Schweitzer Fachinformationen
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Als es aufhörte zu regnen und die Wolkendecke aufbrach, wurde der Abend in ein klares Licht getaucht. Die Möwen flogen über der Mole hin und her und die Männer gingen im Schein der Abendsonne auf dem Containerplatz ihrer Arbeit nach. Das Fährschiff, das von R. zu den Aburi-Inseln unterwegs war, hatte soeben vom Kai abgelegt und verließ langsam die Bucht.
Von seinem Platz im Speiseraum des Schiffes aus sah Ryosuke das Hafenbecken vorüberziehen und konnte auch einen Teil des Decks und den Gang an der Reling betrachten. Dort hatte sich eine Wasserpfütze gebildet, die so intensiv schimmerte, als wäre ein Stück der Sonne hineingefallen. Lichtreflexe wanderten über die Kommandobrücke, ein flimmerndes Muster aus vielen sich überlappenden Kreisen, das sich im Takt der schwankenden Fähre beständig auflöste und wieder zusammenfügte. Ryosuke verfolgte diesen Rhythmus aus den Augenwinkeln. Während er die unsteten Lichtkreise besah, drifteten seine Gedanken ab.
»Hören Sie mir eigentlich zu?«
Der Mann mit der Brille, der schräg gegenüber auf der anderen Seite des Tisches saß, blickte Ryosuke in die Augen. Er war Bauleiter und überwachte die Arbeiten auf der Insel, die sie ansteuerten.
»Ich muss Sie wirklich bitten, mir zuzuhören. Auf dem Bau können Sie auch nicht vor sich hin träumen.«
Der Aufseher, der ungefähr Mitte vierzig sein musste, fasste sich an die Brille und strich dann über seinen äußerst spärlichen Bart. Die Fähre hatte gerade erst abgelegt, und bisher hielt sich nicht mehr als eine Handvoll Gäste im Speiseraum auf. Ein Mann, wahrscheinlich ein Fischer, nippte an einem Becher Shochu, und eine Gruppe älterer Damen unterhielt sich im Dialekt der Insel miteinander. Ansonsten befanden sich nur Ryosuke und der Bauleiter im Restaurant.
»Ryosuke Kikuchi, achtundzwanzig Jahre alt .«
Die Vibration des Motors ließ den Tisch mitsamt Ryosukes Lebenslauf erbeben. Der Bauleiter fixierte das Papier und verfolgte jede einzelne Zeile mit dem Finger.
»Studium abgebrochen. PKW-Führerschein. Zuletzt Anstellung als Koch. Ach ja, das wollte ich Sie bei unserem Telefonat noch fragen. Wo haben Sie denn gearbeitet? In einem chinesischen Restaurant?«
»Nein . in einem Restaurant mit westlicher Küche.«
»Können Sie Spaghetti mit Seelachsrogen kochen? Das ist mein Lieblingsgericht.«
»Ja.«
»Und Reis mit Omelette?«
»Aha. Und wie sieht es mit französischer Küche aus? Nicht, dass ich mich da groß auskennen würde. Aber was ist mit . sagen wir . Escargots?«
»Dafür braucht man besondere Schnecken aus Frankreich.«
»Kann man nicht auch die Schnecken von der Insel nehmen? Es gibt dort so ganz kleine.«
Der Bauleiter krümmte Daumen und Zeigefinger, um zu demonstrieren, wie winzig die Schnecken waren, murmelte dann aber wie zu sich selbst: »Na ja, hier am Meer schmecken Muscheln bestimmt sowieso besser.«
Er wandte sich erneut Ryosukes Lebenslauf zu.
»Da noch nicht abzusehen ist, wann die Bauarbeiten beendet sein werden, können Sie möglicherweise für eine ganze Weile nicht nach Hause fahren. Weiß Ihre Familie Bescheid?«
»Nein .«
»Wie bitte?«
»Ich . habe keine Familie.«
Der Bauleiter nahm das Blatt mit dem Lebenslauf in die Hand. Seine Augen bewegten sich hinter den Brillengläsern rasch hin und her.
»Und was ist mit dieser Notfallnummer?«
»Das war die Nummer meiner Mutter.«
»Ist sie gestorben?«
»Und Ihr Vater?«
»Der ist schon vor sehr langer Zeit .«
»Und Ihre Geschwister?«
»Hab ich nicht.«
Der Bauleiter blickte hinauf zur Decke und seufzte. Ryosuke sah wieder aus dem Fenster. Das flimmernde Licht hüpfte immer noch an derselben Stelle der Kommandobrücke hin und her. Auf der Reling spreizten zwei Möwen gleichzeitig ihre Flügel und flogen aufs offene Meer hinaus. Ein Mann mit einem khakifarbenen Seesack ging hinter der Scheibe vorbei, sein langes Haar wehte im Wind.
»Herr Kikuchi, gibt es denn vielleicht sonst jemanden in Ihrem Leben?«
»Bitte?«
Verdutzt sah Ryosuke den Bauleiter an, der ihm vertraulich zuzwinkerte.
»Na ja, eine Freundin.«
»Nein«, entgegnete Ryosuke mit einem Kopfschütteln. Der Bauleiter verschränkte seine Arme vor der Brust.
»Dann müssen Sie ja ganz schön einsam sein.«
Ryosuke stritt diese Aussage weder ab, noch bejahte er sie, er lächelte lediglich etwas unbeholfen. Vielleicht hatte der Bauleiter keine Lust, nach einem neuen Gesprächsthema zu suchen, jedenfalls blinzelte er noch mehrere Male und blickte Ryosuke schweigend an. In diesem Moment betrat der langhaarige Mann, der soeben noch auf dem Deck vorbeigegangen war, den Speiseraum. Er schaute sich um und ging dann geradewegs auf Ryosuke und den Bauleiter zu.
