Schweitzer Fachinformationen
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Die anämische Nachmittagssonne ergoss sich in einem ungelenken Winkel in den Raum und formte bleiche Lichtpfützen auf den Steinfliesen. Draußen versuchten sich ein paar Vögel zaghaft an ihren Frühlingsliedern, doch in der Waschküche von Sunset Hall war es noch still und winterlich. Eine einzelne Fliege, die sich verfrüht in die kühle Luft geschwungen hatte, warf sich, vermutlich auf der Suche nach ein wenig Wärme, hartnäckig gegen eine Fensterscheibe.
Edwina lag reglos auf dem Boden, das Gesicht klein und zusammengezogen, so als hätte sie gerade Zitrone gekostet, die Hände gekrümmt wie Klauen. Eine rote Flüssigkeit sickerte ihr aus dem Mundwinkel, und die gleiche Flüssigkeit bildete auf den Fliesen bereits eine ansehnliche Lache.
Unweit von ihr, neben zwei zusammengeknüllten Socken, die wohl für die Waschmaschine bestimmt waren, ruhte die Tatwaffe, eine nun ebenfalls blutverschmierte Heckenschere.
Charlie, die vor Schreck den Wäschekorb hatte fallen lassen, starrte entgeistert auf das Bild des Grauens.
»Edwina?«
So ungewohnt leblos sah ihre Mitbewohnerin kleiner aus als sonst, zerbrechlicher und, zum ersten Mal, seit Charlie denken konnte, wirklich alt. Ein hageres Weiblein im lila Trainingsanzug, die Haare kurz und igelartig, die Schafspantoffeln zu groß und zu albern. NO TIME TO DIE stand auf ihrem Sweatshirt.
Die Fliege ließ vom Fenster ab und begann, sich für die rote Pfütze zu interessieren.
Charlie sah sich die Szene eine Weile an, dann kauerte sie sich neben ihre Freundin und steckte einen Finger in die Blutlache.
Tomatenrot und dickflüssig.
Charlie schnupperte.
»Da ist also der Ketchup hin«, sagte sie leise.
Die Fliege brummte im Zuckerrausch, doch Edwina regte sich nicht und sah, wenn das möglich war, noch toter aus als zuvor.
Unbarmherzig fuhr Charlie fort.
»Heute gibt es Hamburger, Edwina. Hast du das schon vergessen? Hamburger und Pommes. Und du weißt, was wir alle von Pommes ohne Ketchup halten: nicht viel!«
Die Mahlzeiten in ihrer Senioren-WG mochten eintönig sein, aber es gab ein paar Dinge, auf die man sich normalerweise verlassen konnte. Eines dieser Dinge war Ketchup.
Edwina öffnete ein Auge, hellwach und erschreckend blau.
»Geh weg!«, zischte sie. »Es ist eine Überraschung!«
»Ich war überrascht«, sagte Charlie.
»Es ist nicht für dich«, murmelte Edwina. »Es ist für Agnes! Um sie aufzuheitern!«
Das blaue Auge schloss sich wieder.
»Aufzuheitern .« Charlie schüttelte den Kopf und begann, die verstreuten Wäschestücke vom Boden aufzulesen.
»Agnes mag Morde«, sagte Edwina trotzig.
»Aber doch keinen an dir!«, fauchte Charlie. »Jetzt habe ich Ketchup-Flecken auf der Bluse! Das geht ganz schwer wieder raus!«
Die tote Edwina zuckte mit den Schultern.
Charlie kippte die Wäsche in die Trommel und setzte die Maschine in Gang. Es stimmte, dass Agnes in letzter Zeit ein wenig seltsam war. Noch seltsamer. Gestresst. Zerstreut. Ungewohnt verlegen. Ein interessanter Mord konnte da womöglich Abhilfe schaffen, aber so einfach, wie Edwina sich das vorstellte, war die Sache natürlich wieder einmal nicht.
»Rufst du Agnes?« Edwina ließ nicht locker.
Charlie stemmte die Hände in die Hüften. »Na gut. Aber es ist das letzte Mal!«
»Einverstanden!«, krähte Edwina erfreut und leckte sich ein wenig Ketchup von den Lippen.
Die übrigen Bewohner von Sunset Hall saßen im Salon zusammen: Agnes, Winston und der Marschall. Der Wolfshund Brexit schnarchte auf dem Teppich, und Oberon, die hauseigene Boa constrictor, räkelte sich im Terrarium. Alle versuchten, es sich trotz des rußenden Kaminfeuers gemütlich zu machen - mit unterschiedlichem Erfolg.
Der Marschall, der seinen linken Arm im Gips hatte, reinigte einhändig und ungewohnt gut gelaunt eine seiner vielen Feuerwaffen. Es ging schleppend voran. Winston hatte seinen Rollstuhl unter die Leselampe manövriert und versuchte sich an einem Kreuzworträtsel, Agnes, die WG-Gründerin und Hausbesitzerin, strickte etwas Unförmiges in einem zweifelhaften Sumpfgrün und stieß dann und wann einen saftigen Fluch aus. Brexit träumte mit zuckenden Pfoten.
Nur Oberon schien die Sache mit dem Entspannen professionell anzugehen, zufrieden aalte er sich unter seiner Wärmelampe.
Charlie stieß die Tür auf, legte dramatisch eine Hand an die Stirn und sah trotz wirren Haars und Ketchup auf der Bluse wieder einmal fabelhaft aus.
»Edwina ist tot!«, verkündete sie.
