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Hannah
Bloß nicht! Stirb bloß nicht auf der Bühne! Denk nicht mal daran! Das wäre echt das Allerletzte!
Mit diesem sagenhaft motivierenden Gedanken trete ich zum ersten Mal hinaus ins grelle Scheinwerferlicht des Theaters, jedenfalls zum ersten Mal richtig. Als Schauspielerin.
Natürlich bin ich vorher schon tausendmal hier gewesen. Mit einem Theaterdirektor zum Vater wächst man praktisch auf der Bühne auf - was unglaublich glamourös klingt, bis herauskommt, dass sich diese Bühne in einer Kleinstadt in Somerset befindet, und nicht, sagen wir, in New York. Mein Auftritt ist zugleich mein Debüt bei der Theatergruppe unserer kleinen Stadt, und nicht etwa der Royal Shakespeare Company. Und da wir gerade gnadenlos ehrlich sind, geben wir auch gleich zu, dass weder Hamlet noch Nora oder Ein Puppenheim noch irgendein anderes der Stücke aufgeführt wird, die ich für den Schauspielunterricht in der Schule hätte lesen sollen. Nein, unser Stück ist ein derber »Schwank« aus den Siebzigern, geschrieben von einem Typen, von dem ich vorher noch nie gehört hatte. Mein Dad nennt es »Bleib doch ein sexistisches Arschloch«, aber das ist natürlich nicht der richtige Titel. So was kommt jedenfalls beim hiesigen Publikum gut an, deswegen müssen wir uns damit begnügen. Sally, die Intendantin der Theatergruppe, hat immerhin das Drehbuch etwas modernisiert - hauptsächlich, indem sie die rassistischen Witze gestrichen hat. Die sexistischen sind dringeblieben, denn offenbar sind sie so lange okay, wie wir sie ironisch darstellen. Ich habe eine Menge darüber gelernt, was Erwachsene akzeptabel finden, seitdem ich mich im vergangenen Jahr der Theatergruppe angeschlossen habe. Ich komme nicht viel raus, deswegen muss ich meine Lebenserfahrung da zusammenkratzen, wo mir das Leben begegnet.
Als mein Einsatz kommt, geht es auf der Bühne schon rund. Ein spießiges Wohnzimmer aus den siebziger Jahren mit limonengrünem Sofa, Flokati und Bambus-Wohnzimmertisch bildet die Kulisse. Ted ist brillant in seiner Hauptrolle als neurotischer, verwirrter Buchhalter, der kurz vor seiner Pensionierung steht und einem sterbenslangweiligen Lebensabend entgegenblickt. Sally hat die Rolle genial besetzt, denn im wahren Leben ist Ted ein neurotischer, verwirrter Buchhalter, der kurz vor seiner Pensionierung steht und einem sterbenslangweiligen Lebensabend entgegenblickt. Natasha spielt seine Ehefrau, obwohl sie mindestens zwanzig Jahre zu jung und tausendmal zu cool ist, um mit Ted verheiratet zu sein. Früher hat sie die PR für eine Kunstgalerie in London gemacht, aber sie und ihr Mann entschlossen sich, vor der Ankunft ihres zweiten Kindes den Karrierestress hinter sich zu lassen. Natasha hat mir gestanden, dass ihr das Leben in Somerset vorkommt wie eine Mischung aus Und täglich grüßt das Murmeltier und Beim Sterben ist jeder der Erste. Ich habe Beim Sterben ist jeder der Erste gegoogelt und glaube nicht, dass es ein Kompliment war. Dora, zuständig für die Requisite, hat Natashas graue Perücke in einem Kostümverleih gefunden, und Margaret - mit einundachtzig die Älteste in der Theatergruppe - behauptet, Natasha sähe damit aus wie eine französische Dirne. Margaret ist die ruppigste und zynischste Person, die mir je begegnet ist, und außerdem eine meiner besten Freundinnen. Habe ich erwähnt, dass ich nicht oft rauskomme? Jedenfalls musste ich »Dirne« googeln, und jetzt ist es mein Lieblingswort.
