Schweitzer Fachinformationen
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DIE ANKÜNDIGUNG
Die Stille des kleinen Zimmers, in dem wir uns befanden, fiel mir erst auf, als ich das Geflatter einer zwischen Lampenschirm und Glühbirne gefangenen Fliege wahrnahm. Nicht der kleinste Laut drang von der Straße herauf. So als wäre die Außenwelt verschwunden. Leonel lag ausgestreckt auf dem Bett und blickte zur Decke, vollkommen gelöst und entspannt, so still und stumm, als wäre er gar nicht da. Er hatte die Zigarette ausgedrückt, und der weiße Rauch strich noch durch die Luft des Raumes. Ich saß mit angezogenen Beinen neben ihm, das Kinn auf die Knie gestützt.
»Seltsam, wie sich die Dinge manchmal ergeben«, sagte ich.
Leonel antwortete nicht.
»Findest du das alles nicht sehr sonderbar? Manchmal frage ich mich, ob nicht alles seit jeher festgelegt ist. Was meinst du? Vielleicht wurden wir beide mit der Bestimmung geboren, uns genau in diesen Stunden zu lieben. Wenn ich darüber nachdenke, läuft es mir kalt über den Rücken. Das hieße, alles ist im Voraus beschlossen und das Leben lässt einem keine Wahl. Mir ist die Vorstellung lieber, dass uns innerhalb gewisser Grenzen Entscheidungsfreiheit gegeben ist und wir unser Schicksal teilweise in der Hand haben. Was meinst du?«
Wieder erhielt ich keine Antwort.
Da schaute ich ihn erneut an. Vollkommen reglos lag er neben mir, die Augen auf die weiße Decke gerichtet. Sie waren offen, unbewegt, starr und, oh Gott, blicklos, stumpf, erloschen. Er hatte nicht den leisesten Seufzer von sich gegeben, und auf seinem Gesicht lag der Friede einer Marmorstatue.
So ging sein Leben zu Ende. Ohne einen Laut, ohne ein Zeichen, ohne den kleinsten Wink. Wie wenn ein Vogel leise davonfliegt.
Ich dachte anfangs, ich wäre es gewesen, die ihn mit meinem Unglück angesteckt hatte, ich wäre es gewesen, die zu einer Art verkehrtem König Midas geworden war, und alles, was ich berührte, verwandle sich in Tod. Ich fühlte mich für seinen Tod verantwortlich, so wie bisweilen für meinen eigenen näher rückenden Tod. Aber jetzt wird mir klar, dass ich, mag auch diese unheilvolle Krankheit das Vorzeichen meines eigenen Endes sein, nichts mit dem Sterben meines Geliebten zu tun hatte. Leonels Tod hatte seine eigene Geschichte, und die hatte eine Woche zuvor begonnen, an jenem Samstag in meinem Obstgarten, als ich die sonderbare alte Frau neben den Pflaumenbaum pinkeln sah.
An jenem Morgen, Samstag, dem 9. Oktober, jätete ich Unkraut in dem Stück Erde, in das ich die Tomaten pflanzen wollte, als mich plötzlich ein sehr sonderbares Gefühl beschlich, ähnlich dem, das mich als Kind erfasst hatte, als wir meine Großmutter auf dem Friedhof von Molco beerdigten. Etwas war mit dem Wesen der Dinge geschehen, so als wären die Pflaumenbäume, die Clemente gepflanzt hatte, die Farne, die Erde, die ich eben noch so behutsam umgegraben hatte, und sogar ich selbst von einer neuen Gegenwart erfüllt. Ich blickte zum Himmel auf und sah, dass er sich zu verdunkeln begann, eine Decke aus dichten, schwarzen Wolken schloss sich über meinem Kopf, und eine Minute später war die Welt in tiefe Stille gehüllt. Das kann nicht sein, es ist elf Uhr morgens, es muss etwas mit dem Wetter zu tun haben, sagte ich mir, bemüht, meiner wachsenden Unruhe Herr zu werden. Da merkte ich, wie die Natur den Atem anhielt. Ein Gewitter oder etwas Ähnliches zog herauf. Die Luft war dichter geworden, wie an einem dieser Tage, die wie Suppe sind, mitten im Sommer. Ich steckte in einem heißen, reglosen Traum, fühlte mich gefangen in der erdrückenden Stille dieser gleichsam sinnlosen Dunkelheit.
