Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
ES SPIELTE KEINE ROLLE, DASS es nicht schön war. Das Gebäude an sich beispielsweise, wie es grau vor dem Grau schwankte, als wäre es eins mit dem Himmel. Die Vögel schienen das auch zu glauben, denn sie knallten jeden Tag gegen die Betonfassade und rieselten wie Schnee zu Boden, puderzuckergleich in ihrem zerrissenen Federkleid.
Es war später am selben Nachmittag, und Sebastian stand in seinem Büro, die Stirn ans Fenster gelehnt. Er dachte, er würde sich schon noch daran gewöhnen - an den Vogeltod, den Schreckenslaut, das Geräusch der durch die Luft sausenden Körper, die das menschliche Ohr gar nicht rechtzeitig erfassen konnte, ehe der Schlag kam, der alles beendende Schlag. Die Identifikation mit dem Vogel, die allumfassend war, weil die Empfindungen von berauschender Freiheit und lähmender Trauer den Menschen gleichzeitig erreichten und gemeinsam alles auslösten, was das Gefühlsspektrum überhaupt bereithielt. Er würde sich daran gewöhnen, dachte er, denn das tut man ja. Sich gewöhnen. Man konnte sich an fast alles gewöhnen, den Geschmack von Spinat, den Geschmack von Freiheit und Verlust. Den Geschmack von Untergang. Dies war, kurz gesagt, eine Konsequenz der Plastizität unseres Gehirns.
Es spielte keine Rolle, dass es nicht schön war, dachte er nüchtern und schrieb einen Namen auf die von seinem Atem beschlagene Scheibe; weil das, was schön war, nie lange währte. Daran erinnerten ihn die Vögel: Wie kurz alles war, wie schnell alles, was man aufgebaut hatte, eingerissen werden konnte. Bang, und die Federn in die Luft, wie wenn ein Sack Mehl auf den Boden geworfen wurde. Und später, in der Dämmerung, kamen Männer und Frauen in orangefarbenen Westen und fegten die Spuren vom Bürgersteig, und das Leben wurde an anderer Stelle wiedergeboren, Laub raschelte unter Kinderfüßen in Gummistiefeln, die Frühstücksschlange vor dem Sandwichladen an der Ecke bewegte sich ruckartig voran, und ein neuer Arbeitstag am Institut begann.
Nein, in diesem Zusammenhang spielte es keine Rolle, dass das Haus, in dem er sich jeden Tag zwischen neun und fünf aufhielt, dieselbe Farbe hatte wie das bleiche Antlitz des Todes. Immerhin gab es eine Tischtennisplatte im Keller und eine Klimt-Reproduktion in der Mitarbeiterkantine. Es gab Affen und Fische, Bandwürmer und alzheimerkranke Amphibien mit einem Hirngewebe wie knisterndes Zellophan; alles innerhalb der uneinnehmbaren Mauern des Hauses. Es gab Stammzellen. Es gab Arbeit, die organisiert war wie in Terrorzellen. Es gab das Einzige, was die Forschung, genau wie das Leben, wirklich brauchte: eine Vorwärtsbewegung, eine Kreisbewegung, irgendeine Art von Bewegung, an die der Tod nicht heranreichte. Das war es, was er wollte, dachte Sebastian, und selbst wenn es nicht so war, war es zumindest das, was er brauchte.
Mehr als drei Wochen waren vergangen, seit Sebastian, frisch disputiert und gefühlsmäßig amputiert, das Institut für Neurowissenschaften an der Universität Lund verlassen hatte, um diese Juniorstelle am London Institute of Cognitive Science anzutreten. Drei Wochen, die jedoch ausgedehnt waren wie Gummibänder, zum Zerreißen gespannt, jede Sekunde voller Bedeutung - und doch vollkommen bedeutungslos. Drei Wochen und ein Ozean aus niedrigschwelliger Angst, voller Untiefen und Klippen. Auf seinen schmalen Schultern lastete eine so große Verantwortung, dass er sich unter dem Gewicht bog, und zugleich wuchs er daran. Dabei war er ohnehin schon groß, 187 Zentimeter und schön wie Susanna im Bade. Letzteres laut seiner Mutter, der Pfarrerin. Auch andere Menschen fanden Sebastian ansehnlich, aber davon hatten sie nichts. Sebastian war aus mehreren Gründen nach London gekommen, doch nur einer trug den Namen einer Frau, und dieser Name war buchstäblich in Stein gemeißelt.
Mit einem inneren Seufzer wandte sich Sebastian vom Fenster ab und ging zurück zu seinem Schreibtisch, wo ihn zwischen dem Stapel mit halbfertigen Anamnesen seine offizielle Beförderung anstarrte. Ganz zufrieden war er nicht über seinen Karrieresprung. Es war schon anstrengend genug, sich um die Gespräche mit den Hilfesuchenden zu kümmern. Tatsächlich Verantwortung für sie zu übernehmen war garantiert mehr, als er verkraften konnte.
