Welcome to Elfin Cove
Virginia
Die Leuchten zum Anschnallen blinken über unseren Köpfen, und die Stewardess läuft noch einmal prüfenden Blickes den Gang hinunter, ehe auch sie sich zum Landeanflug bereit macht. Will tätschelt mir den Oberschenkel. »Tief durchatmen, gleich sind wir unten.«
Ach, das ist es doch gar nicht, Fliegen macht mir nichts aus. Der tatsächliche Grund, warum ich total verkrampft auf meinem Platz sitze, ist einzig und allein die Tatsache, dass ich mich tatsächlich zu diesem Auftrag habe überreden lassen und wir in wenigen Minuten in Juneau, Alaska, landen werden.
Das Ziehen in meinem Magen, das gar nicht mehr richtig verschwindet, seit feststand, dass ich diese Reise wirklich antreten werde, wird stärker.
Ist es eine Vorahnung? Angst? Ich will nicht landen. Ich will mich all den Zweifeln an meiner Herkunft nicht stellen müssen, die mich hier einholen könnten, und frage mich, ob mich das Flugzeug wohl mit zurück nach New York nimmt, wenn ich einfach nicht aussteige? Da sinkt die Boeing mit einem Ruckeln durch die Wolkendecke, durch die wir seit unserem Zwischenstopp in Seattle geflogen sind, und der Anblick, der sich mir bietet, lässt mich dichter ans Fenster rutschen.
Der Pazifik glitzert im Sonnenlicht, Schiffe in sämtlichen Größen heben sich als graue und weiße Tupfen von der fast schwarzen Wasseroberfläche ab, die zur Küste hin immer heller wird. Sieht gar nicht so anders aus als Vancouver Island. Häuser erstrecken sich entlang des Küstenstreifens, und dahinter erkenne ich, so weit das Auge reicht, nur Wald. Ein dichter dunkelgrüner Dschungel. Schneebedeckte Berge thronen am Horizont und . schon wieder Wolken. Weiß und dicht schlagen sie eine Schneise durch das ewige Grün, wie ein Meer aus Watte.
»Toll, nicht wahr?« Will hat sich neben mich gebeugt und strahlt. »Das ist einer der vielen Fjorde hier. Alaska hat Tausende Inseln, Flüsse und Seen. Sieht fast so aus wie bei den Hobbits, was? Ein Traum.«
»Hobbits?« Verständnislos schaue ich ihn an.
»Hobbits! Mittelerde? Herr der Ringe?«
Ich wedle mit der Hand. Ja, ja, schon gut. Ich weiß, was Hobbits sind. Einige der Mädchen auf dem Internat haben die Bücher nahezu verschlungen. Doch ich blieb lieber mit beiden Füßen auf dem Boden der Tatsachen, als mich in fantastische Welten zu flüchten. Schließlich habe ich sehr früh gelernt, dass mich das nicht weiterbringt.
Wir überfliegen einen Hügel. Felder und die Ausläufer einer Stadt tauchen unter uns auf, werden jedoch schnell erneut von Wasser abgelöst. Das Flugzeug ist nun schon so tief, dass ich für einen Moment den Atem anhalte. Wo ist die Landebahn?
Doch kaum dass ich wieder Wiesen sehe, schweben wir bereits über grauem Asphalt, und der Pilot setzt zur Landung an. Das Dröhnen der Turbinen verändert sich, ein kurzes Wackeln, dann haben wir festen Boden unter den Rädern. »Gelandet!«, ruft William und klatscht in die Hände. »Herzlich willkommen in Alaska!«
»Wir werden abstürzen.«
»Ach, jetzt hör auf.« Will ist genervt. Nach vierundzwanzig Stunden Dauernörgeln habe ich es tatsächlich geschafft. Und ganz ehrlich, ich kann mir selbst nicht mehr zuhören. Mit vor der Brust verschränkten Armen stehe ich am Kai, während mein Freund und Kollege seine Kameraausrüstung aus dem Taxi wuchtet und neben mir auftürmt. Wie viel Gepäck ist in so einem Wasserflugzeug eigentlich zulässig?
Missmutig betrachte ich die kleinen gelb-weiß lackierten Maschinen vor mir, wie sie sanft auf den Wellen schaukeln. Mit blubbernden Motoren nähert sich ein weiteres Flugzeug aus Richtung des Ozeans, da klingelt mein Handy. Es sieht beeindruckend aus, wie der Flieger der dunklen Wasseroberfläche immer näher kommt und die Kufen schließlich von weißer Gischt umgeben Wellen vor sich aufschieben.
Ich krame in meiner Handtasche - wo ist nur das Telefon? Eine Gruppe Touristen neben uns kommt aus dem Staunen und Fotografieren gar nicht mehr heraus. Ich höre ihre Begeisterung über den wunderbar weiten Himmel, die geheimnisvoll wirkenden Nebelschwaden über den Wäldern am anderen Ufer, und wie schön es ist, der Großstadt endlich entflohen zu sein.
Auch meine Augen registrieren das alles, doch in meinem Herzen ist es taub. Meine Nerven liegen blank. Mir ist zum Heulen zumute. Ich bin tatsächlich in Alaska . »Hallo?« Ich habe das Handy gefunden und hebe es eilig ans Ohr, ehe der Anruf weg ist.
