Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Vor der Scheune standen zwei Rettungswagen mit Blaulicht. Warum zwei?, wunderte sich Carl. Hatte die Brutalität, mit der die Tat begangen worden war, den Mitarbeiter der Notrufzentrale so aufgewühlt, dass er gleich mehrere Krankenwagen geschickt hatte? Auf jeden Fall ein Fehler, dachte er.
Außerdem war es nichts besonders schade um Holst. Es gab bestimmt viele, die der Meinung waren, er hätte bekommen, was er verdiente. Carl bildete da keine Ausnahme.
Nach seinem Gespräch mit dem Bauern war er zur Scheune zurückgefahren. Georg Olsson hatte nicht mehr zu sagen gehabt als das, was er bereits dem jungen Polizeiassistenten von Stockholm-Nord erzählt hatte, dem Unglücksraben, der sich übergeben hatte.
Am Morgen war er mit dem Traktor zur Scheune gefahren, um seine Sämaschine zu holen. Das Vorhängeschloss am Tor war aufgebrochen gewesen. Er hatte einen Einbruch vermutet, aber stattdessen den Mann gefunden, der seinen Worten nach «wie eine Vogelscheuche» an der Scheunenwand hing. Und nein, davor war ihm nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Keine Autos, keine Menschen.
«Die letzten Tage war ich meistens auf dem Feld», hatte er entschuldigend gesagt.
«Sie haben niemanden auf dem Zufahrtsweg zur Scheune gesehen? Oder auf den Straßen in der Umgebung? Jemanden, den Sie nicht kennen?»
Olsson hatte ein Snus-Beutelchen unter seiner Lippe hervorgepult, es in den Mülleimer geworfen und sich den Finger sorgfältig mit einem sauberen weißen Taschentuch abgewischt.
«Ich würde Ihnen ja gerne helfen, aber um diese Jahreszeit hab ich ziemlich viel um die Ohren, ich schau nur auf meine Felder. Ich bekomme ja nicht mal mit, wenn meine Frau an mir vorbeifährt.»
Carl hatte Verständnis dafür geäußert und sich verabschiedet. Jetzt lehnte er an seinem Auto und beobachtete den hektischen Betrieb auf dem Scheunenvorplatz, während er zu begreifen versuchte, wie Holst überhaupt noch am Leben sein konnte. Er hatte ihn gesehen - Holst war zweifellos tot gewesen. Und nun lag er dadrinnen, umringt von einem Notarztteam, das alles daransetzte, um ihn zu retten.
Als Carl durch das Scheunentor spähte, kamen zwei Sanitäterinnen heraus und gingen zu ihrem Rettungswagen. Er folgte ihnen.
«Wie geht es ihm?», fragte er.
Eine der beiden drehte sich um.
«Ich habe noch nie etwas Schlimmeres gesehen», sagte sie.
Ihr Gesicht kam Carl merkwürdig ausdruckslos vor, als stünde sie unter Schock.
«Kommt er durch?», fragte er.
«Wenn er Glück hat .»
Die Frau stieg ein und schloss die Wagentür. Als der Rettungswagen langsam vom Hof fuhr, gab er den Blick auf einen dahinter parkenden schwarzen Mercedes-Kombi frei. Carl erkannte das Auto, es gehörte der Rechtsmedizinerin.
Sie hieß Cecilia Abrahamsson und war gerufen worden, um eine erste Leichenschau durchzuführen und den Totenschein auszustellen. Jetzt konnte sie nur danebenstehen und zusehen, wie die Sanitäter ihr Bestes gaben, um Marco Holst zu retten. Erst wenn das gelungen war, würde sie eine Einschätzung seiner Verletzungen aus kriminalistisch-juristischer Sicht vornehmen.
Und diese Einschätzung war es, die Carl interessierte.
Während er wartete, schritt er den Vorplatz der Scheune ab und vermaß ihn: zweiundzwanzig Schritte in der Länge, einunddreißig in der Breite.
Das Messen, Ordnen und Kategorisieren von Dingen und Sachverhalten gehörte zu seinen Gewohnheiten. Carl betrachtete das weit geöffnete Scheunentor. Es war fast vier Meter hoch und breit genug für große Landwirtschaftsmaschinen, dachte er. Ein perfekter Ort für ein Verbrechen - abgesehen von der Tatsache, dass der Bauer den Mann noch am selben Morgen entdeckt hatte.
Carl fragte sich, ob der Täter Marco Holst absichtlich hatte überleben lassen, ob er die Schwere der Verletzungen genau kalkuliert hatte, damit er nicht starb. Doch dieser Gedanke war so beunruhigend, dass sich alles in ihm dagegen sträubte.
Ein schepperndes Geräusch ließ ihn aufblicken. Holst wurde auf einer Trage aus der Scheune gerollt. Carl machte einen Schritt zur Seite, sah, wie der Tropf über dem verstümmelten Körper hin und her schwankte, betrachtete das verzerrte Gesicht, die blutverkrusteten blonden Haare.
Marco Holst konnte nur durch Zufall überlebt haben. Denn nun gab es einen Zeugen.
Als die Sanitäter die Trage in den Krankenwagen schoben, trat die Rechtsmedizinerin ins Freie.
Carl ging auf sie zu.
«Hallo», sagte er. Wie gewöhnlich fühlte er sich in Cecilia Abrahamssons Anwesenheit unbeholfen.
Sie war groß, fit und sehr . erwachsen. Ihm fiel keine bessere Beschreibung ein. Sie sprach in einem herablassenden, selbstbewussten Ton und auf die typisch überlegene Art, die erfahrene Mediziner häufig an den Tag legten. Sie strahlte eine Autorität aus, die ihm das Gefühl gab, klein zu sein.
