Schweitzer Fachinformationen
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Zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Morgen ging ich zurück zum Schlafzimmerspiegel, musterte meinen dunklen Pferdeschwanz und rümpfte die Nase über mein Spiegelbild. Ich strich den mit Kirschen gemusterten Rock meines Fünfzigerjahre-Kleids glatt und sah nervös auf die Uhr. Alles, was ich brauchte, waren zwei klitzekleine Minuten, um mir etwas anderes, nicht ganz so Auffälliges anzuziehen, aber es war zu spät. Wenn ich nicht sofort aufbrach, würde ich es überhaupt nicht mehr schaffen. Ich zuckte leicht zusammen, als ich meine Füße in die engen roten Lackleder-Heels zwängte, schnappte meine Handtasche und stürzte zur Treppe.
»Ich dachte, du hättest gesagt, du gehst zu einer Beerdigung«, meinte meine Mitbewohnerin Helen stirnrunzelnd, als wir auf dem Treppenabsatz zusammenstießen. »Ich weiß, mein Gehirn ist ein bisschen matschig nach einer Nachtschicht im Krankenhaus«, ergänzte sie kopfschüttelnd. »Aber ich bin mir ziemlich sicher, du hast gesagt, es sei eine Beerdigung.«
»Das habe ich«, bestätigte ich, »und das ist es. Wenn du Gwen gekannt hättest, würdest du es verstehen«, rief ich über die Schulter, während ich die Treppe hinunterstürmte.
»Ich nehme an, du hast keine Zeit mehr, das hier zu trinken?«, rief sie mir nach und hielt einen dampfenden Becher hoch.
»Nein«, antwortete ich und riss die Haustür auf. »Tut mir leid. Aber ich erzähle dir morgen alles. Schlaf gut!«
Normalerweise wäre ich bei dem Gedanken an so eine lange Fahrt mit dem Bus aufgeregt gewesen. Mein Herz hätte in meiner Brust geflattert wie ein gefangener Schmetterling, begeistert von der Aussicht, einhundertzwanzig ununterbrochene Minuten in dem Luxus zu schwelgen, andere Leute zu beobachten. Aber alles, was es an diesem Morgen zustande brachte, war ein dumpfes Pochen - und das sogar, während ich zum Bahnhof sprintete. Sein Zustand erinnerte mich daran, dass es bei dieser Fahrt ausschließlich um das Ziel ging, nicht um den Weg.
Meine hübschen, aber kompromisslosen Schuhe kniffen bereits, als ich die Haltebucht am Busbahnhof erreichte, und in meinem Nacken kribbelte der Schweiß. Es würde mal wieder ein für die Jahreszeit ungewöhnlich warmer Tag werden, geradezu heiß für Anfang April und unerträglich in einem Kleid mit Spitzenpetticoat.
»Eine Rückfahrkarte nach Wynbridge, bitte«, keuchte ich, während ich in letzter Sekunde in den Bus sprang und das Geld, das ich bereits sorgfältig abgezählt hatte, scheppernd in die Schale warf.
»Netten Ausflug geplant?«, lächelte der Fahrer, während er sich zu mir umwandte und mich von Kopf bis Fuß musterte. »Bisschen früh am Tag für eine Party, oder?«, ergänzte er, während die Maschine meine Fahrkarte ausspuckte.
»Beerdigung«, murmelte ich. Es gelang mir nicht wirklich, sein Lächeln zu erwidern.
»Oh«, meinte er zweifelnd, »okay.«
Ich faltete meinen Garantieschein dafür, auch wieder nach Hause zu kommen, sorgfältig zusammen, steckte ihn ein und suchte mir einen Fensterplatz ganz hinten. Ich wunderte mich weder über seine noch Helens Reaktion auf mein Outfit, aber sie trug trotzdem dazu bei, meinen Herzschlag noch ein bisschen mehr auf Trab zu bringen.
Was, wenn der Rest der Trauergäste vergessen hatte, dass Gwen, die beste Freundin meiner Großmutter, immer den Wunsch gehegt hatte, ihre Beerdigung solle von bunten Farben und Gelächter begleitet werden und nicht von einem trübsinnigen Schwelgen in Erinnerungen? Was, wenn sich alle anderen für ein nüchternes, düsteres Schwarz entschieden hatten? Nun ja, sollte das der Fall sein, dann würden sie mein farbenfrohes Retro-Ensemble garantiert nicht so schnell vergessen. Wenn sich herausstellte, dass ich die Einzige war, die einen auf bunt machte, würde ich bis zum Ende des Tages bestimmt das Stadtgespräch sein.
Gwen und meine Großmutter Flora waren seit ihrer Kindheit befreundet gewesen, eine Freundschaft, die fast acht Jahrzehnte überspannt hatte. Zu meinem großen Leidwesen waren beide binnen eines halben Jahres gestorben, aber obwohl sie nicht mehr bei mir waren, konnte ich ihre Gegenwart noch immer spüren, zusammen mit ihrer kollektiven Aura der Unzufriedenheit.
Sie hatten nie aufgehört, an mir herumzunörgeln und mir einzutrichtern, ich solle das Beste aus meinen Zwanzigern machen, und als mein Dreißigster auf einmal näher war als meine Jugendjahre, hatten sie noch so richtig eins draufgesetzt. Offenbar war das überschaubare Leben, das ich mir aufgebaut hatte, nicht annähernd ehrgeizig oder aufregend genug für diese beiden Rentnerinnen, die in ihrer Jugend die Welt bereist, wilde Partys gefeiert und rund um den Globus eine Schar eifriger Verehrer hinter sich zurückgelassen hatten. In ihren Augen musste ich meine Ziele höherstecken und deutlich mehr Risiken eingehen.
