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Morgen noch in Berlin oder schon in Jerusalem?
Ungefähr 95 000 Menschen in Deutschland gehören heute einer jüdischen Gemeinde an. Bei einer Gesamtbevölkerung von 83 Millionen ist das eine verschwindend geringe Zahl. Und doch steht diese Gruppe immer wieder im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit. Wegen der Shoah, antisemitischer Ausschreitungen, der israelischen Politik. In diesem Buch untersucht C. Bernd Sucher, wie es um die deutschen Jüdinnen und Juden steht. Dafür beleuchtet er sowohl Vergangenheit als auch Gegenwart und sucht in zahlreichen Gesprächen eine Antwort auf die Frage: Haben Juden in diesem Staat eine Zukunft – oder nicht?
"Es war nie einfach, als Jüdin oder Jude in Deutschland zu leben, und das ist es auch heute nicht. In gewisser Weise sind wir immer noch, oder besser: wieder im Zwischenzustand. Jüdisches Leben in Deutschland ist alles und nichts: Es ist ein Wunder, und es ist – zumindest ein bisschen – Normalität. Es ist Alltag und Ausnahmezustand. Es ist zugleich wundervoll und schwierig, motivierend und bedrückend." Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern
"'Unsichere Heimat' ist das Buch zur Stunde [.], tragischerweise."
C. Bernd Sucher ist seit 1996 Professor an der Hochschule für Fernsehen und Film in München und leitete an der Theaterakademie August Everding den Ergänzungsstudiengang Theater-, Film- und Fernsehkritik. Der langjährige Theaterkritiker der Süddeutschen Zeitung ist PEN-Mitglied und hat zahlreiche Bücher verfasst. Mit seiner Veranstaltungsreihe Suchers Leidenschaften begeistert er seit fast 20 Jahren das kulturinteressierte Publikum in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Bei Piper erschien zuletzt "Mamsi und ich".
Ja, es leben wieder Juden in Deutschland! Mit Stand 2021 registrierte der Zentralrat der Juden in Deutschland 91 839 Mitglieder in den deutschen jüdischen Gemeinden und Landesverbänden. Nicht mitgezählt sind jene Jüdinnen und Juden, die Mitglieder in den 27 Gemeinden der »Union progressiver Juden in Deutschland« sind, und jene, die zwar als Jüdinnen und Juden gelten - weil sie jüdische Mütter hatten oder haben -, aber keiner Gemeinde angehören. So kann nur geschätzt werden, dass in Deutschland ungefähr 225 000 Personen leben, die als Jüdinnen und Juden gelten (können).[3] Bei einer Gesamtbevölkerung von über 83?Millionen ist das eine verschwindend kleine Gruppe - nicht einmal 1?Prozent. Und doch steht sie immer wieder im Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit.
Wegen der Shoah. Wegen antisemitischer Ausschreitungen. Wegen der israelischen Politik. Und wegen der vielen gut gemeinten Appelle, dass die Juden zu diesem Land gehören.
Im Februar 2021 beschwor Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das seit Jahrhunderten gelebte Miteinander von Juden und Nichtjuden in diesem Land: »Welch beeindruckende Zeitspanne! 1700?Jahre jüdisches Leben feiern wir überall in Deutschland in diesem Jahr, und es war mir eine Freude und ein ganz besonderes Anliegen, als Bundespräsident die Schirmherrschaft für dieses Festjahr zu übernehmen - ein Jahr, in dem wir uns überall in unserem Land auf die Spuren jüdischen Lebens, jüdischer Kultur begeben. Erstes offizielles Zeugnis jüdischen Lebens auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands ist das Edikt des römischen Kaisers Konstantin im Jahr 321, das es Juden in Köln erlaubte, öffentliche Ämter zu bekleiden. Seither gehört das Judentum zu Deutschland, gehören Juden zu Deutschland - ich glaube, vielen Menschen ist gar nicht bewusst, wie tief das Judentum verwoben ist mit der Geschichte und Kultur unseres Landes, wie sehr es sie mitgeschrieben und mitgeprägt hat. Und ich hoffe und wünsche mir sehr, dass es in diesem Festjahr gelingt, mehr Bewusstsein dafür zu schaffen! Ich bin zutiefst dankbar, dass nach dem Zivilisationsbruch der Shoah wieder jüdisches Leben in Deutschland möglich ist, dass es wieder aufblühen konnte und heute so vielfältig, jung und voller Schwung ist. Das ist ein unermessliches Glück für unser Land.«[4]
Diese Meinung, dass die Jüdinnen und Juden in Deutschland für das Land ein »unermessliches Glück« sind, teilen nicht alle Menschen, die in der Bundesrepublik leben.
Ich meine nicht nur jene Deutsche, die Anschläge planen und verüben, die Juden beschimpfen, weil sie sie an der Kippa erkennen, oder Synagogenmauern beschmieren. Ich meine die unaggressive Mehrheit. In einer Studie des Pew-Forschungsinstituts aus dem Jahr 2018 antworteten 19?Prozent der Teilnehmer auf die Frage, ob sie Menschen jüdischen Glaubens in ihrer Familie gutheißen würden, mit Nein. 12?Prozent gaben keine eindeutige Antwort.[5] Ist diese Studie für Jüdinnen und Juden schon beunruhigend, so lehrt sie eine 2019 vom Jüdischen Weltkongress initiierte Umfrage das Fürchten. Danach waren 27?Prozent aller Deutschen antisemitische Gedanken keineswegs fremd. Die Begründungen für diesen Judenhass waren aberwitzig: Die Juden redeten zu viel über die Shoah, und sie hätten überhaupt zu viel Macht in Deutschland und der Welt, schlimmer noch, die Juden trügen die Verantwortung für die meisten Kriege. Auf die Frage, warum sie die Juden hassten, waren sich fast ein Viertel der Befragten sicher, dass die Juden selbst schuld seien, ihr Verhalten führe zur Ablehnung durch Nichtjuden.[6]
Um dem entgegenzuwirken, wird von Politikerinnen, Historikern, Publizistinnen und Vertretern der Kirchen immer wieder bekundet, was Deutsche den Juden während der Naziherrschaft angetan haben. Damit nicht genug. Zerstörte Synagogen wurden und werden wieder aufgebaut, neue Gotteshäuser wurden von den Juden mit der (finanziellen) Unterstützung von Nichtjuden errichtet, andere sind in Planung. Denkmäler wurden gebaut, ehemalige Konzentrationslager umgewidmet zu Begegnungsstätten. Jüdische Museen findet man inzwischen in allen großen Städten, in vielen kleinen und manchmal auch in Dörfern.
