Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Fünfzehn Minuten dauerte der Fußweg vom Binzer Bahnhof zur Villa Sehnsucht. Fünfzehn Minuten, in denen ich mir die Meeresbrise um die Nase wehen ließ und den Möwen dabei zusah, wie sie über mir ihre Kreise zogen und verschlagen auf das Fischbrötchen in meiner Hand linsten, das ich mir direkt am nächstgelegenen Kiosk gekauft hatte.
Es war ein wunderbares Gefühl, endlich hier zu sein. Erst jetzt, da ich wieder auf Rügen war, erkannte ich, wie sehr mir meine dreiwöchige Urlaubsroutine in den letzten Sommern gefehlt hatte. Mit Johannes war ich auf Mallorca, Korsika und Zypern gewesen, aber keine Insel war vergleichbar mit Rügen. Rügen war wie ein Teil von mir, ein Stück Heimat.
Als meine Eltern vor vielen Jahren nach Thailand auswanderten, war Rügen, und ganz besonders die Villa Sehnsucht, zu einem warmen Nest für mich geworden, in dem ich mich behütet und geborgen fühlte. Oma Else war zwar nicht die Großmutter, die einen mit eingeweckter Erdbeermarmelade und einem selbstgebackenen Kuchen erwartete. Dafür machten wir lange Strandspaziergänge am Meer oder spielten eine Runde Rommé im Wintergarten der Villa Sehnsucht. Sie liebte mich. Das wusste ich. Eben auf ihre eigene etwas energische und resolute, aber durchweg herzliche Art und Weise.
Während ich in die Strandpromenade einbog, klingelte das Handy, das ich in meiner Handtasche verstaut hatte. Ich hielt einen Moment inne, stellte den Rollkoffer ab und stopfte das Fischbrötchen zurück in die Tüte. Dann wühlte ich mich an Taschentüchern, Bonbons, Wasser und Keksen vorbei. Als ich mein Handy schließlich in Händen hielt, steckte ich die Tüte mit dem Fischbrötchen in die Tasche und warf einen Blick auf das Display. Dabei blieb mir fast das Herz stehen. Es war der Verlag, bei dem ich am vergangenen Freitag mit sage und schreibe fünfzehn Minuten Verspätung aufgeschlagen war. Mein Glück war gewesen, dass zuvor ein Meeting genau um diese fünfzehn Minuten überzogen worden war.
»Hallo, Frau Bundschuh. Schön, von Ihnen zu hören.«
Die Lektorin hatte zwar angekündigt, sich zu Beginn dieser Woche bei mir melden zu wollen, aber so schnell hatte ich nicht mit ihrem Anruf gerechnet. Dementsprechend überrumpelt und unvorbereitet fühlte ich mich.
Aufgeregt biss ich mir auf die Unterlippe, während eine Familie mit zwei kleinen Kindern und einem randvoll bepackten Bollerwagen an mir vorbei Richtung Strand zog.
Es war ein wundervoller Tag. Die Sonne strahlte mir von einem blauen Himmel entgegen. Keine Wolke war zu sehen. Und schon jetzt war es herrlich warm. Wenn es meine Verpflichtungen im Hotel zuließen, dann wollte ich später unbedingt noch ins Meer springen, meine Füße im Sand vergraben und in einem Strandkorb die Seele baumeln lassen. Aber irgendwas sagte mir, dass es nicht einfach werden würde, sich diese Wünsche zu erfüllen.
»Hallo, Frau Steltner. Haben Sie einen Moment für mich?«
»Ja, aber sicher doch«, sagte ich, während mir mein Herz in die Hose rutschte. War es nun ein gutes oder eher ein schlechtes Zeichen, dass sie sich so schnell bei mir meldete? Bei meiner Präsentation am Freitag schien sie recht angetan von meinen Vorschlägen gewesen zu sein, auch wenn die Reihenfolge meiner Folien irgendwie durcheinandergeraten war. Zum Glück fing ich mich schnell wieder und konnte einen eleganten Schlenker in meine Ausführungen einbauen. Aber so richtig konnte ich die Frau nicht einschätzen. Schließlich war ich mit einem unzufriedenen Gefühl aus dem Verlag nach Hause gegangen und hatte das halbe Wochenende darüber gegrübelt, weshalb ich ein so schrecklich unorganisierter Mensch war. Eine zermürbende Ungewissheit, die mich zusätzlich zu den Bedenken um Oma Elses Auftrag kaum hatte schlafen lassen.
»Ich habe Ihre Ansätze jetzt mit meiner Kollegin besprochen und wir beide sind uns einig, dass .«
Noch ehe ich hören konnte, zu welchem Ergebnis die beiden Damen gekommen waren, rempelte mich jemand so heftig an der Schulter an, dass mir mein Handy aus der Hand auf das Kopfsteinpflaster flog. Mein Herz setzte für einen Schlag aus, während ich schnell mein Handy aufhob und erleichtert feststellte, dass es wie durch ein Wunder unversehrt geblieben war.
»Können Sie nicht aufpassen?«, blaffte ich die Person an, die soeben mit mir kollidiert war.
»Sorry, das tut mir echt leid. Ist das Telefon kaputt? Ich kann ziemlich gut reparieren, müssen Sie wissen«, behauptete der Mann mit einem schelmischen Grinsen.
Seine grün-blauen Augen leuchteten mit der Sonne um die Wette. Der Typ erinnerte mich an irgendeinen Schauspieler. Wie hieß der noch gleich? Der aus Hangover.
»Nein, es scheint zum Glück nicht beschädigt zu sein. Aber in Zukunft sollten Sie besser auf Ihren Weg achten. Dann müssen Sie auch nichts reparieren.«
»Okay, aber passen Sie gut auf sich auf, mit dem Kopfsteinpflaster hier ist nicht zu spaßen!« Dabei zwinkerte er mir vielsagend zu. Zum Abschied erntete ich ein weiteres schiefes Grinsen.
