Schweitzer Fachinformationen
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Die 28-jährige Ayami ist Assistentin im einzigen Hörtheater von Seoul, nun wird es für immer geschlossen. Ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie ihr Leben künftig aussehen soll, streift sie bis spät in die Nacht mit dem Theaterdirektor durch die Straßen der Stadt, sie suchen nach einer gemeinsamen verschollenen Freundin und sprechen über Lyrik, Teilzeitjobs und die Vergeblichkeit von Liebe. Am nächsten Tag verdingt sie sich als Dolmetscherin eines gerade angereisten Krimiautors, sie sprechen über Literatur, Fotografie und die Vergeblichkeit, in den Norden zu reisen. Und während die Sommerhitze Seoul in einen Tempel betäubender Mattigkeit verwandelt, hält allmählich die Vergangenheit Einzug und lässt die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum zerfließen.
Weiße Nacht ist ein flirrender Fiebertraum, in dem wir eine Welt eintauchen, die unter dem Sichtbaren liegt. Eine Welt, in der mehrere Versionen unserer selbst gleichzeitig existieren und die von Schönheit und Güte und Abgründigem bewohnt ist.
Die ehemalige Schauspielerin Ayami saß auf dem zweiten Treppenabsatz des Hörtheaters, das Gästebuch in der Hand.
Sie war allein. Zu diesem Zeitpunkt war nichts anderes bekannt.
Bei erloschenem Licht wirkte das Innere des Theaters wie in trübes Wasser getaucht. Objekte zersetzten sich sanft, Identitäten wurden vage, fast undurchsichtig. Nicht nur Licht und Formen, auch Töne und Klänge. Der Theatersaal fasste nur fünf Zweiersofas. Die links und rechts davon schräg zulaufenden Treppen dienten als weitere Zuhörerplätze.
Die Zeit nach der Vorführung, wenn Ayami die Türen des Theaters verschlossen hatte und mit dem Gästebuch in der Hand auf ihrem üblichen Platz saß, war kostbar für sie. Zwar waren die Einträge der Theaterbesucher meist nichts Besonderes. Manchmal schrieben einige blinde Gäste etwas in Braille hinein, wovon Ayami jedoch nichts entziffern konnte. Aber sie hatte das Buch auch nicht in der Hand, um darin zu lesen, sondern um still einer Stimme zu lauschen, die in unregelmäßigen Abständen zu hören war.
Geh nicht weit weg, selbst nicht für einen Tag, weil
Weil . ein Tag lang ist und
Ich auf dich warten werde.
Ayami saß im Theatersaal, weil sich immer um diese Zeit ein irgendwo zwischen den tontechnischen Geräten verborgen liegendes, altes Radio von selbst einschaltete. Da sich Ayami vor der elektromagnetischen Strahlung fürchtete, die von Geräten, Kabeln, Mikrofonen und Lautsprechern ausgeht, und davon überzeugt war, dass die durch Schallwellen verursachten Interferenzen ihrem Körper schaden könnten, wagte sie es nicht, die massigen technischen Apparaturen zu berühren oder auch nur einen Blick dahinter zu werfen, um dort nach einem Radio zu suchen, das absichtlich versteckt oder achtlos zurückgelassen worden war. Obwohl sie eine feste Stelle beim Theater hatte, beschränkte sich ihr Umgang mit der Soundanlage darauf, eine CD in das Abspielgerät zu schieben und auf »Play« zu drücken. Hin und wieder kam ein Tontechniker im Auftrag der Stiftung vorbei, um die Geräte zu warten, doch Ayami hatte niemals mit ihm gesprochen.
Der Techniker trug eine Baseballkappe, die er immer so tief in die Stirn gezogen hatte, dass sein Gesicht verdeckt war und er damit wie sein eigener Schatten aussah. Meistens kam er mit dem Kleinbus, auch wenn ihn niemand begleitete und er keine schweren Geräte zu transportieren hatte. Der Bus war weiß und trug das Logo der Stiftung. Der Direktor des Hörtheaters wurde im Voraus über die genaue Ankunftszeit des Technikers informiert und sprach mit ihm, falls es etwas zu besprechen gab. Er begrüßte den Techniker bei dessen Ankunft und begleitete ihn, wenn er wieder ging, zum Bus.
Eines Tages wollte Ayami dem Direktor von dem Radio erzählen, das sich von selbst ein- und ausschaltete. Bisher war das noch nicht während einer Vorstellung passiert. Falls es sich nun doch einschalten würde, hätten sie ein Problem, und so fand sie, der Direktor müsse informiert werden, zumal er ihr Vorgesetzter und einziger Kollege war.