Ein nicht zu stoppender Philosemitismus machte sich breit. »Vor lauter >Juden< im Kopf könne«, so der Historiker Per Leo, der Antisemitismus »die widersprüchliche Vielfalt realer Juden nicht sehen.«[7]
Der Begriff Erinnerungskultur prägt die Diskurse, wenn von der jüdischen Geschichte in diesem Land und von der Gegenwart der jüdischen Bevölkerung in der Bundesrepublik gesprochen wird. Man setzt auf Erinnerung; sie wird erhofft, zuweilen sogar eingefordert. Wie anders sind solche Wort-Mutanten zu deuten: Erinnerungsarbeit, Erinnerungsaufgabe, Erinnerungsbemühung, Erinnerungshype, Erinnerungskampf, Erinnerungskrampf, Erinnerungspflicht, Erinnerungsversuch. Und das sind keineswegs alle.
»Nirgendwo wird so nachdrücklich erinnert und gemahnt wie in Deutschland, auch wenn dies einigen immer noch zu wenig geschieht und es anderen mittlerweile zu viel wird.«[8] Und die Bundeszentrale für politische Bildung erklärt auf ihrer Website: »Verdrängen, vergessen, verschweigen - die deutsche Erinnerung an Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg hat selbst eine Geschichte. Eine intensive Auseinandersetzung und Aufarbeitung setzte erst zögerlich ein, das Thema wurde zunächst weitgehend totgeschwiegen in der Bundesrepublik, während die DDR als >per se antifaschistischer Staat< jede Verantwortung für die NS-Verbrechen ablehnte. In den vergangenen Jahrzehnten wandelte sich die Erinnerungskultur, die Verantwortung, die sich aus der Vergangenheit ableitet, ist mittlerweile Teil der deutschen >Staatsräson<. Mit dem Untergang des SED-Regimes rückten auch neue Themen in den Fokus, beeinflusst durch die Rolle der Massenmedien. Wie steht es um die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit, und welche Rolle spielt die Vergangenheit in der Gegenwart?«[9]
Kann man Erinnerung einfordern? Kann das Erinnern an die Judenmorde im sogenannten Dritten Reich verordnet werden? Gibt es ein Überangebot an Erinnerungsorten, Erinnerungsveranstaltungen? Und welche Konsequenzen könnte das Überangebot haben? Etwa aus Überdruss die Akzeptanz von Antisemitismus in jeglicher Form?
In seinem Buch Tränen ohne Trauer - Nach der Erinnerungskultur schreibt Per Leo: »Der Läuterungsstolz, mit dem manche den Gewinn der Erinnerungsweltmeisterschaft bejubeln, ist genauso unangemessen und einseitig wie die Behauptung, der kritische Umgang mit dem Nationalsozialismus sei ein Mythos, dessen Haltlosigkeit sich am derzeitigen >Rechtsruck< und am Fortbestand völkisch-rassischer und antisemitischer Einstellung ablesen ließe.«[10]
Im vorliegenden Buch sollen Antworten gefunden werden auf die wichtigsten Fragen, die das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in Deutschland aufwirft - seit der Befreiung 1945 bis heute.
Wann ging es eigentlich los mit dem Antisemitismus nach dem Kriegsende? War er in diesem Land je verschwunden? Oder wurde er von der Politik nur verharmlost und verschwiegen? Die Historikerin Stefanie Schüler-Springorum schreibt in ihrem Essay »Das Untote - Warum der Antisemitismus so lebendig bleibt und ist« von der erstaunlichen »Stabilität der antisemitischen Architektur«.[11] Und Norbert Frei, ein Historiker und Publizist, der alle seine Äußerungen ebenso entschieden wie vorsichtig formuliert, präzisiert bei gleichzeitiger Kritik an den Thesen seines US-Kollegen Daniel Goldhagen: »Der Antisemitismus hat nie aufgehört, und die seinerzeit vor allem von Daniel Goldhagen propagierte Idee, dass er mit der Ankunft der Amerikaner überwunden war, beziehungsweise überwunden wurde, ist natürlich Unfug.«[12]
Gab es also schon wieder judenfeindliche Strömungen gleich nach der Kapitulation 1945? Was bewog Juden, die die Shoah überlebt hatten, im Land der Mörder zu bleiben oder gar dorthin zurückzukehren und hier heimisch zu werden? Sie wurden von vielen Juden im Ausland - vor allem denen in den USA und in Israel - angegriffen. Selbst Jahrzehnte später, vor der Jahrtausendwende, wunderte sich Yohanan Meroz, von 1974 bis 1985 israelischer Botschafter in Deutschland, noch darüber: »Ich kann es tatsächlich schwer verstehen, wie Juden nach der Schreckenszeit in Deutschland Fuß fassen konnten. Ich kann es schwer verstehen, weil ich in den deutsch-israelischen Beziehungen den einzig wirklichen Ersatz für eine...
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