Schweitzer Fachinformationen
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Ich ging um das Haus an der Straße zwischen Rotlichtviertel und Korean Town herum, öffnete die schwere Tür am Ende des Parkplatzes und stieg die unmittelbar daneben liegende Treppe hinauf. Am Ende des Flurs im zweiten Stock gab es noch eine schwere Tür. Ich stemmte mich dagegen, bis sie so weit offen war, dass es quietschte, steckte, während sie langsam wieder zufiel, den Schlüssel ins Schloss einer weiteren Tür, meiner Wohnungstür diesmal, und drehte ihn nach links, bis es klackte. Diese beiden Geräusche im Ohr, kam ich jeden Abend nach Hause. Wenn der Abstand zwischen dem Quietschen der Türangeln und dem Klacken des alten Stiftzylinderschlosses nicht genau stimmte, wurde ich nervös. Stellte ich eine schwere Tasche ab oder fiel mir versehentlich der Schlüssel aus der Hand, kam der Rhythmus durcheinander.
Vielleicht hatte ich im Sommer zu viel verloren; jedenfalls gab ich, kurz bevor es richtig Herbst wurde, dem Wunsch meiner Mutter, bei mir einzuziehen, umstandslos nach. Die Krankheit, die sich in ihrem Magen eingenistet hatte, war so weit fortgeschritten, dass sie schon Mühe hatte, allein die grundlegenden Körperfunktionen aufrechtzuerhalten, und wohl nach einem Platz zum Sterben suchte.
Ein letztes Gedicht wolle sie schreiben, hatte sie am Telefon gesagt.
»Im Krankenhaus geht das nicht. Das verstehst du doch.«
Ich hörte die Arroganz aus diesem Das-verstehst-du-doch zwar heraus, aber sie störte oder ärgerte mich nicht mehr. Bei dem Gedanken, dass meine Mutter, der eine Wohnung am Rande des Rotlichtviertels besser erschien als ein normales Krankenhauszimmer, mit dieser Arroganz sterben würde, tat sie mir sogar leid. Der hehre Erfolg, den sie sich erträumt hatte, war ihr bis zum Schluss versagt geblieben. Sie hatte ein paar schmale Gedichtbände veröffentlicht, war mit ihrem schönen Gesicht von einigen Illustrierten interviewt worden und hatte einmal im Morgenprogramm eines lokalen Senders das Gedicht eines englischen Lyrikers vorgetragen, auf Japanisch. Mehr nicht.
Nur zwei Tage nach dem Telefonat war sie aus dem Krankenhaus zu mir gezogen. Das Gefühl, meine Angelegenheiten geregelt und das Nötigste vorbereitet haben zu können, wenn sie früher Bescheid gesagt hätte, und die Erleichterung, dass sie davon ausgegangen war, dass ich schon nichts dagegen haben würde, dass sie sich bei mir einnistete, hielten sich die Waage. In schlotterigen Hosen, einem langärmeligen T-Shirt und einem Jackett über den Schultern stieg sie aus dem Taxi. Dieses dunkelblaue Jackett, das sie wahrscheinlich schon bei der Aufnahme ins Krankenhaus getragen hatte, war das Einzige, das an ihr altes Leben erinnerte. Inzwischen konnte sie nur noch in einem den Körper nicht einengenden Schlafanzug leben. Auf meine Frage, ob ich ihr etwas aus ihrer Wohnung holen solle - ins Krankenhaus hatte sie nur zwei Taschen mitgenommen -, erwiderte sie, das sei nicht nötig. Die eine der beiden Taschen enthielt zwei Schlafanzüge, Zahnbürste, Kamm und dergleichen, die andere war mir so vertraut, dass ich nicht einmal hineinschauen musste.