»Frau Steltner, können Sie mich hören? Frau Steltner?«
Erst, als der gutaussehende Unbekannte außer Sichtweite war, realisierte ich, dass Frau Bundschuh noch immer in der Leitung hing. Und dass er mich an Bradley Cooper erinnerte.
»Ja, ich bin da. Entschuldigen Sie bitte. Mir hat gerade jemand das Handy aus der Hand geschlagen.«
»Oje, wurden Sie verletzt?«, fragte sie besorgt.
Ich schüttelte den Kopf, auch wenn ich mir der Tatsache bewusst war, dass sie es nicht sehen konnte.
»Nein, nein, danke. Es war nur ein Versehen«, bemühte ich mich, sie zu beruhigen und dabei nicht weiter an die grün-blauen Augen zu denken, die mich ein wenig aus der Fassung gebracht hatten. Und das meinte ich nicht nur wegen des Schubses.
»Bei so einem Versehen, wie Sie es nennen, hat mir mal ein Kerl das Portemonnaie geklaut. Schauen Sie besser nach, ob es noch da ist. Vielleicht haben Sie eine Chance, ihm nachzugehen, falls es Ihnen so ergangen sein sollte wie mir damals. Weit kann er ja nicht sein.«
Noch während sie ihren Verdacht äußerte, kramte ich halbherzig in meiner Tasche. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Geldbeutel wirklich weg sein sollte. Das hätte ich doch bemerkt. Oder? Außerdem wirkte der Typ nicht wie ein Krimineller auf mich. Dafür sah er viel zu . gut aus. Klar, Taschendiebe und Kleinkriminelle sehen natürlich immer furchtbar verschlagen aus, haben Narben im Gesicht und ein Glasauge, veralberte mich meine innere Stimme.
Doch ich reagierte gar nicht auf ihren Einwand, sondern kramte derweil mit wachsendem Unbehagen in meiner Tasche. Mein Geldbeutel war nirgends zu finden. Frau Bundschuh hatte recht. Der Kerl hatte mich mit Absicht angerempelt. Das schelmische Grinsen, das Leuchten seiner Augen - alles nur Taktik, um mich abzulenken. Und ich war so doof und fiel darauf rein. Wie ein dämliches Honigkuchenpferd hatte ich ihn angehimmelt. Wahrscheinlich lachte er sich noch immer ins Fäustchen.
»Frau Bundschuh, ich . Mein Portemonnaie scheint wirklich weg zu sein. Ich würde mich später bei Ihnen melden, wenn das in Ordnung ist.«
Ein glücklich aussehendes Pärchen spazierte Arm in Arm an mir vorüber, während ich mich verzweifelt nach dem Dieb umsah. Doch der war wie vom Erdboden verschluckt.
Das war mal ein astreiner Start hier auf Rügen. Geld weg, Ausweis weg, Führerschein weg. Das letzte Foto von Johannes und mir war damit auch weg. Alle anderen Bilder von uns hatte ich bereits in die hinterste Ecke des Kellers verstaut. Nur bei diesem einen in meinem Geldbeutel hatte ich es nicht übers Herz gebracht, es ebenfalls auszumustern. Es war an meinem letzten Geburtstag aufgenommen worden. Wie glücklich wir da doch noch waren .
»Es tut mir sehr leid für Sie, Frau Steltner. Wir sprechen uns später. Nur so viel: Sie haben den Job. Ihre Präsentation fand überall großen Anklang. Sogar der Vertrieb hat bereits grünes Licht gegeben.«
Erleichtert atmete ich auf. Wenigstens eine gute Nachricht an diesem Tag. Das ließ mich zwar auch nicht über meinen Verlust hinwegsehen, aber zumindest hatte ich nicht das Gefühl, auf ganzer Strecke versagt zu haben.
»Ich freue mich riesig und melde mich schnellstmöglich bei Ihnen zurück, Frau Bundschuh. Entschuldigen Sie bitte die Unannehmlichkeiten.«
»Ach, was. Da können Sie ja nichts für. Sie haben sich bestimmt nicht mit offener Handtasche vor den Mann hingestellt und ihn darum gebeten, Sie auszurauben.«
Ich lächelte verlegen. Denn irgendwie entsprach Frau Bundschuhs Zusammenfassung ziemlich genau dem Tathergang. Wenn ich mich von diesen grün-blauen Augen nicht so hätte einlullen lassen, dann wäre es diesem schmierigen Taschendieb nie im Leben gelungen, mich zu beklauen. Warum hatte ich sein Lächeln nur so bereitwillig erwidert? Ich war doch sonst nicht so unbedarft und naiv. Schließlich lebte ich in Hamburg, einer Millionenstadt.
»Danke, Frau Bundschuh. Wir hören uns.«
Aber genau das war der Unterschied. Rügen war nicht Hamburg. Hier gingen die Uhren ein wenig langsamer und von Kleinkriminellen und Mördern hatte ich auf der Insel auch noch nie etwas gehört. Offenbar hatte sich in den Jahren, in denen ich nicht hier gewesen war, einiges verändert. Bei diesem Gedanken durchfuhr ein Stich mein Herz. Das hier war doch meine Heimat. Meine heile Welt wollte ich nur ungern mit Menschen teilen, die ihre Mitmenschen, ohne mit der Wimper zu zucken, ausnahmen.
Seufzend stopfte ich das Handy zurück in die Tasche und kramte die Tüte mit dem Brötchen hervor. Dem Täter jetzt noch nachzujagen war aussichtslos. Außerdem hatte ich nicht darauf geachtet, wohin er...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.