Ayami hielt vor der offen stehenden Bürotür des Direktors inne, als sei ihr dieser Gedanke ganz plötzlich gekommen, und sagte zu ihm: »Vielleicht gibt es ein Problem mit den Leitungen. Vielleicht ist ein Lautsprecherkabel fälschlicherweise mit dem Radio verbunden.«
Der Direktor schaute von seinem Schreibtisch auf. »Ich weiß von keinem Radio im Vorführsaal.«
»Merkwürdig«, sagte er, »diese Stimme ist mir noch nie aufgefallen. Zugegebenermaßen bin ich mit keinem sonderlich guten Gehör gesegnet.«
»Ich bin mir auch nicht ganz sicher, ob sie wirklich aus einem Radio kommt«, sagte Ayami zögerlich. Aber nun hatte sie schon damit angefangen und fühlte sich gezwungen weiterzusprechen. »Es ist nur eine Vermutung. Jedenfalls sind im Vorführsaal, wenn es im Theater ganz still ist, manchmal Stimmen zu hören, wobei ich besser sagen müsste, man fühlt, dass man etwas hört.«
»Was genau hörst du denn? Musik?«
»Nein, es klingt so, als lese jemand ganz langsam aus einem Buch vor, als murmele jemand etwas aus weiter Entfernung, ja, wie ein Selbstgespräch . eine monotone Stimme wie beim Seewetterbericht, bewusst langsam gesprochen, damit die Seeleute die Vorhersage mitschreiben können. Südöstliche Wellen 2,5 Meter, südwestliche Wellen, leichte Bewölkung, Regenbogen im Süden, Regenschauer, nordöstlicher Hagel, 2, 35, 7, 81 . so etwa.«
»Und du hörst diese Stimme meistens nach Ende der Vorstellung, also abends, wenn die Tontechnik abgeschaltet ist?«
»Ja.«
»Könnte es nicht vielleicht ein Klangschatten sein, der nach der Vorstellung noch zu hören ist?«
»Ein Klangschatten?«
»So was wie eine unbekannte Stimme.«
Ayami starrte den Direktor an, unsicher, ob er diese Bemerkung ernst gemeint oder nur einen Scherz gemacht hatte. Als sie noch mit ihrer Antwort haderte, weil sie sich kaum mit den ganzen Geräten auskannte, begann der Direktor wieder zu sprechen.
»Wenn übermorgen der Techniker kommt, werde ich ihn bitten, sich um die Sache zu kümmern, in Ordnung?«
»Ja, das wäre gut. Aber ich .«
»Was?«
»Ich dachte nur, es ist meine Pflicht, dich über Probleme zu informieren . deshalb fand ich, du solltest von der Sache wissen.«
»Und?«
»Um ehrlich zu sein . ganz egal, ob diese Stimmen nun von einem Radio oder einer Art Klangschatten stammen . sie sind nicht sehr laut. Wenn sich das Radio während der Vorstellung einschaltet, würde es sowieso von der Aufführung übertönt werden.«
Die Lippen des Direktors schienen sich kurz zu einem Lächeln formen zu wollen, vielleicht war es aber auch nur eine Muskelzuckung. »Das heißt also, du wolltest mich wissen lassen, dass es rätselhafte Radiogeräusche gibt, die dich aber nicht weiter stören?«
»So ist es.«
Bevor der Direktor noch irgendetwas erwidern konnte, war Ayami bereits zu ihrem Stammplatz in der Bibliothek geeilt.
Am späten Nachmittag, als sich die Sonne am Himmel tief neigte, strömten gelbrote Strahlen ihres letzten Lichts horizontal in das Gebäude, doch seine Innenwelt, in der die Lichter erloschen waren, lag bereits im Halbdunkel. Die Vorstellung wurde an diesem Tag von fünf hochgewachsenen Oberschülern besucht, einem Mann, der ihr Klassenlehrer zu sein schien, und einem stark sehbehinderten Mädchen, dessen Augen hinter schmalen Schlitzen verborgen lagen. Während der Vorstellung rutschten die Jungen unruhig auf ihren Plätzen hin und her und sprangen auf, noch bevor die Vorstellung vollständig beendet war. Fast fluchtartig stürmten sie aus dem Theatersaal und hasteten lärmend und drängelnd durch die gläserne Eingangstür. Die Tür schwang so plötzlich zurück, dass die Jungen von ihren Schatten getrennt wurden, die wie dunkle Geister zurückblieben.
Das sehbehinderte Mädchen verließ als letzte Besucherin das Theater. Als sie sich von Ayami verabschiedete, strich sie mit ihrem Mittelfinger über Ayamis Handrücken, um sich dann zu einem bestimmten Punkt auf der Innenseite ihres Handgelenks vorzutasten. Dort übte sie sanften Druck aus, als wolle sie Ayamis Puls fühlen. Für einen kurzen Augenblick dachte sie, das Mädchen wolle sie auf ganz eigene Weise einladen.
Das Mädchen war ungewöhnlich gekleidet, sie trug einen schlichten, grob gewebten, weißen Baumwoll-Hanbok - die traditionell koreanische Frauenbekleidung -, der einen intensiven Stärkegeruch verströmte. Ihr dichtes, schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, unter ihrem Rocksaum schauten einfache Hanfsandalen hervor.
Ayami war nicht die einzige ehemalige Schauspielerin, die gleichzeitig als Bürokraft, Bibliothekarin und Kartenverkäuferin in dem von der Stiftung betriebenen Theater geendet war.
Auch vor ihr hatten einige Frauen, die Verbindungen zur Theaterbranche hatten, diesen Job gemacht, fast alle waren Schauspielerinnen. Die Frau, die am längsten ausharrte, hatte es auf drei Monate gebracht, während es eine andere nicht länger als drei Stunden durchhielt. Niemand war auch nur annähernd so lange dabei geblieben wie Ayami, nämlich zwei Jahre. Der Job war, offen gestanden, langweilig und monoton, besonders für junge Frauen, die davor das...
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