»Schon wieder!« Agnes legte verärgert ihr Strickzeug weg.
»Sie meint es gut«, sagte Winston, ohne von seinem Kreuzworträtsel aufzublicken.
»Was ist es diesmal?«, fragte der Marschall mit mildem Interesse. »Erhängt auf dem Dachboden? In der Badewanne ertränkt?«
»Hoffentlich nicht schon wieder >In der Badewanne ertränkt
»In der Waschküche erstochen!« Charlie rollte die Augen. »Mit der Gartenschere. Und Pommes mit Ketchup könnt ihr euch erst einmal abschminken!«
Agnes kämpfte sich aus ihrem Sessel. Mit steifen Gliedern und einer störrischen Hüfte war das gar nicht so einfach.
»Ich seh mir die Sache lieber mal an.«
In einem Anflug von Eitelkeit ignorierte sie ihren Gehstock und tappte, verfolgt von einer Wolke düsterer und ganz grundsätzlicher Gedanken, den Flur entlang Richtung Waschküche.
War die Sache mit der Rentner-WG wirklich eine gute Idee gewesen? In der Theorie ging es darum, einander zu unterstützen, mit Gleichgesinnten einen würdevollen Lebensabend zu verbringen und sich notfalls auch gegenseitig das Ableben ein wenig zu erleichtern. In der Praxis musste man sich mit Schlangen, ketchupverschmierten Mitbewohnerinnen und einfallslosen Pseudomorden herumschlagen. Und dann und wann passierte sogar ein echter Mord.
Würdevoll war etwas anderes!
Doch wie so vieles im Leben kam diese Erkenntnis um einige Jahre zu spät. Das Haus war schon voller Rentner und Getier, und wenn sie sich nicht sputete, holte sich Edwina auf den kalten Fliesen auch noch eine Erkältung.
Sie stieß die Tür zur Waschküche auf und stöhnte. Edwina war mit dem Ketchup wirklich sehr großzügig umgegangen! Agnes trat näher und fühlte Edwinas Puls, der zufrieden vor sich hinpochte. Dann nahm sie sich die Gartenschere vor.
»Erstochen«, sagte sie laut. »Ein Stich zwischen die Rippen, mitten ins Herz. Tatwaffe: Gartenschere. Warum das Opfer deswegen aus dem Mund blutet, ist mir allerdings nicht ganz klar.«
Edwina setzte sich auf und strahlte. »Ich dachte, so sieht es besser aus.«
»Hm«, sagte Agnes.
»Und wer war es?«, fragte Edwina hoffnungsvoll.
»Was weiß ich?«, murmelte Agnes. Sie wusste genau, worauf Edwina hinauswollte, aber sie hatte keine Lust auf ihre Spielchen.
Edwina breitete die ketchupbeklecksten Arme aus.
»Brexit!«
Der Wolfshund! Schon wieder! So wie es aussah, war Brexit derzeit an allem schuld, in der WG wie im Leben.
»Brexit liegt im Salon und schläft!«, sagte Agnes streng. »Er hat ein Alibi.«
»Aber .« Edwina brach ab und senkte die Hände. »Du freust dich gar nicht!«
»Ich .« Agnes suchte nach Worten. »Ich bin ein bisschen deprimiert, das ist alles. Mit Morden hat das nichts zu tun.«
Fast nichts.
»Aber es ist Frühling!«, rief Edwina und sprang leichtfüßig auf. »Wie kann man denn im Frühling so deprimiert sein?«
Agnes blickte sie neidisch an. So beweglich müsste man sein! Oder wenigstens halb so beweglich. Auch ein Zehntel davon hätte Agnes schon geholfen. Ob es zu spät war, auf ihre alten Tage mit diesem Yoga anzufangen? Vermutlich.
»Sag das mal dem Wetter!«, murmelte sie verstimmt.
»Ich sage das dem Wetter jeden Tag«, versicherte Edwina und wischte sich mit einem Lappen Ketchup vom Mund.
»Das Wetter hat versprochen, sich zu bessern. Aber du . du besserst dich nicht.«
Das war das Seltsame an Edwina. Im Allgemeinen war sie das, was weniger gut informierte Leute als »verwirrt« bezeichnet hätten. Nichts als Unsinn im Kopf, Hunderte von blödsinnigen Projekten und dazu noch eine ungesunde Fixierung auf Reptilien. Aber manchmal traf sie den Nagel auf den Kopf. Höchst ärgerlich.
»Was stimmt denn nicht mit mir?«, schnauzte Agnes. Es hatte kampfeslustig klingen sollen, kam aber seltsam kläglich heraus.
Edwina tätschelte ihr mit klebrigen Fingern den Handrücken.
»Na ja, es ist der Küster, nicht wahr? Er ist ermordet worden, und du weißt noch immer nicht, wer es war. Niemand weiß es. Aber das ist nicht so schlimm, Agnes. Man muss nicht immer alles wissen.« Sie nickte weise.
Agnes hatte den Küster ein paar Monate zuvor erhängt im Glockenturm entdeckt. Kein schöner Anblick an einem Freitagnachmittag kurz vor Feierabend. Mord, so viel war Agnes schnell klar gewesen, doch anstatt sich wie gewohnt für die Sache zu interessieren, hatte sie überfordert ihre Koffer gepackt und war in den Urlaub gefahren. Es war kein Geheimnis, dass ihr die Geschichte nachging. Trotzdem war der tote Küster momentan ihr kleinstes Problem.
Seufzend ließ sie sich auf einem Schemel...
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