Schweitzer Fachinformationen
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Sie war nicht immer so.
Jetzt wird sie vom Wecker des Handys wach. Es ist Samstagmorgen, halb fünf, der gestrige Wein ist noch in ihrem Blut, und das Glas steht immer noch neben dem Bett, also beginnt Cassi den Tag, auch diesen, wie gewohnt: Sie kippt den Rest herunter. So als hätte sie noch, ganz fürsorglich, ein kleines Frühstück für sich vorbereitet, ehe sie wenige Stunden zuvor wie betäubt in die Kissen gesunken ist.
Der braune sechzehn Kilo schwere Klumpen am Fußende bemüht sich noch nicht mal, den Kopf zu heben, streckt nur alle vier Pfoten von sich, bevor er wieder einschläft, während sie benommen die Beine über die Bettkante hievt, bis ihre Füße auf dem kalten Boden landen. Sie zieht die Hose vom Vortag an, weil sie eben noch daliegt, und den Hoodie von gestern, weil er auch noch daliegt.
Im Bad geht sie aufs Klo und trinkt zwei zahnpastaverschmierte Gläser Wasser auf ex. Sie putzt sich nicht die Zähne, kramt nur irgendein Haargummi hervor. Wenn sie es vermeiden kann, schaut sie nicht in den Spiegel. Dass ihr Haar, mit den kaputten Spitzen und dem fettigen stumpfbraunen Ansatz, ihr bald bis über die Schultern reicht, muss man nicht sehen, um es zu wissen. Dass ihre Kleidung weiter geworden ist, ist weniger wahrscheinlich, als dass sie abgenommen hat. Braune Augen und eine spitze Nase hatte sie immer schon, aber ihre Lippen waren nicht immer derart malträtiert von zu viel Rotwein und beständig knibbelnden Fingern.
Jemand, der Cassi noch von früher kennt, würde diese Cassi kaum wiedererkennen. Allen voran sie selbst. Ihr altes Ich hätte niemals zugelassen, sich als derart schmuddeliges Wrack - in Leggings mit ausgebeulten Knien und Pullis mit fleckigen Ärmeln - zu präsentieren. Ihr altes Ich hatte mindestens fünfundvierzig Minuten für die Morgentoilette gebraucht, hätte am Vorabend schon die Checkliste für den kommenden Tag parat gehabt. Die alte Cassi hielt nichts von halben Sachen, hatte das nie getan.
»Wenn man etwas tut, dann richtig«, hätte ihr Motto lauten können, wenn sie die Art von Mensch gewesen wäre, die Motivationssprüche nötig gehabt hätte. Das hatte sie, Cassi, zwar nicht, dafür aber hatte ihr Personal Trainer bei jeder Gelegenheit einen Slogan mit ähnlicher Aussagekraft angebracht: »Wenn man zum Sport geht, furzt man nicht rum.« Zweimal pro Woche arbeitete Cassi mit dem Trainer und dreimal pro Woche allein. Sie hielt ihre helle, frisch renovierte, genau angemessen stylishe Altbauwohnung sauber und ordentlich, ließ sich freitags frische Schnittblumen liefern und in diversen Salons so häufig Haut-, Haar-, Augenbrauen-, Nagelpflege und sonstige Behandlungen vornehmen, wie es die dort angestellten Spezialistinnen eben empfahlen; ihr Outfit war stets makellos. Mindestens zehn Stunden täglich verbrachte sie auf der Arbeit - eine Arbeit, die sie liebte! -, hatte eine Beziehung zu einem Mann, den sie - ebenfalls! - liebte, pflegte ihre Freundschaften, stellte sicher, dass sie immer über die Nachrichten, Kulturereignisse, Wettervorhersagen und den Promitalk auf dem Laufenden war. Sie war diejenige, die Geburtstagspartys organisierte, Geschenke besorgte, zu Abendessen einlud. Cassi hatte ihren Schlafbedarf auf vier Stunden pro Nacht gesenkt, und die übrige Zeit war sorgfältig bis in die kleinste Viertelstunde eingeteilt, ihr rappelvoller Kalender bereits Monate im Voraus ausgebucht. Sie sorgte dafür, dass alles so lief, wie sie es wollte. Dass alles so lief, wie es sollte.
