Schweitzer Fachinformationen
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Ein Monat zuvor - 13. Mai 1930
Am Strand bellten die Hunde. Die alten Frauen waren vor ihre Haustüren getreten und blickten stirnrunzelnd auf die Bucht hinunter. Es herrschte Ebbe, schon den ganzen Tag wehte ein heftiger Wind, der das Meer aufwühlte, und die Vögel kreisten aufgeregt über den Wellen.
Effie blieb auf dem Melkstein sitzen und füllte gelassen den Eimer, die Wange an Ionas Bauch. Sie wusste, dass es noch mindestens zwanzig Minuten dauern würde, bis ein Schiff um die Landzunge kam, auch wenn es bei diesem Wind heute etwas schneller gehen mochte. Poppit, ihre Collie-Hündin - braun mit einem weißen Fleck über dem Auge -, saß neben ihr, die Ohren aufgestellt, und blickte zum Wasser hinunter, in Erwartung der noch weit entfernten Eindringlinge. Sie wich nicht von Effies Seite.
Von ihrem erhöhten Standpunkt aus konnte Effie die Dorfbewohner umherlaufen sehen. Das Melkgehege lag auf einem Drittel des Weges zum Gipfel, und sie genoss jedes Mal die Aussicht. Es war ein Dienstag, also Waschtag, und die jüngeren Frauen standen mit gerafften Röcken in den Bächen und unterhielten sich, während sie ihre Wäsche schrubbten. Wären Besucher auf die Insel gekommen, hätten die Frauen ihre Laken nicht an den Leinen flattern lassen, aber in dieser Woche wurden keine Touristenschiffe erwartet. Wenn ein Fischkutter eintraf, machte das nichts aus - die meisten der Kapitäne waren Freunde.
Aufgrund der Lage in einem Talkessel konnte man das Kommen und Gehen jedes Dorfbewohners von beinahe jedem Punkt aus beobachten. Die Hänge stiegen zu drei Seiten erst sanft an, führten dann weiter oben zu hohen Felsen, die auf der anderen Seite zur tosenden See hin steil abfielen. Nur auf der südöstlichen Seite flachten sie zu einem Kiesstrand ab, geformt wie der Schnabel einer Milchkanne. Das war die einzige Stelle, an der man auf der Insel anlegen konnte. Die See war rau, aber glücklicherweise grenzte die Insel Dùn - nicht viel mehr als ein Stück karger Fels in Form eines Fingers - beinahe an die Küste von Hirta, der einzigen bewohnten Insel des Archipels St. Kilda. Die kleine Nachbarinsel bildete einen natürlichen Wellenbrecher, sodass die Village Bay im grauen Gewässer des nördlichen Atlantiks einen sicheren Hafen bildete. Während besonders heftiger Stürme hatten hier schon bis zu zwanzig Schiffe Zuflucht gesucht.
Kutterfischer, Walfänger und Matrosen - alle, die in der Village Bay Schutz fanden - schwärmten von dem hübschen Anblick des einladenden Dörfchens, das sich in das Oval der Bucht schmiegte, mit rauchenden Schornsteinen und flackernden Öllampen. Die grauen Cottages, dazwischen vereinzelte traditionelle Blackhouses, die seit den 1860er-Jahren zunehmend verfielen, standen Seite an Seite an der Ostseite der Bucht, entlang einem Deich aus massiven Steinen. Wenn man von den Bergkämmen hinunterblickte, sahen sie aus wie eine Reihe von Zähnen. Riesenzähne, hatte Effies Mutter immer gesagt.
Durch seine Lage war das Dorf vor dem Wind geschützt, der über die Hänge pfiff und so stark war, dass er Felsbrocken lockern und Dächer von den Häusern reißen konnte (jedenfalls bevor der Landlord, Sir John MacLeod of MacLeod, sie mit Stahlbändern hatte befestigen lassen).
Es gab nur eine einzige Straße, einen breiten, grasbewachsenen Weg, der zwischen den Cottages und einer breiten, niedrigen Mauer entlangführte, hinter der Anbauflächen lagen. Die Dorfstraße war das Herzstück des Insellebens. Hier versammelte man sich an schönen Tagen im Windschatten der Häuser, um die Sonne zu genießen. Die alten Frauen saßen mit Strickzeug oder am Spinnrad vor ihren Türen, Kinder rannten an der Mauer entlang, gelegentlich stieg eine Kuh darüber. Jeden Morgen trafen sich die Männer vor der Nummer fünf oder sechs zum »Parlament«, um ihre täglichen Absprachen zu treffen oder Aufgaben zu verteilen, und nach dem Abendessen schlenderte man hier entlang, um die »Abendnachrichten« zu erfahren.
Zu jedem Cottage gehörte auf der anderen Seite der Dorfstraße ein schmales, von Mauern eingefasstes Grundstück, das bis hinunter zum Strand reichte. Hier bauten die Dorfbewohner in traditionellen Lazybeds ihre Kartoffeln an, hängten Wäsche auf und ließen ihre wenigen Nutztiere überwintern. Während der Sommermonate wurden die Kühe hinter dem Deich gehalten, während die vielen Schafe in der Glen Bay auf der anderen Seite der Insel weideten. Von der Village Bay durch einen hohen Bergkamm, den Am Blaid, getrennt, fielen die Felswände auf der anderen Seite steil in eine enge Bucht ab. Auf der Nordseite waren die Wellen unerbittlich, und dort drüben gab es keinen nennenswerten Strand. Auch wenn die Dorfbewohner für Notfälle ein Ruderboot bereithielten, war das An- und Ablegen dort nur in den seltenen Fällen möglich, wenn der Wind sich drehte und das Meer vorübergehend still dalag.