Obwohl wir seit knapp acht Jahren, seit Terroristen mit Flugzeugen in die Türme von New York gerast waren, nicht mehr zusammenwohnten, hatten wir, abgesehen von zwei, drei Jahren in meiner Jugend, durchaus immer Kontakt gehabt. Nachdem mir bewusst geworden war, dass meine Mutter unerwartet schwer krank war, hatte ich mich sogar recht häufig bei ihr gemeldet und sie hin und wieder auch im Krankenhaus oder anderswo getroffen. Dass ich trotzdem stets das Gefühl hatte, sie vernachlässigt zu haben, lag wahrscheinlich daran, dass sie jedes Mal, wenn wir uns sahen, schmaler und ihr Haar dünner geworden war. Früher hatte es ihr glänzend und pechschwarz bis über die Brust gereicht. Um es aufzustecken oder sich eine Dauerwelle machen zu lassen, sei es zu viel, sagte meine Mutter immer und trug ihr langes, extraglattes Haar, das ganz anders war als meine ins Braun spielende, widerspenstige Mähne, selbst im Sommer offen. Wurde ihr der zur Seite gestrichene Pony zu lang, ging sie in einen Salon - nicht zu dem Friseur in der Nachbarschaft, den ich regelmäßig besuchte -, und kam mit noch glänzenderem Haar zurück.
Sie wolle noch nicht sterben, hatte sie letztes Frühjahr noch gesagt, doch von diesem Willen schien nicht mehr viel übrig zu sein. Letztendlich kehrte sie, ohne auch nur ein einziges Mal ihre Arbeitstasche geöffnet und einen Stift herausgenommen zu haben, nach nur neun Tagen mit Atemnot ins Krankenhaus zurück. Nicht nach ein paar Monaten oder einem halben Jahr. Ich hätte ihr deshalb, denke ich heute, jeden Tag etwas kochen sollen, von dem sie wenigstens ein bisschen hätte essen können, hätte sie in Ruhe baden, hätte ihr, auch wenn sie kaum zuhörte, etwas erzählen sollen, das sie vielleicht interessiert, hätte ihr wenigstens zu denselben Zeiten wie im Krankenhaus ihre Medikamente verabreichen sollen und warten, bis sie schläft, bevor ich das Haus verließ. Unter einem Dach schliefen wir nur nach ihrem Einzug, in der ersten Nacht. Mehr als zwei Tage könnte ich mir nicht erlauben, schien meine Mutter zu glauben, nichts zu machen, in Wirklichkeit habe ich in der ganzen Zeit so gut wie gar nicht gearbeitet.
Sobald sie abends merkte, dass ich Anstalten machte, das Haus zu verlassen, zögerte sie absichtlich die Einnahme ihrer Medikamente hinaus oder breitete die Zeitung aus und sog sich Fragen aus den Fingern, um mich aufzuhalten, das wusste ich. Sie sagte nicht: Geh nicht, bleib hier, bleib bei mir. Stattdessen hielt sie mir das TV- & Radioprogramm hin und drückte mir mit einem »Kommt heute Abend nichts im Fernsehen?« die Fernbedienung in die Hand. Ihre Arme waren nicht mehr die schlanken, anmutigen Arme, die sie hatte, als sie noch gesund war. Sie waren wesentlich behaarter, faltiger - und dünner als mein Zeige-, Mittel- und Ringfinger zusammen. Als ich ihr die billige Feuchtigkeitscreme aus der Apotheke einmassierte, wodurch die Haut, die so trocken war, dass sie schuppte, etwas rosiger wurde, sagte sie noch: »Lass uns doch zusammen schauen, ob was kommt.« Dabei waren es gerade diese krampfhaften Versuche, mich in ein Gespräch zu verwickeln, obwohl sie sich nie viel aus Fernsehen gemacht hat, die mich aus dem Haus trieben.