Aber jetzt ist es, ehrlich gesagt, sehr unwahrscheinlich, dass sie auf eine Person aus ihrem alten Leben trifft. Cassi hat keinen Kontakt mehr zu Leuten von früher, obwohl »altes Leben« und »von früher« sich hier auf eine Zeit bis vor höchstens einem Jahr bezieht. Man könnte fast sagen, dass sie nicht einmal mehr Kontakt zu sich selbst hat, mal abgesehen von der unumstößlichen Tatsache, dass sie irgendwie existiert.
Dass ihr die Dinge einfach egal sind, ist eine Sache unter vielen, die sich im letzten Jahr geändert haben. Es fällt ihr leichter abzuschalten. Dieser Prozess hat ein paar Monate gedauert, aber am Ende war sie ihrem wahren Ich näher. Gewissermaßen aufs Wesentliche reduziert. So als hätte man alles Überflüssige weggekratzt, bis nur noch ihr Innerstes, ihr Wesenskern übrig blieb. Dieser Kern braucht keine Besitztümer. Braucht nicht mal mehr einen BH. Ihr Körper ist einfach da, und ihr Geist gesellt sich dazu. Die Tage übersteht sie, indem sie so wenig nachdenkt wie möglich, sich so wenig Widerständen aussetzt wie möglich.
Der Kellerraum, den sie jetzt bewohnt (oder auch: »das Souterrain mit eigenem Bad«, wie es die Anzeige formulierte), befindet sich in einem Haus, das einer geschiedenen Frau gehört, die Cassi nicht näher kennt. Das Untermietverhältnis ist eine praktische Lösung für beide Seiten. Die Frau hat zusätzliche Einnahmen, und Cassi muss sich um nichts sorgen. Sie verlässt ihre zwanzig Quadratmeter nur, wenn sie die Küche benutzen muss, und selbst das vermeidet sie gern jede zweite Woche, um nicht zu riskieren, den beiden Söhnen der Frau zu begegnen. Sie sind sechs und acht, mit unbändiger Lebenslust gesegnet, und eigentlich nur für eines gut: Sie lieben Cassis Hund und gehen gerne mit ihm Gassi.
Während Cassi ihr Haar zu einem nachlässigen Zopf bindet, schlurft sie die Treppe zur Küche hinauf und dreht den Hahn auf, damit das Wasser heiß wird. Unter der Spüle fischt sie eine kleine PET-Flasche heraus, von der sie den Deckel abschraubt. Kurz schnüffelt sie daran, zuckt gleichmütig die Achseln und schüttet Instantkaffee hinein, direkt aus dem Glas. Als das Wasser dampft, füllt sie die Flasche bis gut zur Hälfte und gibt dann einen Schuss Milch aus dem Kühlschrank hinzu. Sie schüttelt die Flasche ein paarmal, nimmt ihre Tasche, schlüpft in die Schuhe und verlässt das Haus.
Der Arbeitsweg dauert mit dem Bus nur eine Viertelstunde, wenn sie das Glück hat, ihn zu erwischen, und an ebendiesem frühen Morgen hat sie Glück. Sich hinzusetzen lohnt sich nicht, weshalb sie sich an die Fahrgaststange lehnt, den PET-Kaffee kippt und auf neblige Fußballfelder und verlassene Kreisverkehre hinausschaut, während der Fahrer Talkradio in einer ihr unverständlichen Sprache hört.
Nur fünf Minuten zu spät stempelt sie sich auf der Arbeit ein. Zieht die obligatorischen beigen Hosen an, das beige karierte Hemd und die braune Weste. Geht ins Lager.
