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Kapitel 1 TED
»Ja hallo«, sagte sie.
Ich blickte auf die blasse, sommersprossige Hand an der Lehne des freien Barstuhls neben mir in der Business Lounge von Heathrow Airport. Dann sah ich zum Gesicht der hochgewachsenen, schlanken Fremden hinauf.
»Kenne ich Sie?«, fragte ich. Sie kam mir nicht sonderlich bekannt vor, aber ihr amerikanischer Akzent, die frische weiße Bluse und die Designerjeans, die in kniehohen Stiefeln steckten, ließen mich an eine der schrecklichen Freundinnen meiner Frau denken.
»Nein, tut mir leid, ich habe nur gerade Ihren Drink bewundert. Darf ich?« Sie ließ sich auf dem ledergepolsterten Drehsessel nieder und legte ihre Handtasche auf die Theke. »Ist das Gin?«, fragte sie mit Blick auf den Martini vor mir.
»Hendricks«, sagte ich.
Sie winkte dem Barkeeper, einem jungen Kerl mit Igelfrisur und einem glänzenden Kinn, und bat um einen Hendricks mit zwei Oliven. Als der Drink kam, hob sie das Glas in meine Richtung.
Ich hatte noch einen Schluck übrig und sagte: »Auf die Schutzimpfung gegen Fernreisen.«
»Darauf trinke ich.«
Ich leerte das Glas und orderte einen neuen Drink. Sie stellte sich vor, es war ein Name, den ich sofort wieder vergaß. Und ich sagte ihr meinen - nur Ted und nicht Ted Severson, jedenfalls nicht sofort. Wir saßen in der übertrieben gepolsterten und beleuchteten Lounge von Heathrow, tranken, wechselten ein paar Bemerkungen und stellten fest, dass wir beide auf denselben Direktflug nach Boston warteten. Sie zog einen schmalen Taschenbuchroman aus ihrer Handtasche und begann zu lesen. Es erlaubte mir, sie richtig anzusehen. Sie war sehr schön - langes rotes Haar, Augen von einem leuchtenden Grünblau wie ein tropisches Gewässer und eine Haut so blass, dass sie fast den bläulichen Ton von Magermilch hatte. Wenn sich in der Kneipe um die Ecke eine solche Frau neben dich setzt und dir Komplimente wegen der Wahl deines Drinks macht, bist du sicher, dass dein Leben gerade im Begriff ist, sich zu verändern. Doch in Flughafenbars gelten andere Regeln, denn hier zerstreuen sich deine Mittrinker bald darauf in alle Himmelsrichtungen. Und auch wenn diese Frau auf dem Weg nach Boston war, die Situation mit meiner Frau zu Hause erfüllte mich immer noch mit rasender Wut, und ich hatte während der ganzen Woche in England an nichts anderes denken können. Ich hatte kaum gegessen und kaum geschlafen.
Aus den Lautsprechern kam eine Durchsage, von der nur zwei Worte verständlich waren: Boston und verspätet. Ich sah auf die Anzeigetafel über den beleuchteten Regalen voller Spirituosen und beobachtete, wie unsere Abflugzeit um eine Stunde nach hinten verschoben wurde.
»Zeit für noch einen«, sagte ich. »Der geht auf mich.«
»Warum nicht?«, sagte sie, klappte ihr Buch zu und legte es mit der Titelseite nach oben neben ihre Handtasche auf die Theke. Die zwei Gesichter des Januars von Patricia Highsmith.
»Wie ist das Buch?«
»Nicht ihr bestes.«
»Es gibt nichts Schlimmeres als ein schlechtes Buch und eine lange Flugverspätung.«
»Was lesen Sie?«, fragte sie.
»Die Zeitung. Ich mag eigentlich keine Bücher.«
»Und was tun Sie dann auf Flügen?«
»Gin trinken. Morde planen.«
»Interessant.« Sie lächelte mich an, zum ersten Mal. Es war ein breites Lächeln, das eine Falte zwischen Oberlippe und Nase grub und den Blick auf makellose Zähne sowie einen Streifen rosa Zahnfleisch freigab. Als sie sich vorhin neben mich gesetzt hatte, hätte ich sie auf Mitte dreißig geschätzt, näher meinem eigenen Alter, aber jetzt ließen das Lächeln und die Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken sie jünger wirken. Achtundzwanzig vielleicht. So alt wie meine Frau.
»Und ich arbeite natürlich, wenn ich fliege«, fügte ich hinzu.
»Was tun Sie beruflich?«
Ich erzählte ihr die Kurzfassung: dass ich Internet-Start-ups finanzierte und beriet. Was ich nicht erläuterte, war, wie ich den größten Teil meines Geldes machte - indem ich diese Firmen nämlich abstieß, sobald sie vielversprechend aussahen. Und ich verriet ihr auch nicht, dass ich es eigentlich nicht nötig hatte, in diesem Leben noch weiter zu arbeiten, da es mir als einem der wenigen Internetunternehmer der späten 1990er-Jahre gelungen war, auszusteigen und meine Aktien zu Geld zu machen, ehe die Blase platzte. Ich behielt das alles nur für mich, weil ich keine Lust hatte, darüber zu reden, nicht weil ich glaubte, meine neue Gefährtin könnte Anstoß daran nehmen oder das Interesse an mir verlieren. Ich hatte nie das Gefühl gehabt, mich für das Geld, das ich verdiente, entschuldigen zu müssen.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte ich. »Was machen Sie?«
»Ich arbeite am Winslow College. Ich bin Archivarin.«
Winslow war ein Frauencollege in einer grünen Vorstadt gut dreißig Kilometer westlich von Boston. Ich fragte sie, was eine Archivarin tat, und sie erzählte mir vermutlich ihre eigene Kurzversion von ihrer Tätigkeit, nämlich dass sie Dokumente über das College sammelte und konservierte.
