Ein Schattenmärchen 1: O ihr Kreaturen!
Michael Marrak
Seid gegrüßt, Kinder. Folgt meiner Stimme.
Keine Angst vor dem Rauch, er verhüllt die Wirklichkeit und vertreibt die lästigen kleinen Blutsauger. Ihr findet mich dahinter. Seid leise und gebt acht beim Klettern, das Gestein ist locker und seine Kanten scharf. Nehmt eure Jungen auf den Rücken, seid behutsam und zügelt eure Gedanken.
Kommt näher, ich will eure Gesichter sehen. Schart euch dicht ums Feuer, denn meine Stimme ist wertvoll. Ich muss euch etwas über die Gefallenen erzählen - und euch warnen. Tretet heran, doch denkt nicht an Gott oder die Erlösung, denn das sind die Gedanken, die sie als Erstes hören - und die sie zu euch führen .
Niemals dürfen sie mich hier unten bei euch finden.
Niemals!
Ihr wisst, die Kreaturen lauschen nur nach den Titeln, die der erste Schatten ihnen verliehen hat. Die wahre Essenz bleibt ihnen verwehrt. Keines ihrer Augen darf diesen Ort jemals erblicken, versteht ihr? Schwört bei den letzten Funken des Lichts, dass ihr niemals an Gott denken werdet, solange ihr euch um mein Feuer schart. Jene, die ihre Gedanken nicht zu zügeln vermögen, sollen kehrtmachen und ihren Seelenfrieden an einem anderen Ort suchen. Schert euch fort, ihr unbelehrbaren Heilsträumer!
Doch ihr anderen, kommt näher. Achtet auf die Spalten, der Sturz in die Tiefe ist schmerzvoll - und manchmal endlos. Hört zu, was ich euch zu sagen habe.
Es war bereits Abend, als ich vor zwei Tagen von der Gedankenbank nach Hause kam. Ja, ganz langsam wird mein Kopf immer kleiner, und mein Körper schwindet. So ergeht es allen, die ihren Frondienst für die Schatten leisten. Ihre Köpfe haben nur mehr die Form von Geschwüren, kaum größer als zwei Männerfäuste. Schrecklich ist der Preis für eine Zusammenkunft mit den Regenten.
Still!
Habt ihr das auch gehört? Seid ihr sicher, dass sich auf dem Weg hierher kein heuchelndes Geistergesindel unter euch gemischt hat? Ich kenne die Stimmen jener, die sich in Schafspelze hüllen und Augen und Ohren der Regenten sind.
Legt eure Lupen ab und lasst mich eure Körper sehen! Ziert euch nicht, euch zu entblößen - doch vermeidet es, einander zu berühren, solange ihr nicht wisst, ob ihr rein seid. Falls sich unter eurer nackten Haut etwas versteckt, das nicht hierher gehört, werde ich es sehen. Sollte euer Fleisch befallen sein, werde ich es erkennen. Kein Seelenfresser und kein Traumwandler kann sich im Feuerschein vor mir verstecken.
Hütet euch vor jenen unter euch, die zwei Schatten werfen! Sie sind nicht das, was sie euch glauben machen wollen. Im erstbesten Moment werden sie euch in den Rücken fallen, euch Dornenfesseln anlegen und euch in ihre Ektoplasma-Bottiche stecken, randvoll mit amorphen Unwesen, die noch keine Form gefunden haben.
Verzeiht, es ist unhöflich von mir, in eurem Beisein an die Gräuel zu denken. Meine Erinnerungen treiben mich dazu, die verfluchten Erinnerungen und die brennenden Narben .
Nun, setzt euch. Ich sehe, dass ihr frei seid von Schuld und wahrhaftig ihr selbst. Das ist alles andere als selbstverständlich in diesen Zeiten. Ich möchte weitererzählen, weiterbestehen, solange sie diesen Ort meiden.
Vor zwei Tagen also kehrte ich zurück von der Gedankenbank und betrat die Ruine meines Hauses. Es ist ein nostalgisches Ritual, nach der Heimkehr einen Blick aus jedem der Fenster meiner Wohnung zu werfen - hinaus auf die im Abendrot erstarrten Häuserruinen und hinab auf die Trümmerberge, hinter denen leise Stimmen Lieder der Hoffnung singen. Der Schutt, das wisst ihr, hat scharfe Kanten und reißt tiefe Wunden in die Körper jener, die aus Fleisch und Blut geschaffen sind. Ich erinnere euch nicht ohne Grund daran. Unser warmes Blut ist die Apanage für die Regenten. Gierig lecken sie es wie Honig von den Trümmern und baden darin, wo es sich zu halb geronnenen Pfuhlen sammelt.
Schutt, Trümmer und Abgründe, daraus besteht die Welt, die sie uns gelassen haben. Die Welt, die wir die Oberfläche nennen. Jene, die die Revolution nicht überlebt haben, bevölkern das lichtlose Reich darunter: unsere Abwasserkanäle und U-Bahn-Tunnel, die verlassenen Bunker, Tiefgeschosse und Minenstollen.
Nichts für ungut, dort unten sind die Toten gut aufgehoben. Trieben sie auf der Oberfläche ihr Unwesen, würden die Städte noch mehr stinken. Und ihre rastlosen Kadaver würden sich unserer Organe bemächtigen, um sie in ihre eigenen verwesenden Überreste zu stecken. Zugegeben, dann und wann entwischt schon mal einer dieser Wiedergänger aus seinem Orkus, aber letztlich erhalten sie von unseren gelobten Herren regelmäßig Dinge, von denen sie sich nähren können. Dinge von uns. Mal einen Arm, mal ein Bein, eine Leber oder einen Haufen Gedärme. Es schickt sich nun mal nicht, die Toten verhungern zu lassen. Das zeugt nicht von Barmherzigkeit.