Acht Stunden später zieht sie sich wieder um und macht sich auf den umgekehrten Weg. Um diese Zeit sind der Bus, die Kreisverkehre und Fußballfelder mit Leuten übersät, die fröhlich in ihr Wochenende starten, und der Busfahrer singt zu einem Werbesong. Kindergeschrei. Handyklingeln. Cassi steigt zwei Haltestellen früher aus, nur um das alles nicht länger ertragen zu müssen. Sie nimmt die Abkürzung durch den Wald - oder, na ja, was sich so Wald nennt . eigentlich ist es nur eine Ansammlung von Bäumen, gerade groß genug, dass sie als Kind dort hatte Verstecken spielen oder Schmuddelhefte finden können, die jemand hastig in einem hohlen Baumstamm hatte verschwinden lassen. Wann immer ihr jemand auf dem Weg entgegenkommt, sieht sie weg. Sie kennt dieses Kaff in- und auswendig, und als ihre Freundinnen und sie direkt nach dem Abi nach Stockholm gezogen waren, hatte sie sich geschworen, nie zurückzukehren.
Doch nun ist sie wieder hier. Und weil sie sich in vielerlei Hinsicht in einer alles andere als traumhaften Situation befindet, ist ihr Keller der einzige Ort, an dem sie sich wohlfühlt, der einzige Ort, an dem sie sein will. Wo sie sich einen Drink einschenken, den Hund am Bauch kraulen, sich im Bett zurücklehnen und eine Serie gucken kann. Die Stunden verstreichen lassen kann. Momentan hat Cassi für ihre Tage nur ein Ziel: dass sie enden. Dass Nacht aus ihnen wird. Es ist nicht so, dass sie sterben will. Sie lehnt es nur ab, an dem teilzunehmen, was die anderen, die da draußen, Leben nennen. Ihr Leben spielt sich nicht mehr unter Menschen ab, unter sogenannten Freunden, in einer Gemeinschaft, in einer Außenwelt. Ihr Leben ist das, was zwischen die vier Wände ihres Kellers passt, und wenn sie zur Arbeit muss, dann drückt sie innerlich sozusagen auf die Pause-Taste und steht die Stunden einfach durch. Als würde sie den Atem anhalten.
Einmal, gleich zu Beginn, als sie gerade erst in den Keller gezogen und vorübergehend optimistisch gestimmt war, erleichtert, an einem Ort zu sein, an dem niemand sie vermutete und finden konnte, hatte sie für die Jungs und Maine eine Schatzsuche organisiert. Eine einfache Karte mit kniffligen Rätseln und im Gelände verteilten Schätzen - in Zellophantüten verpackte Leckereien. Wie begeistert die Kinder gewesen waren! Wie bewundernd sie Cassi angesehen hatten! Aber diese kreative Energie war nur von kurzer Dauer gewesen. Danach versank Cassi umso tiefer in ihrer Erschöpfung. War nur umso zermürbter davon, tagein, tagaus den Erwartungen anderer zu entsprechen. Die Kraft aufzubringen weiterzumachen.
Und trotzdem zehren die Jungs immer noch von der Erinnerung, hoffen auf eine Wiederholung. Weigern sich zu akzeptieren, dass Cassi nicht mehr ihre gute Fee ist, dass sie sich in ein Schreckgespenst verwandelt hat.
Als sie an diesem Samstag heimkommt, ist das Haus leer. Das ist nichts Ungewöhnliches, sondern vielmehr der Grund dafür, dass es überhaupt möglich ist, mit einer Unbekannten und ihren Halbzeitkindern unter einem Dach zu leben.
Das Leben der Hausbewohner spielt sich auf unterschiedlichen Ebenen ab, sowohl im übertragenen als auch im wörtlichen Sinne. Die anderen treffen Freunde, spielen,...
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