»Und Sie leben in Winslow?«, fragte ich.
»Ja.«
»Verheiratet?«
»Nein. Sie?«
Noch ehe sie es ausgesprochen hatte, sah ich, wie ihr Blick kurz zu meiner linken Hand huschte, um zu überprüfen, ob ich einen Ring trug. »Ja, leider«, sagte ich. Dann hielt ich die Hand in die Höhe, damit sie meinen leeren Ringfinger sah. »Und nein, es ist keine Gewohnheit von mir, meinen Ehering in Flughafenbars abzuziehen für den Fall, dass sich eine Frau wie Sie neben mich setzt. Ich hatte nie einen Ring. Ich kann das Gefühl am Finger nicht ausstehen.«
»Wieso leider?«, sagte sie.
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Und unser Flug hat Verspätung.«
»Sie wollen wirklich etwas über mein verkommenes Leben erfahren?«
»Wie könnte ich dazu Nein sagen?«
»Wenn ich es Ihnen erzählen soll, brauche ich noch einen davon.« Ich hielt mein leeres Glas in die Höhe. »Sie?«
»Nein danke. Zwei sind mein Limit.« Sie streifte eine Olive mit den Zähnen vom Zahnstocher und biss darauf.
Ich erhaschte einen kurzen Blick auf ihre rosa Zungenspitze. »Ich sage immer, zwei Martinis sind zu viel, und drei sind nicht genug.«
»Das ist witzig. Hat nicht James Thurber dasselbe gesagt?«
»Von dem habe ich noch nie gehört«, sagte ich und grinste durchtrieben, wenngleich es mir ein wenig peinlich war, dass ich versucht hatte, ein berühmtes Zitat als mein eigenes auszugeben. Der Barkeeper stand plötzlich vor mir, und ich bestellte noch einen Drink. Die Haut um meinen Mund herum hatte das angenehm taube Gefühl angenommen, das man von Gin bekommt, und ich wusste, dass ich Gefahr lief, zu betrunken zu werden und zu viel zu erzählen, aber schließlich galten die Flughafenregeln, und auch wenn meine Mitreisende nur dreißig Kilometer von mir entfernt wohnte, hatte ich ihren Namen bereits vergessen, und es war wenig wahrscheinlich, dass ich ihr in meinem Leben noch einmal begegnen würde. Außerdem tat es gut, mit einer Fremden zu reden und zu trinken. Allein dadurch, dass ich es laut aussprach, löste sich etwas von der Wut in mir.
Also erzählte ich ihr meine Geschichte. Ich erzählte ihr, meine Frau und ich seien seit drei Jahren verheiratet und lebten in Boston. Ich erzählte ihr von der Woche im September im Kennewick Inn an der Südküste von Maine, wie wir uns in die Gegend verliebt und ein absurd überteuertes Grundstück am Meer gekauft hatten. Ich erzählte ihr, dass meine Frau einen Masterabschluss in etwas besaß, das sich Kunst und Soziale Arbeit nannte, und sich deshalb für qualifiziert gehalten habe, das Haus zusammen mit einem Architekturbüro zu entwerfen, und dass sie zuletzt den größten Teil ihrer Zeit in Kennewick verbracht habe, wo sie mit einem Bauunternehmer namens Brad Daggett zusammenarbeitete.
»Und Ihre Frau und Brad .?«, fragte meine neue Bekanntschaft, nachdem sie sich die zweite Olive in den Mund gesteckt hatte.
»Mhm.«
»Sind Sie sicher?«
Also erzählte ich weitere Einzelheiten. Wie unser Leben in Boston Miranda zu langweilen begonnen hatte. Im ersten Jahr unserer Ehe hatte sie sich in die Renovierung unseres Backsteinhauses im South End gestürzt. Danach hatte sie einen Teilzeitjob in der Galerie einer Freundin im SoWa-Bezirk angenommen, aber schon damals merkte ich, dass alles ein wenig schal wurde. Oft ging uns mitten im Abendessen der Gesprächsstoff aus, und wir hatten angefangen, zu verschiedenen Zeiten ins Bett zu gehen. Wichtiger noch, wir hatten unsere jeweiligen Identitäten verloren, die uns am Anfang unserer Beziehung definiert hatten. Ich war der reiche Geschäftsmann, der sie mit teuren Weinen und Wohltätigkeitsgalas bekannt machte, und sie war die unkonventionelle Künstlerin, die Reisen an thailändische Strände buchte und gern in Absturzkneipen herumhing. Ich wusste, wir waren unser eigenes Klischee, aber es funktionierte für uns. Wir verstanden uns auf jeder Ebene. Und obwohl ich mich auf eine allgemeine Art durchaus für gut aussehend halte, genoss ich sogar die Tatsache, dass mich kein Mensch ansah, wenn sie dabei war. Sie hatte lange Beine und große Brüste, ein herzförmiges Gesicht und volle Lippen. Ihr Haar war dunkelbraun, aber sie färbte es immer schwarz. Es war absichtlich so gestylt, dass es zerzaust aussah, als käme sie gerade aus dem Bett. Ihre Haut war makellos, und sie brauchte kein Make-up, wenngleich sie das Haus nie verließ, ohne schwarzen Eyeliner aufzutragen. Ich hatte Männer beobachtet, die sie...
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