Plötzlich war ich mir ganz sicher, dass noch jemand im Obstgarten war. Ich drehte den Kopf und sah eine große, knochige, in schwarze Lumpen gehüllte alte Frau. Sie war aus dem Nichts aufgetaucht und hockte nur wenige Meter von mir entfernt neben dem Stamm eines Pflaumenbaumes und pinkelte. Die Alte sah mich nicht einmal an. Sie pinkelte weiter, als wäre ich gar nicht da. Wie hypnotisiert starrte ich auf ihren Strahl, einen kristallklaren Strahl von gleichmäßigem Fluss, einen hellgoldenen Faden, der mich außerordentlich verblüffte, da ich gedacht hätte, der Urin des Todes sei eine zähe, grüne Flüssigkeit mit einem Geruch, der sich für immer in der Nase festsetzt. Die Alte pinkelte so seelenruhig, ohne jegliche Eile oder Scham, als wollte sie ihr Leben lang weiterpinkeln. Und ich wusste, es war meine Pflicht, zu warten, bis sie fertig war.
Jetzt hat's mich erwischt, dachte ich, schwindelig vor lauter düsteren Gedanken, die mir durch den Kopf jagten, diese Alte ist gekommen, um mich zu holen. Todsicher. Sie wird zu mir sagen: »So, Clara, weiter lässt sich das Gummi nicht dehnen, ich gedenke nicht, allein zu den Weiden zurückzukehren, auf denen an meinen Schergenmantel geschmiegt die Ewigkeit schlummert. Es ist so weit, meine Stunde ist da, bis hierher und nicht weiter bin ich gekommen, nirgends steht geschrieben, dass man im Bett, im Krankenhaus oder nach zwei Wochen schwerer Krankheit sterben muss. Zum Sterben gibt es kein festes Alter und keine festen Regeln. Der Tod ist ein grauser Scherge, verhaftet schnell, schrieb Shakespeare, und hat sich nie vom Alter seiner Opfer abhalten lassen. Man stirbt dort, wo man es am wenigsten vermutet. In der Badewanne, am Lenkrad, am Rednerpult. Oder bei der Lektüre der Dubliners, wie mein Vater. Wie und wo man stirbt, ist das Unwichtigste, am schlimmsten ist das, was danach kommt: Aufwachen und nicht wissen, was tun, nicht wissen, wohin, spüren, dass man keinen Boden unter den Füßen hat, dass nichts um einen ist als Luft. An einem Ort sein, wo man niemanden sieht und nichts hört als das eigene innere Gemurmel, einem Ort, an dem man nicht erkennen kann, ob es Tag ist oder Nacht, weil dort weder Licht ist noch fehlendes Licht. Und wissen, dass man für immer dort in diesem Zustand verharren wird. Mir standen die Haare zu Berge.
Da hob die Alte den Kopf, schob sich eine breite, fettige Haarsträhne aus der Stirn und sah mich mit einem Blick an, der mir vertraut schien. Und plötzlich begriff ich voller Entsetzen, dass ihre Augen meine eigenen Augen waren. Oh Gott! Das war ich selbst. Mit mir wird etwas Schlimmes geschehen, dies ist das Zeichen. Damals wusste ich weder, was geschehen würde, noch wofür diese Schreckensdame, die mich mit meinen eigenen Augen musterte, ein Zeichen sein mochte. Am naheliegendsten war der Gedanke, meine Krankheit habe diese Form gewählt, um mir zu verkünden, sie werde mich vernichten, und doch sagte mir eine leise innere Stimme, nein, das ist es nicht, die Alte ist gekommen, um mich auf etwas hinzuweisen.