Vielleicht lag es aber auch an ihrer High-Society-Ausstrahlung, dieser selbstverständlichen, natürlichen Überheblichkeit, die daher rührte, niemals gezwungen gewesen zu sein, Kompromisse einzugehen oder auf irgendetwas zu verzichten, nicht einmal als Kind.
Außerdem hatte sie sich das Gesicht mehrfach liften lassen, sodass es Carl Schwierigkeiten bereitete, ihre Mimik zu deuten oder ihr Alter zu schätzen. Sie konnte ebenso gut auf die sechzig zugehen wie kürzlich dreißig geworden sein. Beim Reden spannte sich ihre Haut unnatürlich über die Wangen und um ihre blauen Augen herum, ihr Blick erinnerte ihn an eine Eidechse. Wenn sie lächelte, machten ihre Lippen nicht richtig mit, als würden sie sich widersetzen. Vielleicht gehörte es in ihren Kreisen zum guten Ton, das Älterwerden nicht zu akzeptieren, er wusste es nicht.
Carl vermied es, ihr ins Gesicht zu sehen, aus Angst, beim Starren erwischt zu werden.
«Wann kann ich mit ihm sprechen?», sagte er und richtete seinen Blick auf den weißen Kragen ihrer eleganten schwarzen Bluse.
Die Rechtsmedizinerin schritt an ihm vorbei, als würde sie ihn nicht bemerken.
«Das kannst du nicht», erwiderte sie, ohne sich umzudrehen, während sie auf ihren Wagen zuging. «Man hat ihm die Zunge abgeschnitten, ganz hinten an der Wurzel. Er wird nie wieder sprechen können. Und das ist nicht das Einzige, was er nie wieder tun kann.»
Carl folgte ihr.
«Warte», sagte er.
Ohne zu antworten, öffnete sie die Fahrertür und stieg ein. Carl öffnete die Beifahrertür und setzte sich neben sie. Der schwarze Lederbezug knarzte, und er fragte sich, wie viel man wohl verdienen musste, um sich eine schwarze Mercedes-Lederausstattung leisten zu können.
«Er wird also nicht mehr sprechen können?», sagte er.
«Nein», bestätigte sie. «Er wird auch seine Hände nicht mehr benutzen können. Man hat ihm die Finger abgeschnitten. Alle. Oberhalb der Gelenke.»
Fast so, als hätten wir doch keinen Zeugen, dachte Carl.
«Was noch?», fragte er.
«Vermutlich hat er eine Kieferfraktur, die beim Abschneiden der Zunge verursacht wurde, aber das wird man beim Röntgen feststellen. Abgesehen von den Fingern hat man ihm die Genitalien abgetrennt, mit einem scharfen, sauberen Schnitt an der Peniswurzel. Auch das Skrotum wurde vollständig entfernt.»
Cecilia lehnte den Kopf an die Nackenstütze und starrte an die Decke. Sie sah erschöpft aus. Ihre Augen waren halb geschlossen.
«Seine Hoden», erklärte sie mit gedämpfter Stimme.
Carl nickte. Er wusste, was Skrotum bedeutete.
«Er hätte innerhalb einer Stunde verbluten müssen», fuhr sie fort. «Aber der Täter hat wahrscheinlich ein erhitztes Messer benutzt, dadurch wurde die Blutung teilweise gehemmt.»
Carl zog die Augenbrauen hoch.
«Der Täter wollte also, dass er lebt?»
Sie zuckte mit den Schultern.
«Über mögliche Motive will ich nicht spekulieren. Ich kann nur Fakten nennen.»
Carl nickte. Er hatte seinen Notizblock hervorgeholt und schrieb.
Die Rechtsmedizinerin warf ihm einen missbilligenden Blick zu, ehe sie fortfuhr:
«Er wurde an der Wand festgenagelt, wie du vielleicht selbst bemerkt hast. Robuste Nägel, direkt durch seine Handgelenke und Füße, bis in die Holzbalken hinein. Es erfordert enorm viel Kraft, Gewebe und Skelettteile zu durchdringen. Dennoch ist der Bereich um die Löcher herum nicht beschädigt.»
«Was bedeutet das deiner Meinung nach?», fragte Carl, ohne von seinem Notizblock aufzusehen.
«Ich schicke dir den Bericht, sobald ich Holst gründlich untersucht habe. Das sind lediglich erste Einschätzungen.»
Carl blickte auf und lächelte entschuldigend.
«Ich mache mir trotzdem gern Notizen. Ich kann mich dann besser an Details erinnern.»
«Der Täter hat möglicherweise eine Nagelpistole benutzt», fuhr Cecilia fort. «Etwas in der Art könnte saubere Verletzungen wie diese verursachen.»
«Lars-Erik hat dieselbe Vermutung geäußert .»
Der Rechtsmedizinerin gelang es nicht, ihren Unmut über die Unterbrechung zu verbergen.
«Trotz der Kauterisation hat der Mann eine große Menge Blut verloren .»
«Kauter.?»
«Das erhitzte Messer», erklärte sie. «Eure Kriminaltechniker werden sicherlich mehr dazu sagen können.»
Carl machte sich Notizen. Sie wartete, bis er fertig war, warf jedoch ungeduldige Blicke auf ihre Armbanduhr, eine Rolex.
«Die Verstümmelungen wurden sehr präzise ausgeführt. Ich nehme an, dass der Täter eine gewisse Übung im Umgang mit Schneidewerkzeugen besitzt und über grundlegende chirurgische Kenntnisse verfügt. Ein Militärangehöriger, jemand mit medizinischem Hintergrund, vielleicht ein Schlachter oder...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.