips bindet und ihren nackten Körper betrachtet, das schwarze Haar, das wie ein Fächer über die Kissen fällt.
Sie ist geschieden und hat keine Kinder, dafür aber einen gut bezahlten Job, der sie nur dreimal die Woche zwingt, ins Büro zu gehen. Der Altersunterschied zwischen ihnen beträgt siebenundzwanzig Jahre, einen Unterschied in Naturell und Vorlieben aber gibt es nicht. Manchmal kommt es ihm vor, als sei sie ein Spiegelbild seiner selbst, als wären sie Seelenverwandte, die sich nur durch das Geschlecht voneinander unterscheiden. Trotzdem gibt es das ein oder andere, das er an ihr nicht mag. Sie ist zu fordernd, nörgelt ständig, er solle ihr mehr Gold und Diamanten schenken. Und sie beklagt sich einfach über alles, ob über ihr Haus oder über das Wetter. Außerdem besitzt sie ein ungezügeltes Temperament, hat einmal sogar, wie allgemein bekannt, einen früheren Boss geohrfeigt, als der sich ihr gegenüber zu viel herausnehmen wollte. Allerdings macht sie diese Mängel durch ihre Fähigkeiten im Bett mehr als wett. Er bildet sich ein, ein guter Liebhaber zu sein. Mit sechzig hat seine Manneskraft noch kein bisschen nachgelassen. Und er weiß, dass er mit seiner Körpergröße, der hellen Haut und dem vollen Haarschopf, den er sich alle vierzehn Tage sorgsam färben lässt, auf Frauen keineswegs unattraktiv wirkt. Trotzdem fragt er sich, wie lange Rita noch bei ihm bleibt und wann seine gelegentlichen Geschenke, das Parfüm und die Perlen nicht mehr verhindern können, dass sie mit einem jüngeren, reicheren und mächtigeren Mann anbandelt. Bis dahin allerdings gibt er sich mit diesen gestohlenen Nachmittagen zweimal die Woche zufrieden.
Rita greift unter ihr Kissen und fischt eine Packung Virginia Slim sowie ein Feuerzeug hervor. Lasziv steckt sie sich eine Zigarette an, nimmt einen Zug und bläst dann einen Rauchring aus, der sofort von der Klimaanlage aufgesogen wird. »Hast du die Tickets für die Show am Dienstag?«
»Was für eine Show?«
»Die, in der man an Gandhis Geburtstag Kontakt mit seinem Geist aufnehmen will.«
Mohan sieht sie neugierig an. »Seit wann glaubst du an einen solchen Mumpitz?«
»Eine Séance ist kein Mumpitz.«
»Für mich schon. Ich glaube nicht an Geister.«
»Du glaubst auch nicht an Gott.«
»Nein, ich bin Atheist und seit dreißig Jahren in keinem Tempel mehr gewesen.«
»Tja, ich auch nicht, trotzdem glaube ich an Gott. Und es heißt, Aghori Baba sei ein großartiges Medium und könne wirklich mit Geistern reden.«
»Pah!«, schnaubt Mohan Kumar verächtlich. »Dieser Baba ist kein Medium, höchstens ein billiger Tantriker, der gewiss der Fleischeslust frönt. Und Gandhi ist kein internationaler Popstar. Meine Güte, er ist der Vater der Nation! Er verdient wirklich ein bisschen mehr Respekt.«
»Wieso sollte es respektlos sein, mit seinem Geist Kontakt aufzunehmen? Ich bin froh, dass eine indische Firma den Abend managt und noch kein ausländischer Konzern auf die Idee gekommen ist, Gandhi zu vermarkten als wäre er Basmatireis. Lass uns am Dienstag hingehen, Liebling.«
Er schaut ihr in die Augen. »Wie sieht das denn aus, wenn ein ehemaliger Staatsminister zu einer so absonderlichen Veranstaltung wie einer Séance geht? Ich muss an meinen Ruf denken.«
Rita bläst einen weiteren Rauchring zur Decke und antwortet mit einem spöttischen Lachen. »Na ja, wenn dir die nachmittäglichen Techtelmechtel mit mir nichts ausmachen, obwohl du eine Frau und einen erwachsenen Sohn hast, verstehe ich nicht, wieso du etwas gegen diese Show haben kannst.«
Sie bringt die Worte leichthin vor, doch sie verletzen ihn. Er weiß genau, vor sechs Monaten, als er noch Staatsminister war, hätte sie so etwas niemals gesagt. Und er begreift, dass sich auch seine Geliebte geändert hat. Selbst der Sex mit ihr ist anders, so als hielte Rita sich zurück, da sie wusste, dass seine Macht, für sie Einfluss auszuüben, geringer geworden, wenn nicht gar ganz verschwunden ist.
»Hör mal, Rita, ich gehe da bestimmt nicht hin«, erklärt er mit verletztem Stolz und zieht sich die Jacke an. »Aber wenn du unbedingt zu dieser Séance willst, besorge ich dir natürlich eine Eintrittskarte.«
»Warum nennst du es ständig Séance? Stell dir einfach vor, es sei eine Show, eine Filmpremiere. All meine Freundinnen gehen hin. Sie sagen, der Abend schafft es sicher auf Seite drei. Ich habe mir sogar extra einen neuen Chiffon-Sari gekauft. Komm schon, sei kein Spielverderber, Darling.« Sie zieht einen Schmollmund.
Er weiß, wenn Rita etwas kann, dann beharrlich sein. Hat sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt, ist es so gut wie unmöglich, sie wieder davon abzubringen - wie er zu seinem eigenen Leidwesen erfahren musste, als sie sich zu ihrem zweiunddreißigsten Geburtstag einen Tanzanit-Anhänger gewünscht hatte.
Also gibt er großmütig nach. »Na schön, dann besorge ich eben zwei Karten. Aber gib mir ja nicht die Schuld, wenn dir bei Aghori Baba übel wird.«
»Wird mir nicht!«, ruft Rita und gibt ihm einen Kuss.
Und...
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