Schweitzer Fachinformationen
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8. August 1929 Village Bay, St. Kilda
Flora spürte den kalten Steinboden unter Händen und Knien, während sie den Kamin ausfegte und die Asche in den Eimer kippte. Selbst aus dem Inneren des Cottages konnte sie verfolgen, wie die Besucher die Straße heraufkamen, erkannte es an dem aufgeregten Raunen und zaghaften Gelächter der Dorfbewohner. Die Rollen, die sie spielten, waren zu einer Art Ritual geworden, wann immer ein Touristenschiff in der Bucht anlegte. Mad Annie und Ma Peg saßen auf ihren Stühlen und strickten Socken in rasender Geschwindigkeit, Crabbit Mary kardierte Wolle mit ihrem üblichen finsteren Blick, Donald McKinnon und Hamish Gillies schleppten Steinbrocken, um einen der alten Cleits auszubessern. Die jüngeren Männer stolzierten mit aufgerollten Seilen über der Schulter umher, die Hände in den Hosentaschen, und taten so, als könnten sie jeden Augenblick von einer der Klippen springen. Wenn die Zeit und die Gezeiten es erlaubten, so hofften sie, würde der Kapitän, der die Insel besuchte, sie auffordern, seinen Gästen eine ihrer berühmten Klettervorstellungen zu geben. Nur die Hunde bewegten sich ohne Befangenheit, aber ihnen waren ja auch die Münzen egal, die für diese kleinen Zurschaustellungen des Alltagslebens auf Hirta, der Hauptinsel des Archipels St. Kilda, den Besitzer wechselten.
In dieser Hinsicht war der Sommer erfolgreich gewesen: Bei gutem Wetter und ruhiger See waren die Reichen und Neugierigen zu Dutzenden gekommen, und die Inselbewohner hatten einen kleinen Geldvorrat angelegt, der irgendwann auf den Nachbarinseln verwendet werden konnte. Hier auf St. Kilda existierten weder Geschäfte noch Handel irgendeiner Art, aber drüben auf Lewis, Harris und North Uist – um die vierzig Meilen entfernt – gab es Märkte, Läden und Farmer, die gewillt waren, mit den Einwohnern von St. Kilda Geschäfte zu machen, vor allem, da der Verwalter des Landlords so unerbittlich war in seinen Bedingungen.
»Flora, schnell jetzt!« Ihre Mutter Christina kam aufgeregt in die Küche. »Gib mir den Eimer, sie sind fast da.«
Flora richtete sich in die Hocke auf, und ihre Mutter streckte ihr den Besen entgegen. »Wie viele sind es?« Mit einem Seufzen erhob sie sich ganz und tauschte Eimer gegen Besen. Sie wusste genau, was jetzt zu tun war.
»Acht oder neun, meint Old Fin, aber du weißt ja, wie er zählt.«
Flora ging an ihrer Mutter vorbei, stellte sich an die Tür und blickte über den breiten grasbewachsenen Pfad der sich nähernden Gruppe entgegen. Sechs Personen.
»Puh«, murmelte Christina, griff nach einer Bürste und machte sich an Floras schwarzem Haar zu schaffen, das ihr in einem dicken Zopf über den Rücken hing. Sie hatte sich heute Morgen wenig Mühe damit gegeben, und einzelne Strähnen hatten sich gelöst. »Und schau, dein Gesicht ist ja voller Ruß!« Ihre Mutter versuchte, ihn wegzuwischen, erreichte aber anscheinend eher das Gegenteil und verteilte den Schmutz noch mehr auf Floras Wange. »Herrje!«
»Nicht jetzt, Ma«, sagte Flora leise. »Sie sind fast hier.«
Ihre Mutter ging zurück ins Haus, und Flora begann, den flachen Stein zu fegen, der ihre Türschwelle bildete. Ihre jüngeren Geschwister waren beim Unterricht im Schulhaus, ihr Vater und ihr älterer Bruder David auf dem Conachair. Im Cottage war es ungewöhnlich still.
Flora arbeitete mit gesenktem Kopf, und bald gerieten mehrere Paare eleganter Lederschuhe in ihr Blickfeld. Sie sah die Nylonstrümpfe einer Dame in der Sonne glänzen, ein paar Budapester, die mit Schnörkeln aus gestanztem Leder verziert waren, und machte noch ein oder zwei schnelle Besenstriche, bevor sie langsam aufsah.
»Guten Morgen«, sagte sie höflich auf Englisch, denn die Touristen sprachen selten Gälisch, die Sprache der Inselbewohner. Sechs Gesichter lächelten zurück, bei ihrem Anblick wie immer einen kurzen Moment überrascht. Sie konnte dieses Phänomen nicht richtig erklären. Es gab keine Spiegel auf der Insel, außer im Haus des Pfarrers, und ihr Eindruck von sich selbst basierte allein auf dem Spiegelbild, das sie erkennen konnte, wenn sie an einem windstillen Tag im Wasser der Bucht stand. Ihre Gesichtszüge schienen etwas an sich zu haben, das sie von anderen abhob – ob es die runde Form ihrer Wangen war, ihre vollen Lippen oder das strahlende Grün ihrer Augen, das wusste sie nicht, aber die Leute starrten sie immer so intensiv an, dass es ihnen hinterher oft peinlich zu sein schien. Was auch immer es war, es brachte einige Vorteile, und Flora erlaubte sich ein kleines Lächeln, als sie den älteren Herrn in der Gruppe nach seiner Kamera greifen sah.
