Schweitzer Fachinformationen
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Anders Rask saß in einem Aufenthaltsraum. Sie sahen ihn im Profil vor einer riesigen Fensterfront, die zum Freigelände hinausging. Er trug einen lila Cardigan und hatte sich eine Wolldecke über die Beine gelegt, als wollte er die Tatsache vertuschen, dass er nicht mehr laufen konnte.
»Jetzt ist er da, Anders«, sagte Gundersen und ging zu dem Sofa, das rechts neben Rask stand.
Tommy musterte den Mann, der sechs Morde an Mädchen und jungen Frauen gestanden und später dann widerrufen hatte. Der einzige Mann in Norwegen, der Jon-Olav Farberg gut genug kannte, um dessen Handlungen zu verstehen.
Tommy hatte zweimal mit Farbergs Exfrau Anne-Britt gesprochen. Sie war sich vollkommen sicher gewesen, dass ihr Mann so etwas niemals hätte tun können. Aber das sagten alle Ehepartner oder Lebensgefährten, wenn sie erfuhren, dass ihr Partner ein Mörder war. In Farbergs Fall ein regelrechter Schlachter.
»Tommy will bestimmt mit mir allein sein«, sagte Rask und drehte den Rollstuhl zur Fensterfront, weg von Tommy und dem Anwalt. »Hab ich recht, Tommy?«
Tommy sah zu Gundersen hinüber, der eine Grimasse schnitt, ein paar Sekunden nachdachte und dann den Raum verließ.
Rask blieb mit dem Rücken zu Tommy sitzen und sah aus dem Fenster. Nebel, Regen und zunehmende Dämmerung.
»Jetzt habe ich wenigstens die Aussicht, die Arne Furuberget mir in Ringvoll nie zugestanden hat«, sagte Rask leise. »Nur schade, dass ich die heute Abend nicht mit Ihnen teilen kann.«
Tommy nahm auf dem Sofa Platz, auf dem Gundersen gesessen hatte, und legte die Unterlagen neben sich ab. Das leise Rascheln ließ Rask den Rollstuhl umdrehen.
Er nahm die Hornbrille ab und klappte sie zusammen.
Tommy dachte, dass er sich gut gehalten hatte: Er sah jünger aus als Tommy, und das, obwohl er elf Jahre in Ringvoll eingesessen hatte und auf der Flucht dann auch noch von einem Beamten in Trondheim in den Rücken geschossen worden war.
»Kristiane wäre heute zweiunddreißig«, sagte Rask und starrte seitlich von Tommy in die Luft.
Tommy sagte nichts. Für Kristiane Thorstensen kam die Rettung mehr als sechzehn Jahre zu spät. Aber vielleicht konnte er ja einem anderen Mädchen helfen, so dass es die Chance bekam, zweiunddreißig zu werden.
Er holte die Akten des Amanda-Falls hervor.
»Ich will Ihnen keine Lügen auftischen«, sagte Tommy. »Der Grund, weshalb ich heute hier bei Ihnen bin, ist dieses Mädchen hier.«
Er stand auf, reichte Anders Rask die Papiere und setzte sich wieder auf das Sofa.
»Ich glaube, Jon-Olav Farberg hat sie«, sagte Tommy.
Rask hielt die Brille noch immer in der Hand und machte keine Anstalten, einen Blick in die Unterlagen zu werfen.
Eine Zeitung lag aufgeschlagen neben ihm auf dem Tisch. Aftenposten. Internationales. Tommy versuchte zu lesen, aber es war zu dunkel, außerdem stand die Schrift von ihm aus gesehen auf dem Kopf. Er bemerkte aber, dass die Ausgabe schon ein paar Tage alt war.
»Jon-Olav ist tot«, sagte Rask. »Ich gehe davon aus, dass Sie bei seiner Beerdigung waren. Polizisten lieben doch solche Beerdigungen.«
Tommy gab nur ein verächtliches Schnauben von sich. Seit Farbergs vermeintlichem Tod waren vier Monate vergangen, doch die DNA-Analyse der verkohlten Leiche aus dem Ofen in Nydalen war angeblich noch immer nicht abgeschlossen. Er hatte den Verdacht, dass Oberstaatsanwalt Svein Finneland die Ergebnisse des Institutes in Tuzla unter Verschluss hielt. Die Analyse konnte unmöglich so lange dauern. Und wenn der Tote wirklich Jon-Olav Farberg war, gäbe es keinen Grund, diese Information nicht bekanntzumachen.
»Ich werde Ihnen etwas sagen, was niemand sonst weiß«, sagte Tommy. Ihm war bewusst, dass er an seinem persönlichen Tiefpunkt angelangt war, wenn er einen Mann wie Anders Rask ins Vertrauen ziehen und ihm glauben musste.
»Jon-Olav Farberg war vor Weihnachten in Lillehammer. Als ihn alle für tot hielten, war er mit einem Lieferwagen auf dem Hof Suttestad. Was, glauben Sie, war in diesem Lieferwagen, Anders?«
Tommys Worte schienen Rask vollkommen kaltzulassen. Er setzte sich die Brille auf die Nase und warf einen Blick auf die Papiere.
»Hübsches Mädchen«, sagte er. »Wirklich hübsch, finden Sie nicht auch? Was meinen Sie, Tommy, wie sieht sie wohl ohne Kleider aus? So kleine, feste Brüste haben sie nur in diesem Alter. Und wie empfindsam die sind.« Ein Lächeln zuckte über Rasks Lippen.
Tommy dachte, dass er Rask am liebsten selbst eine Kugel ins Rückgrat gejagt hätte, aber wenn er sich provozieren ließ, war der Besuch vertane Zeit.