Zu dem gigantischen und sehr diffusen Forschungsprojekt, an dem Sebastian beteiligt war, gehörte auch eine umfassende, ständig wachsende Gruppe Freiwilliger - von denen die meisten in irgendeiner Form krank waren -, die interviewt, beurteilt und anschließend gründlich untersucht wurden, mittels fMRI wie auch einer persönlich auf sie abgestimmten, experimentellen Testbatterie. Als Neuzugang des Instituts und noch dazu als einer der Jüngsten fiel Sebastian die Aufgabe zu, die einleitenden diagnostischen Gespräche mit den hoffnungsvollen Versuchsobjekten zu führen. Wobei, das stimmte nicht ganz, die allererste Sichtung der Freiwilligen übernahm Benedict Katz, ein stinknormaler Psychologe mit rudimentären Kenntnissen der Neurowissenschaft. Wie Sebastian dem Gespräch mit seinem Mentor Barázza entnommen hatte, beruhte das auf der Einschätzung der Führungsetage, dass diese Arbeit zunächst nur eine Sortierungstätigkeit wie am Fließband sei, bei der die lediglich Mitteilungsbedürftigen von den wahren neurologisch Geschädigten getrennt und schließlich abgewimmelt wurden. An diesem Forschungsinstitut brauchte man keine Menschen, die lediglich Bedarf an einer Gesprächstherapie hatten, man suchte defekte Gehirne, phantastische Gehirne, Gehirne, deren abweichendes Verhalten Lichtjahre entfernt lag von dem, wozu unser Standardgehirn in der Lage war.
Dies bedeutete, dass Sebastian, erst nachdem Benedict ca. 95 Prozent der Bewerber aussortiert hatte, die verbleibenden 5 Prozent zu einem ersten diagnostischen Interview traf. Das war vollkommen neu für Sebastian, der bisher einen gehörigen Abstand zu der zwischenmenschlichen Dimension gehalten hatte, die sich mitunter selbst in den härtesten Naturwissenschaften offenbarte. Natürlich hatte es eine Zeit gegeben, in der Sebastian, wie jeder andere Junge aus Lund auch, davon geträumt hatte, Arzt zu werden - ein Traum, den er in seiner frühen Jugend entwickelt und mit derselben blinden Verzweiflung gehegt und gepflegt hatte, mit der man eine Pflanze gießt, deren Wurzelstock längst vertrocknet ist. Erst als er eine Folge der Ende der nuller Jahre ungeheuer populären Fernsehserie Grey's Anatomy gesehen hatte, war ihm klar geworden, dass der Arztberuf, so wie er sich im zwanzigsten Jahrhundert weiterentwickelt hatte, ebenso sehr eine seelsorgerische wie eine diagnostische Tätigkeit war. Und Sebastian wollte seine Arbeitszeit nicht mit Seelsorge verbringen, das hatte er schon als Siebzehnjähriger gewusst - davon hatte er in seinem Privatleben schon mehr als genug, mit einer Schwester, die eine Dauerkarte für die Kinder- und Jugendpsychiatrie hatte, und einer anderen Schwester, die sich sogar vor ihrem eigenen Schatten fürchtete, und einer Freundin, die darauf beharrte, nur an bestimmten Tagen etwas zu essen. Er wollte keine besorgten Angehörigen trösten, weil er selbst ein besorgter Angehöriger mit Trostbedürfnis war.
Also entschied er sich für einen anderen Weg. Anstelle der Hirnchirurgie würde er sich der Hirnforschung widmen. In jeder anderen schwedischen Stadt wäre er vermutlich für seinen neuen Traumberuf ausgelacht worden - einen Phantasieberuf; er hätte genauso gut Astronaut, Löwenbändiger oder investigativer Journalist werden können. Aber Lund war anders: eine Gelehrtenstadt, eine Wissenschaftsstadt, eine Stadt der Prätentionen und pensionierten Professoren, eine Stadt, in der Akademikersöhne und -töchter Waffeln auf dem Dach des Observatoriums aßen oder in Laubhaufen unter Platanen lagen, ihre Gesichter gegenseitig in ihre weichen Norwegerpullover schmiegten und flüsterten: »Wenn wir das Abi haben, werde ich Hirnforscher und du Dichterin, wir werden Kinder und Hunde und einen Ehrendoktor haben, und uns wird nie etwas Böses zustoßen, solange wir auf der richtigen Seite der Eisenbahnschienen wohnen.« So etwas flüsterten die jungen Leute und ernteten weder Hohngelächter noch eine Klassenanalyse, sondern lediglich ein sanftes Lächeln, eine Fingerspitze an der Wange des anderen und ein heiseres, aber klangvolles: »Sebastian, ich glaube, ich liebe dich.«
Mit anderen Worten: Sebastians Umgebung unterstützte ihn bei seiner neuen Berufswahl, vor allem die Mutter und der Vater, denn seine Schwestern waren weitaus weniger ehrgeizige Naturen - von Sebastians Horizont aus hatte es so gewirkt, als hätten Clara und Matilda ihre gemeinsamen Jugendjahre vor allem damit zugebracht, sich wegzusehnen, und diese Energie hätten sie Sebastians Meinung nach besser für den Versuch eingesetzt, tatsächlich wegzukommen, wenn sie es denn wollten (und früher oder später war es ihnen auch gelungen - Matilda hatte sich nach einigen Jahren als Entwicklungshelferin in Bangladesch schließlich in Berlin niedergelassen, und Clara wohnte schon lange in Stockholm). Er selbst hatte nichts lieber gewollt, als für den Rest seines Lebens in Lund zu bleiben. Halbwegs erfolgreich in seinem Beruf zu werden, zu heiraten, eigene, altkluge Kinder zu bekommen.
Aber dann kam alles anders, nachdem das, was passiert war, passiert war.
Es ist allgemein bekannt, dass traumatische Erlebnisse die innere Landschaft, das Spinnennetz aller Impulse und Emotionen des Gehirns, grundlegend neu zeichnen können. Sebastian wusste, dass das, was ihm widerfahren war, zu jenen Lebensereignissen gehörte, die das Gehirn wie Dynamit in Stücke sprengten und danach verlangten, dass man es mühsam wieder zusammensetzte. Die meisten widmeten ihre Trauerjahre dem Versuch, den Menschen wiederaufzubauen,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.