»Bin ich hier richtig?«, fragte er und deutete sich mit dem Finger auf die Brust.
»Moment mal.«
Halb im Stehen öffnete der Bauleiter seinen Ordner mit den Lebensläufen.
»Ähm . Herr Tachikawa? Sie sind wegen des Jobs auf der Insel hier?«
»Genau.«
Der Mann ließ seinen Seesack auf den Boden fallen und rief dann mit polternder Stimme, so laut, dass es jeder im Speiseraum hören konnte: »Hallo zusammen!«
»Moment mal . Einen Moment .«
Der Bauleiter legte den Kopf schief und verglich den Mann, der vor ihm stand, mit dem Foto auf dem Lebenslauf.
»Herr Tachikawa, nun, Sie sehen ganz anders aus als auf dem Bild, das Sie mir geschickt haben. Ihre Haare sind viel länger.«
»Das Foto ist ja auch schon vier Jahre alt.«
»Wie bitte? In der Anzeige stand doch ausdrücklich, dass die Aufnahme nicht älter als drei Monate sein sollte.«
»Tschuldigung, aber ich bin trotzdem noch der gleiche Mensch.«
»Sie sind nicht der Mensch auf dem Bild! Was werden die Leute auf der Insel nur zu Ihnen sagen? Könnten Sie sich die Haare vielleicht vor der Ankunft noch abschneiden?«
»Was? Meine Haare abschneiden?«
Tachikawas Miene verfinsterte sich, als würde er denken: Will der Alte mir etwa Vorschriften machen?
Der Bauleiter zögerte einen Moment lang, dann schüttelte er nervös den Kopf.
»Nein, also, das ist eigentlich in Ordnung. Ist schon in Ordnung . Nur .«
»Nur was?«
Der Bauleiter sah aus, als wollte er noch etwas sagen, doch er gab auf, als Tachikawa einen Stuhl zu sich heranzog und ihn angriffslustig taxierte.
Tachikawa ließ von ihm ab und streckte Ryosuke seine Hand entgegen. »Hallo, ich bin Jimmy«, sagte er. Einen Moment lang ließ Ryosuke die forsche Begrüßung des Neuankömmlings stocken, doch dann erwiderte er den Händedruck.
»Ryosuke Kikuchi.«
Erneut sah der Bauleiter auf Tachikawas Lebenslauf.
»Jimmy?«
»Ich habe früher in einem Host-Club gearbeitet, und das war mein Künstlername. Mein richtiger Name ist einfach nur langweilig.«
»Herr Ichizo Tachikawa.«
Tachikawa lachte etwas beschämt und zog dann die Stirn kraus, als hätte er nicht damit gerechnet, dass der Bauleiter seinen wahren Namen preisgeben würde.
»Stinknormal, wenn nicht sogar lächerlich. Ichizo . Klingt wie der Name von 'nem Clown«, sagte Tachikawa und wandte sich dann noch einmal an Ryosuke. »Komischer Name, oder?«
»Also, Herr Tachikawa, Sie sind dreiundzwanzig Jahre alt. Schule abgebrochen. Na, da haben Sie beide ja was gemeinsam! Und als Zusatzqualifikation sehe ich hier einen Englischtest, den Sie ganz knapp bestanden haben .«
»Hey, das müssen Sie doch hier nicht so ausposaunen!«
Mit einer schnellen Bewegung packte Tachikawa den Bauleiter an der Schulter. Er lachte nun nicht mehr. »Tut mir leid«, presste der Bauleiter hervor.
»Man muss doch nicht alles gleich jedem unter die Nase reiben, kapiert?«
»Es tut mir wirklich leid.«
Entschuldigend senkte der Bauleiter seinen Kopf, doch gleich darauf, warum auch immer, beugte er sich wieder über Tachikawas Lebenslauf und murmelte:
»Hachioji Boys-Bar, Host-Club Mondscheinschloss .«
»Was fällt Ihnen ein?«, knurrte Tachikawa und zog eine Augenbraue hoch.
»Oh, entschuldigen Sie! Das ist mir so herausgerutscht. Was ich sagen will: Sie beide haben Ihre Ausbildung abgebrochen und mehrmals die Arbeit gewechselt .«
Ryosuke und Tachikawa sahen sich an.
»Ich hoffe, Sie bleiben diesmal so lange, bis die Arbeiten beendet sind. Allerdings fährt die Fähre ohnehin nur ein Mal pro Woche. Sie kommen also gar nicht so einfach weg, selbst wenn Sie wollen.«
Der Bauleiter lachte laut auf, wobei er sein Zahnfleisch zeigte. Dann erhob er sich unvermittelt.
»Es wird übrigens noch jemand zu Ihrem Zweierbund dazustoßen. Seltsam . Am Telefon wurde mir gesagt, das Fährticket sei angekommen.«
»Wir sind also zu dritt?«
Tachikawa richtete die Frage nicht an den Bauleiter, sondern an Ryosuke. »Sieht so aus«, erwiderte dieser.
»Vielleicht macht Nummer drei ja ein Nickerchen in der Schiffskabine«, schaltete sich der Bauleiter ein. »Ist jetzt nicht zu ändern, dann gehe ich doch erst einmal etwas zu trinken holen! Aber es bringt wirklich alles durcheinander, wenn sich die Leute nicht an Abmachungen halten .«
Der Seufzer des Bauleiters kam Ryosuke ziemlich affektiert vor, gerade so, als wollte er dem abwesenden Dritten die Schuld für die verkrampfte Stimmung geben, die von Beginn an das Gespräch bestimmt hatte.
»Wie ist der denn drauf?«
Tachikawa sah dem Bauleiter missmutig nach, als dieser auf den Schalter...
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