Was ich da erlebte, kündigte mir den Tod meines Geliebten an, doch in diesem Augenblick konnte ich das natürlich unmöglich wissen, weil es meinen Geliebten nicht gab. Das heißt, für viele Leute gab es ihn, aber nicht für mich.
Zu meiner Verwunderung löste sich die Alte plötzlich in Rauch auf und verschwand so unvermittelt, wie sie gekommen war. Der Himmel gewann langsam seine allmorgendliche Helligkeit zurück, das Herz schlug mir bis zum Hals, hastig hob ich die Handschuhe auf, die zu Boden gefallen waren, nahm die Hacke und den kleinen Rechen, den ich vor ein paar Tagen gekauft hatte, und lief zurück ins Haus. Auf dem Weg durchs Esszimmer blieb ich vor dem Spiegel neben der Tür stehen. Da war ich selbst, Clara Griffin, nichts hatte sich verändert, ich sah mein blasses, schmales, alltägliches Gesicht, meine schwarzen Augen, meinen Mund mit den vollen Lippen. Ich fand mich immer noch sinnlich, trotz der Krankheit.
Vielleicht hatte der Tod mir gar nicht wirklich einen Besuch abgestattet, auch auf Träume ist nicht immer Verlass, jedenfalls fühlte ich mich in der hellen, angenehmen Atmosphäre unseres Hauses sicher. Nicht, dass mir dieses Haus gefallen hätte, denn es hat mir nie besonders gefallen oder, besser gesagt, an diesem von Clemente so geschmackvoll eingerichteten Ort war ich nie das gewesen, was man glücklich nennt. Wenn ich es mir jetzt überlege, weiß ich nicht, ob ich jemals irgendwo wirklich glücklich war, aber in diesem Haus lebte ich stets mit dem Gefühl, mich in einer Umgebung zu bewegen, die mir nicht gehörte. Eine hübsche Umgebung, aber immer still und ohne jeglichen Charme. Ein Ort, an dem, das will ich nicht bestreiten, Schönheitssinn und Harmonie herrschten. Alles sah ordentlich und peinlich sauber aus, und nichts war hässlich, aber es war auch nichts von mir. Ein seelenloser Ort. Möbel, Bilder, Teppiche, Antiquitäten, alles hatte Clemente ausgesucht, und noch bevor die einzelnen Dinge ins Haus einzogen, hatte schon jedes seinen Platz, so als hätte er bei der Anlage dieser Räumlichkeiten, die den Rahmen bilden sollten für ein wohlgeordnetes, akkurates Leben, wie es Clemente gefiel und mich deprimierte, bereits gewusst, welche Gegenstände er kaufen würde und wo er sie hinstellen wollte. Die zwei flämischen Sessel zu beiden Seiten des Kamins, der englische Schreibtisch, der früher einem Präsidenten gehört hatte, neben dem großen Fenster, das wunderschöne Bücherregal im Regency-Stil, das er in Valparaíso erstanden und an der hinteren Wand platziert hatte, der blaue Krug aus Sèvres-Porzellan auf dem Dielentisch, der Coromandel-Paravent aus dem Besitz einer französischen Millionärin, die ihre Gebeine nicht in Chile hatte zurücklassen wollen und zum Sterben in ihr altes Haus in Saint-Jean-de-Luz zurückgekehrt war, der Queen-Anne-Spiegel, den Clemente mir zum zehnten Hochzeitstag geschenkt hatte. Das ist ein einzigartiges Stück aus dem frühen 18. Jahrhundert, sagte er, als er mir das kleine, lackierte Möbelstück überreichte, in dem ein Spiegel über einer kleinen Schublade saß, in die drei Puderdosen und zwei Bürsten passten. Der Spiegel der Zwietracht, wie er ihn später nannte. Ich...
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