Gwen war von den beiden das Langzeit-Partymädchen gewesen und nie im konventionellen Sinn sesshaft geworden, Gran hingegen schon. Sie hatte geheiratet, war aus Wynbridge weggezogen und hatte eine Tochter bekommen - meine Mutter. Meine Ankunft kurz nach Mums siebzehntem Geburtstag löste offenbar einen handfesten Skandal aus, aber das war noch gar nichts, verglichen mit dem Klatsch und Tratsch, der ausbrach, als sie entschied, mich in Grans und Grandads Obhut zu geben und nach Los Angeles abzuhauen, um ein Leben zu führen, das aufregender wäre als das, was in Lincolnshire im Angebot war.
Ihr plötzliches Verschwinden war schmerzlich und schockierend gewesen, und in der Folge war mein Leben getrübt von der Unfähigkeit, den Leuten, denen ich begegnete, wirklich zu vertrauen. Meine Großeltern hingegen - wenn auch untröstlich, dass sie den Kontakt zu ihrem einzigen Kind verloren hatten - schafften es trotzdem, das Gute in den Menschen zu sehen, und taten ihr Bestes, um sicherzustellen, dass ich eine glückliche und anregende Kindheit genoss. Unsere alljährlichen Aufenthalte bei Gwen im Cuckoo Cottage in den Fens in Ostengland waren das absolute Highlight meiner Sommerferien.
Diese Reisen hörten zunächst für eine Weile auf, nachdem Grandad gestorben war, und dann endgültig ein paar Jahre später, als Gran einen Schlaganfall erlitt. Aber eines Tages nahm Gwen den Weg auf sich, um uns zu besuchen, mit einer riesigen, staubverkrusteten Reisetasche und ihrem temperamentvollen Terrier Tiny, der später durch die ebenso unberechenbare Minnie ersetzt wurde. Es war einfach unvorstellbar, dass ich diese beiden Frauen, die ich über alles liebte und die bei meiner Erziehung eine solch prägende Rolle gespielt hatten, jetzt für immer verloren hatte.
Trotz der Hitze schauderte ich bei dem Gedanken, wie kläglich ich bislang damit gescheitert war, die Dinge zu erreichen, an denen zu arbeiten ich Gran versprochen hatte. Nur wenige Tage vor ihrem Tod hatte ich feierlich geschworen, eine richtige Karriereplanung in Angriff zu nehmen und meine Ziele höherzustecken, und doch hatte sich jetzt, ein halbes Jahr später, nichts geändert. Ehrlich gesagt hatte ich zu viel Angst, um auch nur den Versuch zu starten.
Nachdem ich es zu spüren bekommen hatte, dass meine Mutter ihre hedonistischen Träume verfolgte, hatte ich es nie gewagt, mir meine eigenen auch nur auszumalen, geschweige denn sie zu leben. Nun aber wurde mir mit einem Ruck bewusst, dass ich völlig allein war und tun und lassen konnte, was immer ich wollte. Wenn ich nur so mutig gewesen wäre und gewusst hätte, was genau ich eigentlich mit meinem Leben anfangen wollte .
»Das ist deine Haltestelle!«, rief der Fahrer über den Lärm des im Leerlauf tuckernden Motors hinweg. »Willst du nicht aussteigen?«
»Doch«, sagte ich, sprang auf und schnappte mir meine Tasche vom Boden. »Entschuldigung, das habe ich gar nicht mitbekommen.«
»Ich hoffe, alles geht gut«, meinte er freundlich, als ich an ihm vorbeiging. »Wenigstens hast du einen schönen Tag für den traurigen Anlass erwischt.«
»Das stimmt«, meinte ich, während die Tür aufging und mir ein Schwall warmer Luft entgegenschlug. »Das hätte ihr gefallen.«
Ich trat auf den Gehsteig, blinzelte in den hellen Sonnenschein und versuchte, mich zu orientieren. Die Zeit drängte, und wenn ich nicht bald ein Taxi fand, das mich zur Kirche brachte, würde ich mich verspäten.
»Lottie!«
Als ich herumschnellte, sah ich einen Mann von der anderen Seite des Marktplatzes auf mich zustürzen. Mein Gehirn brauchte eine Sekunde, um es zu realisieren, aber es war eindeutig Chris Dempster. Gewöhnlich in Jeans und einem karierten Hemd an dem Obst- und Gemüsestand, der seit Generationen im Besitz seiner Familie war, trug er jetzt einen leuchtend blauen Anzug und hatte mit dem größten Luftballonstrauß zu kämpfen, den ich je gesehen hatte. Der Anblick war völlig unerwartet, und ich war froh darüber. Wenigstens einer hatte sich an Gwens letzten Wunsch erinnert, aber da er ein solch enger Freund von ihr gewesen war, hätte ich eigentlich nichts anderes erwarten sollen.
»Du hast es geschafft!«, rief er. »Du liebe Güte, sieh dich einer an. Es muss ja eine Ewigkeit .« Er stockte. »Na ja, ich kann mich nicht genau erinnern, aber es ist auf jeden Fall eine ganze Weile her, dass wir uns gesehen haben. Gewachsen bist du aber nicht, was, Liebes?«, neckte er mich, während er allmählich seine Fassung wiedergewann. »Geht es dir gut?«
Ich schluckte schwer in dem Wissen, ihm nicht in Erinnerung rufen zu müssen, dass wir uns das letzte Mal bei der Beerdigung seines ältesten Sohnes Shaun gesehen hatten, der bei einem tragischen Motorradunfall ums Leben gekommen war. Ich beschwor mich, nicht zu weinen, und war auch ein bisschen erleichtert, dass er mich entdeckt hatte,...
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