Schweitzer Fachinformationen
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Prolog
Er sitzt in einem gelben VW-Bus, der nach Schweiß, Farbe und etwas anderem, Unbestimmbaren riecht. Vielleicht stammt der Geruch vom Kaffeebecher auf dem Armaturenbrett oder von den Tabakkrümeln auf dem Beifahrersitz. Oder vom Gips und den Pinseln auf dem Rücksitz, die er im Eisenwarenladen in der Folkungagatan gekauft hat. Oder vom Werkzeug und dem Tapeziertisch ganz hinten, von Dingen, die sich noch in dem verdammten Lagerraum befanden, den sie angemietet hatte. Vier Jahre lang hatten diese Dinge neben seinen Kleidern und dem Bett gestanden, das früher die eine Hälfte ihres gemeinsamen Doppelbetts ausgemacht hat.
Danach riecht es.
Nach Keller, Aufbewahrung, vergangener Zeit.
Die Sonne knallt auf das Seitenfenster, das von einem Film aus Fliegenleichen und Staub überzogen ist. Eine seltsame Hitze, die aus dem Nichts zu kommen scheint. Er kurbelt das Fenster runter, doch statt kühler Luft dringt nur noch mehr Hitze ins Auto. Bruchstücke eines Telefongesprächs schwirren in seinem Kopf herum.
»Ich bin's.«
»Das höre ich.«
»Wie geht es dir, mein Junge? Alles in Ordnung? Ist wirklich alles in Ordnung?«
Drei Autostunden von Stockholm entfernt. Eine Kleinstadt umringt von Industriegebieten und Nadelwäldern. Seit dem frühen Nachmittag hat er das Wohnviertel mit einem Konsum-Supermarkt, einer Imbissbude und einem Fußballplatz langsam umkreist. Sein Ziel ist ein dreistöckiges Mietshaus aus rotem Backstein, in dem er noch nie gewesen ist.
»Alles okay.«
»Was macht ihr?«
»Nicht viel . gleich gibt's Essen, Mama kocht gerade.«
Nachdem er die Großstadt hinter sich gelassen hatte, waren die Straßen immer schmaler geworden. Es war eine Fahrt durch einen Teil Schwedens, in dem er lange nicht mehr gewesen war. Er hielt an einer Tankstelle am Stadtrand, drehte sich eine Zigarette, zog die Tür der Telefonzelle hinter sich zu und wählte die Nummer, die er auswendig konnte. Sie hob ab, verstummte und reichte den Hörer an ihren ältesten Sohn weiter.
»Und deine Brüder, Leo? Wie geht es denen?«
»Wie immer.«
»Und alle sind zu Hause?«
»Ja, alle sind hier.«
Die letzten Kilometer fuhr er langsam, an der Kirche, an der alten Schule, am Hauptplatz vorbei, wo sich Sonnenanbeter an den Strahlen wärmten, die bald Wolken und Gewitter weichen würden - es herrschte eine drückende Hitze.
»Kannst du den Hörer mal an Felix weitergeben?«
»Du weißt doch, dass er nicht mit dir reden will.«
Er hat sein Auto vor dem dreistöckigen Haus geparkt und starrt auf die Haustür, die zurückzustarren scheint.
»Ich dachte nur . Und Vincent?«
»Er spielt.«
»Mit Lego?«
»Nein, er .«
»Mit seinen Spielzeugsoldaten? Erzähl, was macht er?«
»Er liest. Das mit den Soldaten ist lange her, Papa.«
Das Fenster ganz oben rechts, das muss die Wohnung sein, die ihm sein Vierzehnjähriger so oft beschrieben hat, dass er sie zu kennen meint. Die Küche gleich links, wenn man hineinkommt, der runde braune Tisch mit vier statt fünf Stühlen, geradeaus das Wohnzimmer, eine Tür mit Milchglasscheibe, durch die man nicht hindurchschauen kann. Rechts befindet sich ihr Schlafzimmer mit der anderen Hälfte des Doppelbetts, die sie behalten hat, dahinter die Kinderzimmer - wie damals, als sie noch zusammenwohnten.
»Und du?«
»Ich habe .«
»Was machst du gerade, Papa?«
»Ich bin auf dem Weg nach Hause.«
Eine Fünfzimmerwohnung hat ihre ganz eigenen Geräusche. Wenn Mama den Wasserhahn in der Küche aufdreht, ist ein dumpfes Dröhnen zu hören, das auf das metallische Klappern der Besteckschublade und das Klirren des Geschirrschranks prallt. Diese Geräusche kämpfen gegen den Fernseher im Wohnzimmer an. Felix sitzt auf dem Ecksofa und sieht sich kreischende Zeichentrickfiguren an. Aus Leos riesigen Boxen dröhnt Musik, und aus Vincents Walkman-Kopfhörer, der ihm schräg auf dem Kopf sitzt, erklingt eine tiefe Männerstimme, die ein Märchen vorliest. Geräusche, die aufeinandertreffen, sich verflechten und schließlich miteinander verschmelzen.
Die Spaghetti sind fertig, und die Hackfleischsoße ist heiß.
Mama nimmt Vincent den Kopfhörer ab und flüstert ihm »Essen ist fertig!« ins Ohr. Vincent rennt durch die Diele und ruft: »Essen!« Dann noch einmal: »Essen, Essen!«
Der Fernseher wird ausgeschaltet, die Musik verstummt.