Iona hörte auf zu kauen und trat gereizt von einem Bein aufs andere. Gelassen streckte Effie die Hand nach dem Ampfer aus, den sie auf dem Weg herauf gesammelt hatte, und warf ihr noch ein paar Blätter hin. Die Kuh seufzte zufrieden, und Effie fuhr mit dem Melken fort.
Ein paar Minuten später war der Eimer beinahe voll, und Effie setzte sich auf und tätschelte Ionas Flanke. »Gutes Mädchen«, murmelte sie, erhob sich vom Melkstein und blickte den Hang hinab. Wie sie es vorhergesehen hatte, bog gerade der Bug eines Segelschiffs um das Kap von Dùn.
Sie beobachtete, wie das Schiff ruhig in die Bucht glitt, der Anker geworfen und die Segel eingeholt wurden. Doch kein Fischkutter. Die Frauen würden sich ärgern. Dieses Schiff mit seinen drei dünnen Masten und dem gebogenen Rumpf war ein feines Exemplar, eins, das man eher in den azurblauen Gewässern Frankreichs als an den Äußeren Hebriden erwartet hätte.
»Freund oder Feind?«, schallte es durch die Bucht.
Die Crew war von hier aus nur als kleine schwarze Punkte zu erkennen, aber man konnte sehen, dass die Einheimischen bereits das Dingi fertig machten; die Männer würden kräftig gegen die Wellen anrudern müssen, die an den Strand rollten. Die Passagiere auf der Jacht hatten sich einen ungünstigen Tag zum Segeln ausgesucht. Auf dem offenen Meer musste das Schiff herumgeworfen worden sein wie eine Nussschale, und das Anlegen war kein Kinderspiel, auch wenn Dùn sie vor dem Schlimmsten bewahrte. Der Südostwind ließ das Wasser in der sonst so geschützten Bucht schäumen und brodeln wie in einem Hexenkessel, und es war nicht garantiert, dass die Leute an Land gelangten.
Nur eins stand fest: Auch wenn die Männer es schafften, die Passagiere von Bord zu holen, würde keiner von ihnen trocken bleiben, und das wussten die Dorfbewohner. Aus den Schornsteinen stiegen bereits kleine Rauchwolken auf, Menschen eilten zwischen den Cottages hin und her, nahmen ihre Wäsche ab, zogen sich Schuhe an, schoben ihre Spinnräder so in Position, dass die Besucher sie sehen konnten.
Die Versorgung von Touristen war inzwischen zu einer recht profitablen Nebenbeschäftigung geworden. Auf Hirta selbst, wo es keinen einzigen Laden gab, hatte man zwar keine Verwendung für Geld, aber man konnte einen der Kapitäne darum bitten, beim nächsten Besuch Leckereien mitzubringen. Und wenn der Verwalter kam, um die Mieten einzutreiben, konnte man mithilfe des Geldes eine Extrazahlung leisten. Man konnte sich auch, wie in Floras Fall, einen knallroten Lippenstift besorgen lassen - so einen, wie ihn einmal eine Touristin in Stöckelschuhen benutzt hatte -, auch wenn das reine Verschwendung war, wenn man wie Flora während des Sommers zwölfhundert Schafe drüben in der Glen Bay hüten musste.
Keiner der Dorfbewohner verstand genau, warum die ganze Welt ein solches Interesse an ihnen hatte, aber Ian MacKinnon, der Postmeister und Mhairis Vater, hatte gehört, dass auf St. Kilda gestempelte Postkarten inzwischen ungemein beliebt, wenn nicht gar wertvoll waren. Ihre Lebensweise, so hieß es, sei vom Rest der Welt längst überholt worden. Die Industrialisierung führte dazu, dass sich die Gesellschaft schneller veränderte als je zuvor in den vergangenen Jahrhunderten, und die Leute auf der Insel wurden zu lebenden Reliquien, Kuriositäten aus einer anderen Epoche. Manche Leute mochten sie bemitleiden, aber das war den Bewohnern von St. Kilda völlig egal. Sie hatten gelernt, das Spiel zu ihrem Vorteil zu nutzen - und Effie war darin die Meisterin.
Sie nahm den Milcheimer und begann, den Hang hinabzusteigen, ohne die schwarzen Punkte aus den Augen zu lassen, die sich von dem einen schwankenden Schiff zum anderen bewegten. Wenn die Passagiere erst wieder trocken waren und sich von dem Seegang erholt hatten, musste man ihnen etwas bieten, das wusste sie. Und genau das hatte sie vor.
»Wo machen sie ihre Vorführung?«, fragte ihr Vater mürrisch. Während Effie Rahm zu Butter schlug, stand er am Fenster und blickte hinaus, die Pfeife locker zwischen den Lippen.
»Am Sgeir nan Sgarbh, denke ich«, antwortete Effie, schloss das Butterfass und trat zu ihm. »Dort ist es windgeschützt.«
»Oben am Felsen, aye, aber ob sie unten auf dem Wasser mit dem Dingi zurechtkommen?«
»Archie MacQueen hat starke Arme«, murmelte sie.
»Nur die Beine halten nicht mit«, ergänzte ihr Vater.
»Stimmt, die nicht.« Sie sah drei Männer die Straße entlanggehen. Einen erkannte sie an seinem Gang - Frank Mathieson, den Verwalter, Vertreter ihres Landlords und eigentlicher Herrscher über die Insel -, aber die anderen waren Fremde. Sie trugen gut geschnittene dunkelbraune Anzüge und Hüte, bei einem der beiden war blondes Haar darunter zu erkennen und ein...
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