Schweitzer Fachinformationen
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Die Türglocke erklang, und Agnes Sharp unterbrach die Suche nach ihren dritten Zähnen, erfreut und verärgert zugleich.
Erfreut, weil sie die Türglocke überhaupt gehört hatte - ihre Ohren spielten in letzter Zeit nicht mehr so mit, und manchmal hörte sie nur einen hohen, nervenaufreibenden Ton, begleitet von Rauschen. Da war die Türglocke eine angenehme Abwechslung.
Andererseits würde es etwas peinlich sein, ohne die besagten Dritten die Tür zu öffnen, unartikuliert und zahnlos. Doch der Klingler musste abgewimmelt werden, bevor er auf die Idee kam, im Garten herumzuschnüffeln - Zähne hin oder her.
»Isch komme! Augenblick!«, brüllte sie in den Flur, dann machte sie sich auf. Aus dem Zimmer. Vorsicht Schwelle! Und dann die Treppe. Ein Schritt, eine Stufe, dann den zweiten Fuß nachholen. Ein schwindelerregender Moment ohne jede Balance, ein Atemzug, Mut sammeln für die nächste Stufe. Und so weiter. Sechsundzwanzig Mal.
Augenblick. Von wegen!
Es klingelte erneut.
Die Hüfte beschwerte sich.
Es klingelte schon wieder.
»Moment, verdammt noch mal!«
Als sie den ersten Absatz erreichte, hatte sich eine gehörige Wut in ihr aufgestaut, auf die Treppe, den Klingler, die abtrünnigen Dritten, aber auch auf ihre Hausgenossen. Wieso bekam immer sie die unangenehmen Aufgaben? Wie Treppensteigen. Oder Müllraustragen. Oder . überhaupt alles!
Edwina wäre die Stufen um einiges schneller hinuntergekommen, aber an der Tür war sie natürlich nutzlos. Bernadette saß in ihrem Zimmer und heulte sich die blinden Augen aus. Der Marschall war um diese Zeit meistens irgendwo im Internet, unerreichbar, mit dem Computer wie durch eine Nabelschnur verbunden. Und natürlich konnte man von Winston kaum erwarten, dass er sich ohne Treppenlift an den Abstieg machte.
Warum reparierte niemand den blöden Treppenlift?
Dann erinnerte Agnes sich daran, dass es ihre Aufgabe gewesen wäre, den Reparaturmann zu rufen, aber mit ihrem unberechenbaren Gehör und ihrer Abneigung gegen das Telefon hatte sie es immer wieder vor sich hergeschoben. Selbst schuld also, wie so oft dieser Tage.
Blieb als Sündenbock nur der Klingler, und auf den hatte sie nun eine Stinkwut.
Sie hatte die letzte Stufe gemeistert und schleppte sich, begleitet von einem Klingelstakkato, mit berechnender Langsamkeit auf die Haustür zu. War sie vielleicht taub? Was erfrechte sich der Flegel? Was wollte er überhaupt um diese Zeit? Und wie viel Uhr war es eigentlich?
Agnes fummelte kurz an dem Riegel herum, dann riss sie die Haustür auf. Gern hätte sie dem Klingler jetzt so richtig die Meinung gesagt, aber ihr fiel nichts ein.
»Na und?«, schnauzte sie. Es passte nicht so richtig, und sie ärgerte sich noch mehr.
»Äh, Frau Sharp?« Der Klingler äugte frech an ihr vorbei ins Haus. So ein verdammter Jungspund mit Beamtenbrille und Aktentasche unter dem Arm. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Agnes verschränkte die dünnen Arme, während der Jungspund mit einiger Verspätung ein gewinnendes Lächeln anknipste.
»Frau Sharp, ich habe wundervolle Neuigkeiten für Sie!«
Das hätte er besser nicht gesagt. Bisher hatte Agnes einfach vorgehabt, den Störenfried nach Plan abzuwimmeln, aber jetzt platzte ihr der Kragen. Wundervolle Neuigkeiten? Ausgerechnet heute? Das ging zu weit!
Sie versuchte sich trotz fehlender Zähne an einem freundlichen Alte-Dame-Lächeln - mit mäßigem Erfolg, wie sie dem zweifelnden Gesichtsausdruck des Vertreters entnahm. »Oh, für misch? Wie schön! Kommen Schie doch bitte in den Schalon!«
Das hatte der Klingler nur sich selbst zuzuschreiben!
»Noch einen Keksch?«
Wo in aller Welt waren bloß ihre Zähne?
Der Jungspund schüttelte stumm den Kopf. Er hatte ein einziges Mal in seinen Keks gebissen und saß seither kauend und seltsam verkrampft in dem ausgeleierten Ohrensessel. Agnes goss pissgelben Gesundheitstee in seine Tasse und studierte mit geheucheltem Interesse den Prospekt, den ihr der Eindringling in die Hand gedrückt hatte.
Der Besucher legte den angebissenen Keks zurück auf den Teller - ein kaltes Klacken wie Stein auf Stein. Edwinas Kekse wurden in der Regel sogar von den Mäusen verschmäht, aber für Anlässe wie diesen waren sie unbezahlbar.
»Chie wohnen allein hier?«, fragte der Jungspund mit vollem Mund.
Er wollte weder schlucken noch spucken, und so saß er fest.
Agnes dachte an Winston und die heulende Bernadette, an Edwina, die vermutlich gerade versuchte, mit Hilfe von Yoga ihre innere Balance wiederzufinden, an den Marschall und zuletzt an Lillith und seufzte tief.
Der Besucher nickte mitfühlend.