Ich zog mich nach Möglichkeit erst um, bevor ich ging, und vermied alles, was nach Nachtgeschäft aussah. Beschränkte mein Make-up, für das ich mir normalerweise eine Stunde Zeit nahm, auf Foundation, den Rest erledigte ich, sobald ich aus dem Haus war. Die unauffällige Kleidung, die ich anzog, um nicht von ihr aufgehalten zu werden, schien meiner Mutter aus irgendwelchen Gründen zu gefallen. »Heute siehst du aber hübsch aus«, sagte sie einmal. Dabei hatte ich bloß Jeans und eine beigefarbene Strickjacke an. Früher hatte sie mein Aussehen oder meine Kleidung nie gelobt. Trotzdem konnte ich es kaum erwarten, dass sie ihre Medikamente nahm, wich den Fragen, mit denen sie mich zum Bleiben zu bewegen versuchte, aus und verließ Abend für Abend das Haus. Für das Geräusch, das der Schlüssel verursachte, wenn ich meine vor sich hindösende Mutter zurückließ und hinter mir abschloss, hasste ich mich.
Wenn meine Mutter eine gewisse Schlichtheit gehabt hätte, wenn sie aufgeblasen oder hochnäsig gewesen wäre, hätte sie es wahrscheinlich leichter gehabt. Sie war nicht groß, hatte aber lange Beine, ein feingeschnittenes Gesicht und große Augen. Da sie sofort Sonnenbrand bekam, wenn ihre helle Haut intensiver Sonne ausgesetzt war, fuhr sie im Sommer weder ans Meer noch ins Freibad. Sie wusste, dass sie schön war, wusste diesen Vorteil auch zu nutzen, verachtete gleichzeitig aber jeden, der das Wort »Schönheit« in den Mund nahm. Mit ihrer Arbeit war es ähnlich; einige derer, die ihre Gedichte lobten, schienen einfach nie die richtigen Worte zu finden. Dass sie mit diesem komplizierten Selbstwertgefühl als schwierig galt, wundert mich nicht. Selbst wenn ihr jemand nahekam, dauerte es nicht lang, bis man nichts mehr von ihm hörte oder sah. Die Namen, die mir einfallen, wenn man mich nach den Freunden meiner Mutter fragt, habe ich schon Jahre nicht mehr gehört. Dass man als Außenstehender nicht auf die Idee kam, dass ihr Leben auch einsam oder elend sein konnte, war vielleicht der größte Vorteil ihrer äußeren Erscheinung. Gerade deshalb vermied ich es, die abgemagerte, behaarte Gestalt und das spärliche Haar meiner Mutter direkt anzusehen.
Am neunten Tag machte ich ihr zu Mittag eine Nudelsuppe mit Lauchzwiebeln und Mentaiko. Müde, weil ich bis morgens unterwegs gewesen war, außerdem gereizt, weil meine Mutter auf die Frage, was sie essen könne, einfach keine Antwort gab, kochte ich kurzerhand die Somen, die ich Anfang des Sommers gekauft hatte. Nudeln und Töpfe habe selbst ich im Haus, die Zwiebeln und den gesalzenen Rogen hatte ich nach ihrem Einzug besorgt. »Lecker«, sagte meine Mutter, nachdem sie, ohne die kleine rote Schale, die ich auf den Tisch neben dem Bettzeug gestellt hatte, anzuheben, einen Bissen genommen hatte, führte die Stäbchen noch drei, vier Mal zum Mund, dann legte sie sie ab. Von den wenigen Nudeln, die in der Schale gewesen waren, waren so viele übrig, dass sie überhaupt keine zu sich genommen zu haben schien.
»Selbst die guten Sachen kann ich nicht mehr essen.«
Wie sie auf dem Futon saß und mich über den billigen Tisch aus dem Discounter hinweg bedauernd ansah, wäre man nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie im Sterben lag. Unter dem langärmeligen, weichen Schlafanzug, den sie seit Tagen trug, hatte sie nicht einmal Unterwäsche an. Ob sie den aus dem Krankenhauskiosk hatte?...
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