»Virginia? Störe ich? Was ist das für ein Brummen im Hintergrund?«
»Ach, nur ein Flugzeug, Sebastian.« Ich schirme das Telefon mit der Hand ab und drehe mich zum Hafen, hinter dem sich die Gebäude von Juneau bis an die Hügel erstrecken. Ziemlich klein für die Hauptstadt eines so riesigen Landes. Kommt mir hier irgendetwas bekannt vor? »Gibt es Neuigkeiten?«, frage ich ins Telefon.
»Allerdings! Wir haben einen Käufer, Virginia! Wenn Sie dem Angebot zustimmen, können wir binnen eines Monats verkaufen.«
Ich , korrigiere ich ihn im Geiste. Kann ICH verkaufen . Nur, weil Sebastian seit gefühlten Jahrzehnten meine Familie und die Firma in Rechtsangelegenheiten vertritt, ist er noch lange kein Teil davon. »Liegt das Angebot denn im erwarteten Bereich?«, frage ich.
»Allerdings!« Ich rolle die Augen. Es ist wahrlich sein Lieblingswort. »Wir sollten zuschlagen, Virginia. Wann können Sie nach Victoria kommen?«
Wenn er wüsste, wie nah ich ihm gerade bin . »Ich bin geschäftlich unterwegs, Sebastian. Sobald ich zurückkehre, melde ich mich, in Ordnung? Schicken Sie mir die Eckdaten gerne schon mal per E-Mail. Bis bald!« Ich lege auf und entlasse die Luft aus meinen aufgeplusterten Wangen.
Im erwarteten Bereich. Seit drei Jahren, seit Grandmas Tod, suche ich nun schon nach einem Käufer. Oder vielmehr Sebastian. Auch wenn unser Verhältnis ein wenig unterkühlt ist, so bin ich doch dankbar, ihn zu haben. Meinen Großeltern über den Tod hinaus loyal gesinnt, kümmert er sich für mich um die Geschicke der Firma. Ich wollte damit partout nichts zu tun haben und versprach ihm dafür einen stattlichen Anteil vom Verkaufspreis.
»Hey.« Will legt mir seinen Arm um die Schultern und zieht mich an sich. »Alles in Ordnung? Wer war dran?«
»Sebastian. Stell dir vor, es gibt einen Interessenten. Wenn das klappt, könnte ich in ein paar Wochen frei sein!«
»Na, wenn das keine guten Nachrichten sind! Aber vergiss mich nicht, wenn du reich bist, ja?« Er knufft mich in die Seite. »Und jetzt schenk mir ein Lächeln. Es ist doch gar nicht so schlimm hier, oder?«
Seufzend lasse ich meinen Kopf gegen seine Brust sinken. »Danke, Will.«
»Wofür, Zuckerschnecke?«
»Dass du mich erträgst.«
Mit einem leisen Lachen knuddelt er mich und drückt mir einen Kuss auf den Scheitel. »Schon in Ordnung. Ich habe kräftige Schultern, an denen du dich jederzeit anlehnen und ausheulen darfst. Schau einfach immer nach vorn. Und jetzt lächeln, ja?«
Dankbar schließe ich meine Arme um ihn. Ich weiß nicht, was ich die letzten Monate ohne Will gemacht hätte. Er ist ein echter Freund. Meinen Koffer hinter mir herziehend, folge ich ihm den Kai hinunter bis zu dem Flugzeug, auf dessen Tür die Dreiundvierzig prangt. Der Pilot, ein mittelgroßer, leicht untersetzter Mann mit grauem Haar und Basecap der Fluggesellschaft, steht auf einer der Kufen und putzt das Fenster.
Geradezu liebevoll rotiert er den Lappen über das Glas und pfeift eine Melodie vor sich hin. »Entschuldigung, Sir«, ruft William. »Elfin Cove?«
Mein Blick schweift über das rot-schwarz karierte Flanellhemd, das der Mann trägt, und bleibt an seinen Beinen hängen, die bis zu den Oberschenkeln in olivgrünen Gummistiefeln stecken. Die dazugehörigen Hosenträger - oder in diesem Fall eher Stiefelträger - hat er sich locker um die Hüften gebunden. Holzfäller-Overknees , schießt es mir durch den Kopf. Mit Strapsen .
»Lachen Sie ruhig, Ma'am. Wenn wir landen, werden Sie sich noch wünschen, solch edle Beinkleider zu besitzen.« Seine blauen Augen blitzen belustigt, als er sich zum Steg hinaufzieht und mir seine große behaarte Pranke entgegenstreckt. »Hi, ich bin Mac, Ihr Chauffeur in die Wildnis.«
»Entschuldigung«, nuschle ich und spüre, wie mir die Schamesröte in die Wangen steigt.
Doch Mac winkt lachend ab. »Nicht schlimm, Mädchen. Ihr wollt also nach Elfin Cove ? Dann rein in meine süße Betty! Warte, ich helf dir mit dem Gepäck.«
Betty? Da sehe ich das Airbrush-Bild eines Pin-up-Girls mit roten Locken und Fliegerkappe auf dem Kopf am Heck der Maschine prangen, und meine Bedenken weichen Zuversicht. Kein Wunder, dass der alte Kauz den Putzlappen schwang, als würde er eine Kostbarkeit pflegen. Er scheint seine Betty sehr zu lieben, was mir wiederum die Angst nimmt, über dieser undurchsichtigen grünen Hölle abzustürzen. Wer liebt, der kümmert sich. So stelle ich es mir zumindest vor.
Trotz aller Zuversicht taste ich dennoch nach Williams Hand, als alles an Bord verstaut ist und sich der Propeller ratternd und knisternd in Bewegung setzt.
»Seid ihr bereit?«, erkundigt Mac sich über unsere...