»Vielleicht hat Jon-Olav sie deshalb auserwählt«, sagte Rask. »So verlockend sind nur Dreizehnjährige. Sie glauben nicht, welche Faszination von denen ausgeht. Haben Sie schon mal die Vulva einer Dreizehnjährigen gesehen, Tommy?« Anders Rask konnte sich ein jungenhaftes Grinsen nicht verkneifen. »Warum antworten Sie nicht auf meine Frage?«, fuhr er fort. »Ich versichere Ihnen, der Anblick ist göttlich. Und glauben Sie mir, es ist nie mehr dasselbe, wenn Sie anschließend wieder mit einer erwachsenen Frau schlafen.«
»Sie erwarten doch wohl nicht von mir, dass ich mich provozieren lasse?«, sagte Tommy. »Außerdem wusste ich gar nicht, dass Sie auch mal mit einer erwachsenen Frau geschlafen haben. Sie haben ein großes Mundwerk, Rask, aber eigentlich sind Sie nur ein kleiner Junge, nicht wahr? Hat Ihre Mutter Sie nicht liebgehabt? Ist das Ihr Problem?«
Rask schlug den Blick nieder. Seine Augen hatten für einen Moment einen feuchten Glanz bekommen.
»Lassen Sie uns über Jon-Olav Farberg reden«, sagte Tommy.
Der ehemalige Lehrer nahm die Büroklammer von den Dokumenten und hielt sich das Passfoto vor die Augen.
»Ich glaube, es gibt einen ganz konkreten Grund dafür, dass er Amanda Viskveen ausgesucht hat, Anders.«
Rask erwiderte nichts, stieß nur Luft durch die Nase aus.
»Und ich glaube, Sie wissen, was für ein Grund das ist.«
»Warum sollte ich Ihnen helfen, Tommy?« Rask sprach seinen Namen mit sarkastischem Unterton aus und warf das Bild der Dreizehnjährigen auf die Unterlagen. »Können Sie mir irgendwas bieten?«
»Farberg war mit Amanda in Lillehammer. Und ich glaube, dass sie da noch am Leben war. Vielleicht ist sie das ja noch immer.«
Anders Rask schloss die Augen und blieb lange so sitzen. Es sah aus, als wäre er kurz davor einzuschlafen.
»Ich denke, Sie haben die Fahndung an Interpol gegeben?«, sagte er plötzlich und öffnete die Augen. »Sie werden inzwischen doch wohl ein bisschen klüger geworden sein und ihm keine Geschenke mehr machen, sondern ihn mit allem jagen, was Ihnen zur Verfügung steht?«
Tommy antwortete nicht. Es war, als hätte Rask seine Gedanken gelesen. Tommy hatte um die Interpol-Fahndung gekämpft, aber ohne Erfolg.
»Was glauben Sie, wohin kann er gegangen sein?«
»Was glauben Sie, wenn er denn wirklich noch am Leben ist?«, fragte Rask. »Aber fragen Sie sich doch bitte auch mal, warum in aller Welt ich Ihnen helfen sollte?«
Rask nahm die Zeitung vom Tisch, als wollte er wieder lesen, schien sich dann aber anders zu entscheiden und faltete sie zusammen.
Tommy stand auf, dieses Mal aber etwas zu schnell, so dass der Kopfschmerz mit neuer Intensität hinter seiner Stirn aufflammte. Die Paracetamol, die er im Auto liegen gehabt hatte, wirkten nicht mehr.
»Ich glaube, Sie wollen mir helfen, weil Sie Jon-Olav Farberg eigentlich gar nicht mögen. Er hat sie betrogen, dabei haben Sie ihn für einen Freund gehalten, nicht wahr? Wie viele Freunde haben Sie eigentlich? Nur Jon-Olav? Freund und Kollege, jemand, der Sie glauben hat lassen, dass Sie die Mädchen getötet haben, die eigentlich er auf dem Gewissen hatte. Und er hat noch mehr umgebracht, Anders, weit mehr. Glauben Sie das nicht auch?«
Rask rieb sich die Augen. Es schien, als fände er die ganze Situation im höchsten Maße unangenehm.
»Ich habe das hier gefunden«, sagte Tommy. Er beugte sich vor, um die Mappe zu öffnen, musste sich aber auf der Tischplatte abstützen. Unter den Unterlagen war auch eine Kopie einer Restaurantquittung, die Tommy bei Farbergs Buchhalter gefunden hatte, sowie diverse Kreditkartenabrechnungen.
Rask schob sich die Brille etwas höher auf die Nase und griff nach den Unterlagen.
»Setzen Sie sich«, sagte er. »Ich seh mir das an.«
Rask sah zu Tommy hinüber, ehe er die Mappe öffnete.
»Essen mit R«, las Rask leise für sich.
Die Quittung war auf einen A4-Zettel kopiert worden: zweimal Entrecote, einmal Lammkotelett, dreimal Crème brûlée, zwei Flaschen Wasser und zwei Flaschen Rotwein. Das Restaurant hieß Totorino und lag in der Totoriugatve in Vilnius. Auf der Rückseite war notiert: Essen mit R am 10. Juni 2004.
»Farberg und dieser geheimnisvolle R müssen verdammt hungrig gewesen sein«, sagte Tommy, »wenn da keine dritte Person zugegen war.«
Anders Rask strich sich über das unrasierte Kinn, sagte aber nichts.
»Der Buchhalter meinte, die Quittung würde vom Finanzamt sicher nicht anerkannt werden«, sagte Tommy, »da Farberg keine Geschäftsverbindungen im Ausland habe, die mit R anfangen. Außerdem fehlten sowohl die Quittung für die Flugreise nach Litauen als auch die Hotelquittung für den...
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