»Gerade für Leute wie Chie icht uncher Angebot perfekt! Wir verwalten Ihr Hauch, kümmern unch um die Vermietung. Wir kümmern unch um allech, während Chie auf dem Lindenhof einen goldenen Lebenchabend .«
Er verstummte und blickte seltsam starr an Agnes vorbei auf den Boden, wo gerade Hettie die Schildkröte mit gewohnter Eleganz vorbeizog.
Und auf dem Panzer - ihre Dritten! Vermutlich reisten sie schon eine ganze Weile per Schildkröte durchs Haus, ein körperloses, mobiles Grinsen. Genau das, was der Marschall so unter Humor verstand!
Agnes lehnte sich weit vor, angelte und bekam ihre Dritten zu fassen. Heureka! Rasch steckte sie sich das Gebiss in den Mund und strahlte den Jungspund mit Reihen makelloser Zähne an.
»Einen goldenen Lebensabend, sagten Sie?«
»Ohne finanzielle Sorgen!« Der Vertreter kapitulierte und stand auf. »Ich würde wirklich gern noch weiter plaudern, aber ich .«
»Sie wollen schon gehen? Wie schade. Sind Sie sicher, dass Sie nicht noch .?«
Drohend hob Agnes einen zweiten Keks, aber der Jungspund war schon auf dem Weg zur Tür, und das war gut so.
Denn draußen im Holzschuppen lag Lillith, eine Kugel im Kopf und ein Lächeln auf den Lippen.
Es versprach ein anstrengender Tag zu werden.
Sie hielten ihre Krisensitzung im Sonnenzimmer im ersten Stock ab. So war es für Winston am einfachsten. Agnes hatte Tee gekocht und Edwina dazu gebracht, Kanne und Tassen die Treppe hinauf zu schaffen. Dazu gab es echte Kekse aus der Packung.
Agnes nahm prüfend einen Bissen - die Dritten saßen - und sah sich um. Neben ihr aufrecht und scharfäugig der Marschall, daneben Edwina mit verträumtem Gesichtsausdruck in einer ihrer unmöglichen Yogapositionen. Winston in seinem Rollstuhl sah einfach nur gefasst und traurig aus. Würdevoll wie der Weihnachtsmann. Der Halunke! Wie machte er das bloß?
Im Gegensatz zu Winston wirkte Bernadette so gut wie nie würdevoll, sondern immer ein wenig wie ein Mafiaboss, nicht zuletzt ihrer dunklen Brillengläser wegen. Sie hatte sich ein wenig beruhigt, aber es war eine Ruhe vor dem Sturm - oder, besser gesagt, zwischen zwei Stürmen. Mit Niederschlag.
Zu Agnes' Rechter gähnte ein leerer Sessel.
»Der Reparaturservice für den Lift kommt morgen«, berichtete sie. Nachdem sie endlich zum Hörer gegriffen hatte, war es überraschend einfach gewesen, den Termin zu bekommen. »Der Marschall hat die Lebensmittel für die nächste Woche im Internet bestellt. Auch das Klopapier.« Der Marschall lächelte Agnes aufmunternd zu. Eine weitere Krise war abgewendet.
»Und was das Problem im Schuppen betrifft .«
»Sie ist kein Problem!«, unterbrach Bernadette. »Sie ist Lillith!«
»Nicht mehr«, sagte Agnes sanft. »Genau das ist das Problem.«
Bernadette gab einen unglücklichen Ton von sich.
»Es ist warm für die Jahreszeit«, fuhr Agnes fort. »Wir können nicht einfach nichts tun .«
»Wir setzen sie in den Lift!« Edwina strahlte. »In den Lift, nach oben, hinauf. In ihr Bett. Sanft und friedlich. Vielleicht erholt sie sich ja! Und wenn nicht . sanft und friedlich!«
»Sie erholt sich nicht«, sagte der Marschall entschieden. »Und was sanft und friedlich betrifft .«
»In der Tat!«, schnaufte Bernadette bitter.
»Wir könnten einfach die Polizei rufen«, warf Winston ein. Im Grunde war er ein ordnungsliebender Mensch. »In der Regel kümmert sich die Polizei um solche Dinge.«
»Das könnten wir tun«, sagte Agnes, »wenn wir nur wüssten, wo die Tatwaffe abgeblieben ist. Ohne die Tatwaffe .«
Drei Augenpaare richteten sich fragend auf den Marschall. Bernadettes dunkle Brillengläser reflektierten das Licht.
Der Marschall schien einen Augenblick verwirrt, dann verlegen. »Die Waffe . Sie war im Schuppen. Ich habe sie . und dann war ich im Dings . im Salon, und . ich muss gestehen .« Er bemühte sich um eine militärische Haltung, aber es klappte nicht ganz.
»Wir wissen nicht, wo die Tatwaffe ist«, wiederholte Agnes. »Und, nun ja, wenn die Polizei kommt und sie findet - sagen wir: irgendwo im Haus -, das könnte verdächtig aussehen.«
Edwina lachte perlend.
Bernadette schnaubte.
Winston nickte weise.
Niemand hatte etwas Nützliches zu sagen. Typisch.
Der hohe Ton erklang in Agnes' Ohr. Sie nutzte das akustische Intermezzo, um nachzudenken. Wie lange konnten sie einfach so abwarten, ohne Lilliths Tod der Polizei zu melden? Einerseits war es sicher vorteilhaft, sie eine Zeitlang dort im Schuppen zu lassen, gerade bei dieser Wärme. Je mehr Zeit verstrich, desto schwieriger würde es für die Polizei sein, sich einen Reim auf die...
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