»Hören Sie … Wären Sie so freundlich, uns ein Foto zu gestatten?«, fragte er. Er war blass und hatte einen grauen Bart, und seine Hand zitterte leicht, als er die kleine Kiste hochhielt, die bei den ersten Touristenbesuchen unter den Dorfbewohnern solche Furcht verbreitet hatte. Flora erinnerte sich daran, wie ihre Großmutter vor Angst ihre Röcke zusammengerafft hatte und in ihr Cottage geflüchtet war, als zum ersten Mal so ein Ding auf drei Beine gestellt und dann auf sie gerichtet worden war.
»Natürlich, Sir«, sagte sie und nahm ihre übliche Position auf der Schwelle des niedrigen Steinhauses ein, die Hände auf den Besenstiel gestützt, das Kinn leicht geneigt und die rechte Hüfte vorgestreckt, damit trotz ihres dicken Wollrocks ein wenig von ihrer Figur erkennbar wurde.
Sie lächelte nicht allzu strahlend für das Foto, zum einen, weil der Pfarrer es nicht mochte, wenn man »Freude zur Schau stellte«, aber auch, weil sie die Blicke der beiden jungen Männer in der Gruppe bemerkte. Wie gewohnt schienen sie sie mit den Augen zu verschlingen, musterten sie so forschend, als wäre ihre Schönheit eine mathematische Gleichung, die gelöst werden konnte, wenn man nur die richtige Formel fand. Ohne sie direkt anzusehen, stellte Flora fest, dass einer von ihnen kleiner war und auf Anhieb attraktiver wirkte, mit hellblondem Haar und einem Grübchen am Kinn. Sein Blick war so intensiv, dass es an Unhöflichkeit grenzte. Der andere wirkte unscheinbarer: hellbraunes Haar, braune Augen, kurz geschnittener Bart und eine Körperhaltung, die eher auf eine zurückhaltende Natur hindeutete. Als der Auslöser klickte, dachte sie, dass sie nicht wie Brüder aussahen; etwas an der Art, wie sie zusammen dastanden, ließ eher an Freundschaft denken. Die beiden jungen Mädchen dagegen – etwa achtzehn und dreizehn Jahre alt –, die dicht beieinanderstanden und die Köpfe auf die gleiche Art gesenkt hielten, waren doch bestimmt Schwestern?
»Und vielleicht noch ein zweites Foto mit uns allen?«, fragte der Herr.
»Wie Sie wünschen, Sir.«
Der Mann schaute zu der älteren Frau hinüber, vermutlich seine Ehefrau. »Ein Bild von uns zusammen mit einer Einheimischen wäre doch interessant, findest du nicht, Schatz?«
»Hmm …«, machte seine Frau, ohne zu lächeln. »Aber wer soll dann das Foto machen?«
Flora wollte schon die Dienste ihrer Mutter anbieten – das würde vielleicht noch eine Münze mehr einbringen –, aber da trat schon der braunhaarige Mann vor.
»Ich mache das«, sagte er und streckte die Hand nach der Kamera aus.
»Aber James, dann bist du ja nicht auf dem Foto!«, rief die ältere der beiden jungen Frauen.
»Die Welt wird es überleben, Sophia«, erwiderte er gelassen.
Während die Gruppe sich aufstellte, wanderte Floras Blick zu der jungen Frau, die gerade gesprochen hatte. Sie trug einen Hut, den man, wie Flora wusste, eine Cloche nannte – sehr modisch – und einen lavendelblauen Mantel mit tiefsitzender Taille und einer erbsengrünen Schärpe. Ihre Schuhe waren tief ausgeschnitten, mit einem dünnen Riemen über dem Spann. Zu spät fiel Flora ein, dass sie selbst noch barfuß war – die Inselbewohner trugen nur in den tiefsten Wintermonaten Stiefel, oder wenn Besucher kamen –, und sie versuchte, die Zehen einzurollen, die bestimmt schwarz von Schlamm und Ruß waren.
Der Mann namens James schien es zu bemerken, denn er blickte einen Moment von der Kamera auf und schaute auf ihre Füße. Ein winziges Lächeln trat auf seine Lippen, bevor er wieder den Kopf senkte und alle aufforderte, »Cheese« zu sagen. Das war eine Sitte, die Flora nicht verstand – was hatte Käse mit einem Foto zu tun? –, und sie starrte einfach in die Kameralinse, wobei sie sich fragte, was der Fotograf in diesem dunklen runden Feld wohl sah. Sie war sich des blonden Mannes bewusst, der rechts hinter ihr stand, so dicht, dass sie seinen Atem in ihrem Haar spüren konnte.
Die Kamera klickte erneut, und sie atmete erleichtert auf.
»Danke, Miss. Das war sehr freundlich von Ihnen.« Der ältere Mann griff in die Tasche und zog ein paar Münzen hervor. Flora warf einen gleichgültigen Blick darauf, als er sie abzählte. Dort, wo diese Leute lebten, konnte man mit Geld echte Schätze erwerben, aber hier würden sie es nur gegen eine Hacke oder einen Sack Kartoffeln eintauschen.
»Ja, sehr freundlich«, wiederholte der blonde Mann und suchte ihren Blick. »Wie heißen Sie, Miss?«
In seinen Augen lag ein Selbstvertrauen, das sie von sich selbst kannte. Auch er war ein Mensch, der es gewohnt war, dass die Leute ihn lange ansahen, und sie spürte die Energie zwischen ihnen. »Flora MacQueen.«
»Flora MacQueen«, wiederholte er so klar und deutlich, als gefiele ihm, wie sich die Laute auf seiner Zunge anfühlten. »Also, Miss MacQueen, wir werden dafür sorgen, dass alle Ihren Namen erfahren, denen wir von unserer Reise erzählen und diese Fotos...
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