Warum die Regenten keine Köpfe verfüttern, wisst ihr. Unsere Köpfe fressen sie selbst. Das Geräusch der Maschinen, die geschaffen wurden, um unsere Schädel im Akkord zu knacken, verfolgt jeden von uns seit der Revolution bis in seine Träume. Und wer frei ist von Nachtmahren, der ist keiner von uns.
Seid also auf der Hut vor jenen unter euch, die im Schlaf lächeln! Es ist klüger, sie sofort zu erschlagen, als sie je wieder erwachen zu lassen. Ehe ihr euch verseht, werden sie sonst über euch herfallen und sich an euch und eurer Furcht laben - bis auch ihr jedwede Form von Dunkelheit herbeisehnen und mit einem Lächeln um die blau verfärbten Lippen von Schmerzen träumen werdet.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass einige wenige unter euch dieser neuen Welt sogar etwas Schönes abgewinnen - weil sie wissen, dass das Rad der Zeit niemals mehr zurückgedreht werden kann. Dass alles, was wir heute sehen, hören, fühlen und erleben, auf ewig so bleiben wird, wie es ist. Ich habe Verständnis für eure Sehnsucht. Die einzigen Optionen, die wir seit der Revolution der Schatten haben, sind, die Welt zu ertragen, dem Wahnsinn zu verfallen oder einer der ihren zu werden. Denn der triviale Tod, dessen sind sich derweil sogar die Ratten und die Kakerlaken bewusst, war ein Privileg der alten Welt. Was sterben darf und was nicht, bestimmen heute die Regenten.
Sie schafften die ihnen lästigen Naturgesetze ab wie den Lauf aller Dinge, öffneten die Grenzen, merzten alle Heiligen aus und sorgten für einen einheitlichen Status quo, denn jeder von uns besitzt nichts außer seinem eigenen Elend. Zudem müssen wir uns nicht mehr über das Wetter ärgern, denn ein Tag ist so heiß und düster wie der andere.
Um die verlorenen Seelen bei Laune zu halten, veranstalten die Regenten jeweils an Voll- und Neumond das unter ihresgleichen äußerst beliebte Denunzianten-Dankfest mit der Lotterie 20 aus 500. Seit der Zeitenwende läuft mir ein Schauer über den Rücken, sobald die von einem Totenchor vorgetragene Eröffnungshymne aus den Lautsprechern dringt; ein simpler Choral, in den jeder Regent, jeder Sympathisant und jeder wandelnde Schatten sofort mit einstimmt:
Einer von hier, zwei von dort,
drei aus der Mitte, sechs sind fort.
Sieben trifft der Blitz, acht das Beil,
neun schrei'n »Erbarmen!«, zehn baumeln am Seil.
Manch einer glaubt wegen des Festnamens sicher noch, dass bei einem Verhältnis von 25:1 lediglich ein verschmerzbarer Prozentsatz vom Schicksal ereilt wird, doch es verhält sich genau andersherum: Von fünfhundert Delinquenten werden zwanzig per Los begnadigt. Auf alle anderen wartet das Schlachthaus, wo die Maschinen der Schatten ihr Inneres nach außen kehren.
Wieso die Regenten so etwas tun? Nun, vielleicht bereitet es ihnen einfach Freude. Vielleicht aber kennen sie es von dort, woher sie stammen, gar nicht anders. Möglicherweise handeln sie gar in der Überzeugung, nichts Unrechtes zu tun, während sie uns und unsere Welt verzehren. Tabula rasa. Alles gehört an seinen Platz. Asche zu Asche, Staub zu Staub.
Was wäre das doch für eine Ironie .
Von ihrer Warte aus betrachtet sind die Delinquenten nicht mehr als Verzugsindividuen mit schlechter Spendermoral, negativem Gedankenkonto und unbezahlten Freier-Wille-Rechnungen. Samt und sonders Abnormitäten, deren Mitesserschaft für das Regime der Schatten nicht länger tragbar ist. So verschwinden hartnäckige Belastungen flugs aus der Soll-Sektion. Des Schuldners Leid ist des Rechtschaffenen Freud'. Der frei werdende Wohnraum erlaubt es uns, in komfortablen Sechszimmer-Ruinen eine Luxusverdammnis zu fristen. Jedem das Seine.
Was starrt ihr mich so an?
Oh, natürlich, die Abnormitäten . Ein widerlicher Terminus, das gebe ich zu, aber traditionell, ja geradezu klassisch. Zudem verfügt die Henkergilde über einen erquicklichen Vorrat an Stricken, um die Unglücklichen vorab zu . na, ihr wisst schon.
Woher?
Was stellt ihr nur für Fragen? Wurde noch nie einer von euch ins Zentrum verschleppt, um den Glaubensgerichten der Regenten beizuwohnen? Die entfachten Feuer hatten immerhin einige der imposantesten Abendrote der vergangenen drei Dekaden in den Himmel gezaubert. Hat keiner von euch je eine der Fleischorgien verfolgt? Ich kann nicht sagen, ob ich euch beneiden oder bedauern soll. Ihr Glücklichen, die ihr nie das Grauen der Schlachtfeste erblickt habt. Ihr Bemitleidenswerten, denen all das noch bevorsteht. Denn eines ist gewiss: Keiner von euch wird einst sagen können, er habe es nie mit eigenen Augen gesehen.
Henker sind eine angesehene...