Sybilla war nicht immer Putzfrau gewesen.
Sie hatte mal einen "richtigen" Job. Einen Job, den man als einen richtig guten bezeichnet hatte. War darin sogar ziemlich erfolgreich gewesen - für eine Frau. Und das war wohl das Problem: Sie wollte erfolgreich sein wie ein Mann. Oft hörte sie, sie wäre die Beste, sie wollte aber der Beste sein. Denn die Beste stand noch immer für die beste Frau. Hingegen triumphierte man als der Beste über alle. So zumindest empfand es Sybilla. Wie ihr Chef das fand, war nicht ganz klar. Denn obwohl er sie zweifelsohne für saugut hielt und sie mit wichtigen Projekten betraute, stand sie irgendwann still und kam nicht weiter. Konnte an ihrem plötzlich festgefrorenen Standpunkt sehen, wie die Kollegen an ihr vorbeizogen. Die wurden befördert, mit größeren Projekten betraut, konnten ihre Karrieren vorantreiben. Sybilla konnte das nicht. Und sie wusste nicht, wieso. Also beschloss sie, ein Gespräch mit ihrem Chef zu führen. Sie würde einfach verlangen, was ihr ihrer Meinung nach zustand. Sie wollte klären, warum sie nicht weiterkam, während er anderen dabei auch noch unter die Arme griff.
Das Gespräch erschütterte ihr Weltbild. Noch heute kocht die Wut in ihr hoch, wenn sie daran dachte. Ihr Bauch verkrampfte sich und sie hatte das innige Bedürfnis, etwas zu zertrümmern. Am besten einen Stuhl am Kopf ihres Chefs. Es konnte nicht allzu schwer sein, ihn dafür ausfindig zu machen. Würde sie ihn zuerst befragen, ob er seine Meinung von damals aus ihrem Gespräch noch teilte, um ihm eine Chance zu geben oder würde sie gleich mit dem Zertrümmern beginnen?
Das Gespräch hatte ihr zum ersten Mal in aller erbitterter Wahrheit vor Augen geführt, was es für karrieretechnische Konsequenzen hatte, eine Frau zu sein.
Wie sie gezittert und geschwitzt hatte vor dem Gespräch! Akribisch hatte sie sich vorbereitet, um über jeden Zweifel erhaben zu sein. Hatte Projekte herausgesucht, die perfekt gelungen waren und rekapituliert, was genau ihre Rolle dabei gewesen war. Was sie zum Erfolg beigetragen hatte. Dabei wollte sie auf keinen Fall Vergleiche anführen. Warum bekommt der Kollege xy einen besseren Posten und warum ich nicht. Das kam ihr kindisch vor. Wie zwei Geschwister, die nicht verstanden, warum die eine in den Sandkasten durfte und die andere nicht. Nein, sie hatte sich vorgenommen so objektiv wie möglich zu bleiben und allein die Hard Facts ihrer Leistungen sprechen zu lassen. Alles für die Würscht. Denn natürlich ging es niemals nicht um Hard Facts. Es ging um Folgendes:
"Ja, aber wollen sie denn nicht jetzt irgendwann mal auch Kinder bekommen?"
Das waren die Worte, mit denen ihr Chef ihre Forderung nach Beförderung quittierte. Nachdem sie ihm ausführlich ihre Vorteile geschildert und dargelegt hatte, wie gut sie ihren Job machte und explizit nach einem Sprung auf der Karriereleiter verlangte, kam er ihr mit Babys! Mit ungelegten Babys noch dazu.
Das war einer der Momente in Sybillas Leben, in dem sie wirklich perplex war. Sie wusste tatsächlich nicht, was sie darauf erwidern sollte. Es traf sie wie der sprichwörtliche Hammer. Oder mehr wie eine Bratpfanne, die vom Aufprall gegen ihren Schädel in Schwingungen versetzt worden war und nun metallisch dumpfe Töne von sich gab. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Ein "Ähhh" war alles, was ihren noch immer offenen Mund verließ.
"Schauen Sie, natürlich, ich weiß, dass ich das eigentlich nicht fragen darf und dass es mich auch nichts angeht. Aber für mich als Unternehmer ist es nun einmal wichtig, zu wissen, wie sehr ich mich auf meine Mitarbeiter verlassen kann. Wenn ich Sie jetzt befördere, haben Sie erreicht, was Sie wollen, und da fällt ihnen dann vielleicht plötzlich ein, dass alles, was Ihnen noch zum Glück fehlt, ein Baby ist. Dann fällt mir eine Person in einer Schlüsselposition aus. Dann sind Sie weg und ich muss mir jemanden Neuen suchen. Und wenn Sie zurückkommen, wollen Sie nur noch Teilzeit arbeiten, laufen mitten in Besprechungen davon, weil Ihr Kind Läuse oder Was-weiß-ich hat und außerdem sind Sie dann mit dem Kopf sowieso nicht mehr 100%ig bei der Sache."
So oder so ähnlich waren die Worte ihres Chefs gewesen. Ihm zu sagen, dass sie jederzeit - jetzt! - kündigen konnte und damit in einem Monat und dann für immer fort wäre, wollte ihr damals nicht einfallen. Wie abstrus es war, zu denken, dass sie um eine Beförderung ansuchte, um schwanger zu werden und nicht, um in ihrer Karriere voranzukommen, hielt sie ihm auch nicht vor. Dass einer ihrer Kollegen letztens ganz spontan den halben Tag freigenommen hatte, weil überraschenderweise doch noch eine Runde am Golfplatz freigeworden war, ließ sie auch unerwähnt. Sie stand auf und ging mit einem "Ich verstehe, danke für das Gespräch."