Es ist beinahe vollkommen still, als sie sich gleichzeitig auf den Küchentisch zubewegen. Da stört ein Geräusch, mischt sich ein: Es klingelt an der Tür.
Vincent ist bereits auf dem Weg in die Diele.
»Ich mach auf.«
Felix läuft am Fernseher vorbei auf die Wohnungstür zu.
Sie rennen, liefern sich einen Wettkampf, Vincent, der der Tür am nächsten war, ist als Erster dort, doch es gelingt ihm nicht, das Schloss zu öffnen. Felix steht nur einen Schritt hinter ihm, schiebt Vincents Hand beiseite, beugt sich vor und schaut durch den Spion. Leo sieht, wie Vincent erneut zu öffnen versucht, während Felix zurückweicht und sich umdreht. Ihm steht jene Angst ins Gesicht geschrieben, die schon jahrelang nicht mehr darin zu sehen war.
»Was ist?«
Felix nickt in Richtung Tür.
»Da.«
»Was . da?«
Es klingelt erneut, diesmal länger. Leo geht auf die Wohnungstür zu. Vincent springt hoch, um zu öffnen, doch Felix weigert sich, die Klinke loszulassen.
»Felix, Vincent, macht Platz. Ich öffne.«
Hinterher wird sie nicht mehr wissen, ob sie sich wirklich umgedreht hat, ob sie noch die Zeit hatte zu fragen, warum die Kinder vollkommen reglos dastanden, ob sie sich diese Stille eigentlich nur eingebildet hat. Später wird sie sich nur noch an sein lockiges Haar erinnern, das länger geworden war, und an seinen Atem, der nicht mehr nach Rotwein roch.
Und an die Tatsache, dass er sie schlug, aber nicht so wie früher.
Denn wenn er zu fest zugeschlagen hätte, wäre sie einfach umgefallen, und er will ihr in die Augen schauen, während er sie zerstört, wie man jemandem in die Augen schaut, der einen einfach nicht beachtet und den Telefonhörer an den ältesten Sohn weitergibt. Sie soll ihn während ihrer ersten Berührung nach vier Jahren ansehen.
Als Erstes trifft seine rechte Faust ihre linke Wange, dann wandert seine Hand in ihren Nacken, packt zu und dreht ihren Kopf, bis sie sich ansehen. Mit dem zweiten, dritten und vierten Schlag ist es genau umgekehrt: die Knöchel der Linken auf die rechte Wange, Schau mich an, kurze, kräftige Schläge, und sie reißt ihre Arme hoch, um sich zu schützen, die spitzen Ellbogen formen einen Helm aus Haut und Knochen.
Eine Hand in ihrem Nacken, die andere in ihrem Haar. Er zwingt sie stehen zu bleiben, obwohl sie sich schwer macht, nach unten will, sich hinlegen, sich schützen. Dann drückt er ihr Gesicht nach unten und schiebt sein Knie hoch. Spür mich. Er rammt ihr das Knie ins Gesicht. Spür mich. Und gleich noch mal. Spür mich.
Diese verdammte Stille. Leo versteht sie nicht. Deshalb dauert es auch so lange, ehe er reagiert.
Papa schlägt Mama mit seinen Fäusten wie mit einer Peitsche ins Gesicht. Er lässt sich Zeit und ist ganz leise. Früher war es immer zu hören, wenn Papa zuschlug. Papa ist Papa und zugleich jemand anderes. Und Mama schreit nicht. Vincent versteckt sich hinter seinem Rücken, und Felix steht immer noch neben der Wohnungstür.
Sie sind noch nicht gleich groß, sonst wäre Leo seinem Vater nicht auf den Rücken gesprungen. Er springt, nachdem Papa sein Knie in Position gebracht hat und Leo begreift, dass er dieses Mal erst aufhören wird, wenn Mama tot ist. Er hängt auf seinem Rücken und schlingt ihm seine Arme um den Hals, bis Papa zupackt und Leo wegreißt.
In diesem Moment müssen Papas Hände Mamas Kopf loslassen.
Leo fällt zu Boden, und Mama taumelt ein paar Schritte zur Seite. Sie schützt ihr stark blutendes Gesicht mit den Armen. Am meisten blutet es am Wangenknochen, den Papas Knöchel erwischt haben. Papa folgt ihr, packt sie nochmals, derselbe Griff wie vorher - sie soll ihn ansehen, während er sie schlägt.
Noch ein Schlag. Eine harte Faust auf Nase und Mund.
Aber nur einer, denn dann richtet sich Leo auf, schiebt sich zwischen sie und hebt seine Hände.
Nein, Papa.
Er befindet sich in einem Vakuum zwischen seiner blutenden Mama und seinem Papa, der wieder zuschlagen will, aber nicht kann, weil ein anderes Gesicht im Weg ist.
Leo hält ihn umklammert.
Nicht seinen Hals, dafür ist Papa zu groß, auch nicht seine Arme, weil er nicht richtig an sie rankommt, aber er umfasst seine Taille und ein Stück vom Brustkorb.
Seine Füße rutschen über den Küchenboden, seine Strümpfe finden keinen Halt, und er stemmt sich gegen das Tischbein und versucht Papa mit zärtlicher Gewalt wegzuschieben. Mit Mühe bringt er ihn dazu, ihr Haar loszulassen.
Mama rennt aus der Küche und zur Wohnungstür, die sperrangelweit offen steht. Sie rutscht auf dem glatten Steinboden des...
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