Als sie sich aus ihrem Sessel erhob und verabschiedete, hatte sich ihr Chef beeilt, die Tür zu seinem Büro vor ihr zu erreichen, um sie ihr aufzuhalten. Er war ganz entspannt und gelassen gewesen, im Unklaren darüber, was er gerade etwas angerichtet hatte. Aber er hatte ihr noch einen guten Rat mit auf den Weg gegeben: "Wissen Sie, irgendwann ist es zu spät für Kinder und dann bereuen die Frauen es."
Ihr wäre nie in den Sinn gekommen, dass das der Grund hätte sein können: Ihre Fähigkeit schwanger zu werden behinderte ihre Karriere. Natürlich! Warum war sie da nicht selbst darauf gekommen? Diese absolute Dämlichkeit wäre eigentlich der bessere Grund für die Stagnation im Job. Die gläserne Decke, da war sie! Natürlich wusste sie um ihre Existenz. Aber sie hatte sie noch nie zu spüren bekommen. Oder eigentlich: Ihr war nicht bewusst gewesen, dass es das war, was sie zu spüren bekam. Nun war sie mit der Nase draufgestoßen worden und hatte sie nicht als solche identifiziert. Nein. Ihr Chef musste sie mit Nachdruck dagegen knallen, so dass es eine mächtige Beule gab, damit sie checkte, was Sache war. Die gläserne Decke. Wie blind konnte man sein! Dass sie nicht an dieses Hindernis gedacht hatte, mochte daran liegen, dass sie sich - bis jetzt - als Mensch betrachtet hatte. Sie war in der glücklichen Lage gewesen, bis vor kurzem keine Nachteile gegenüber ihren männlichen Mitmenschen verspürt zu haben. Oder: Sie war nur zu naiv gewesen, sie wahrzunehmen. Jetzt und frisch ausgestattet mit dem Gleichberechtigungs-Radar, war der nicht mehr wegzukriegen. Dauernd schlug er Alarm. Jetzt wo sich das Defizit gezeigt hatte, machte es sich überall bemerkbar. Wie ein Tumor, der zu streuen begonnen hatte, sah sie die weibliche Benachteiligung. Wie bei einem all um sich greifenden Krebs, fühlte es sich sinnlos an, dagegen anzukämpfen. Man verlor nur die Haare beim Kampf, vor lauter Stress aufgrund von Hilflosigkeit. Bei einer Sache schlug der Radar besonders aus. Diese einen Sache, die Sybilla bis jetzt lapidar hingenommen hatte und ab jetzt mit anderen Augen sah, stieß die Nadel des Radars, der in Wirklichkeit gar keine hatte, an die Grenzen seiner Kapazität und verlangte nach mehr zum Ausschlagen. Nach einem Martinshorn, dass laut gellend Gefahr! Gefahr! Gefahr! rief.
Die Männerrunde war die eine Sache. Nicht dass sie wirklich so hieß. Sybilla nannte sie jetzt so, nachdem sie festgestellt hatte, dass diese lose zusammengewürfelte Runde, die sich nach Feierabend, oft auch zwischendurch im Büro auf einen Kaffee zusammensetzte, nur aus Männern bestand. Ab und an war eine Frau dabei aber immer auch nur eine. Auch Sybilla war einmal dabei gewesen, denn man brauchte keine besondere Einladung oder gar ein geheimes Klopfzeichen an einer verborgenen Tür, in einer dunklen Gasse des Büros, um daran teilzunehmen. Alles, was man tun musste, war, sich dazuzugesellen. Und Geschichten zu teilen. Diese Geschichten - und Sybilla ging davon aus, dass es immer so war, wie sie es einmal erlebt hatte - handelten immer von Triumph: Wer das dickste Auto fuhr, wer wen beim Tennis geschlagen hatte, wer das größte Haus hatte. Die Männer versuchten sich gegenseitig mit ihren Errungenschaften zu übertrumpfen und klopften sich dabei und zwischendurch kräftig auf die Schultern - mal zum Trost, mal zur Bestätigung. Es ging aber auch um die Siege anderer: Darum wie jemand seiner Frau bei der Scheidung ein Schnippchen geschlagen hatte, einem Geschäftspartner gezeigt hatte, wo der Hammer hing, aber genauso ging es um den Mega-Fußballstar, der durch einen Transfer zu einem anderen Club jetzt mehr denn je absahnte und alle anderen - na eben übertrumpfte. Und es ging auch nicht immer um Geld, es ging um Gewitztheit, darum die Oberhand zu behalten, die Macht gespürt zu haben, einen anderen zu übertreffen. Nicht nur weil Sybilla in keiner Weise mittriumphieren konnte, fand sie ihr Beisein in der Männerrunde einschläfernd. Auch weil diese Aneinanderreihung an Siegen, möglichen Gewinnen und zukünftigen Erfolgen schlicht und ergreifend langweilig war. Deshalb hatte sie nie wieder die Gelegenheit wahrgenommen, teilzunehmen. Hatte das Ganze mit einem Lachen abgetan und sich gedacht, dass sie, die Ers, doch lieber mal ungestört unter sich bleiben sollten. Das hielt ja keine Frau aus.
Jetzt allerdings hatte sie nachgedacht, analysiert und rekapituliert. Und festgestellt, dass Kollegen der Männerrunde überproportional häufiger die wichtigen Projekte bekamen, die mit Prestige. Dass viele Kollegen, die an ihr vorbei Karriere gemacht, den Posten bekommen hatten, den Sybilla zu erreichen versuchte, oft Teil dieser Männerrunden waren. Genauso wie die Chefs. Die gesellten sich nämlich auch - zwar spärlich, aber doch regelmäßig - zum spontanen Bier und Kaffee. Reichten diese wenige Male mit einem Chef aus, um die Karriere zu fördern? Reichte...