Folgende Szene erwartet mich: ein neurotisches Mittelschichtspaar im Großbritannien der siebziger Jahre bereitet eine Dinnerparty für die neuen Nachbarn vor, die sehr vornehm und angesehen zu sein scheinen. Doch dann kommt die halbwüchsige Tochter der Gastgeber sturzbetrunken von einer Party nach Hause, und sie müssen sie im Schrank unter der Treppe verstecken. Ich trage ein knallbuntes Blumenkleid ganz aus Polyester und statisch aufgeladen, und während ich versuche, den Rock zu glätten, nickt mir Sally vom Bühnenrand aus zu, und ich weiß, dass gleich mein Stichwort kommt.
Tief durchatmen.
Mein Herz klopft, aber ich versuche, den Gedanken daran zu verdrängen. Der Soundeffekt einer Türklingel wird eingespielt, und dann bin ich dran. Durch den schwarzen Vorhang, raus auf die offene Bühne, vor Reihen von Leuten, die tatsächlich dafür bezahlt haben, von uns unterhalten zu werden.
Ach du Scheiße, jetzt geht's los!
Als Erstes spüre ich ein seltsames Knistern in der Luft, eine Art allgegenwärtige Spannung, die meine Haut zum Kribbeln bringt - entweder aus Angst vor dem Publikum oder durch die Elektrizität, die mein leicht entflammbares Polyesterkleid generiert. Ich versuche das Gefühl zu ignorieren und konzentriere mich auf meinen Part. Kichernd zucke ich mit den Schultern, als mich meine Eltern fragen, was zum Teufel mit mir los ist. Dann schwanke ich an Natasha vorbei, deren Perücke ihr irgendwie keck über das rechte Auge gerutscht ist, stolpere und krache der Länge nach auf den Servierwagen. Da, vereinzelte Lacher aus dem Publikum! Was mich erleichtert, denn ich habe null Erfahrung mit Alkohol. Im Schauspielunterricht haben wir den Theaterreformer Konstantin Stanislawski gelesen, der sagt, dass die beste künstlerische Leistung aus dem »emotionalen Gedächtnis« des Künstlers hervorgehe - indem man sich auf etwas besinnt, das man selbst erlebt hat. Doch im Zusammenhang mit Alkohol erinnere ich persönlich mich nur daran, wie mein Vater bei der Feier seines siebenunddreißigsten Geburtstags im Pub von einer Bank fiel und sich eine Platzwunde zuzog. Also habe ich mir jede Menge Seifenopfern reingezogen und »betrunkene Teenage-Mädchen« in die Google-Bildersuche eingegeben. Diesen Fehler mache ich nicht noch einmal.
Ich bin also auf der Bühne und liege quer über den hässlichen Möbeln. Ted und Natasha spritzen mir Wasser aus einer Vase ins Gesicht, um mich auszunüchtern - das Publikum kichert. Es macht Spaß, es klappt wirklich gut.
Dann sehe ich aus dem Augenwinkel heraus Dad - Tom, für alle anderen -, der mich vom seitlichen Bühnenrand aus beobachtet. Er trägt sein übliches Outfit: schwarze Jeans, Hemd, Krawatte und Blazer. Sein Haar steht in alle Richtungen ab, und das Gel glänzt im Licht. Meine Freundinnen Jenna und Daisy behaupten, er sähe aus wie ein alternder Popstar - irgendwie attraktiv, aber ein bisschen aus dem Leim gegangen und mit den ersten grauen Haaren. Ich sehe ihm gar nicht ähnlich. Den Fotos nach zu urteilen gleich ich eher meiner Mum - schmal, insgesamt ganz okay, graue Augen und hohe Wangenknochen, die wie geschwollen wirken, wenn ich zu viel Rouge auflege. Ach ja, und ich habe wilde Locken, von denen Jenna meint, sie sähen aus wie »eine explodierte Korkenzieherfabrik«. (Ziemlich nützlich, wenn man eine Besoffene spielt.) Egal, jedenfalls verrät Dads Gesicht in diesem Moment die vertraute Mischung von übertriebenem Stolz und Ermutigung, die ich so gut kenne. Das ist auch so etwas, das meine Freundinnen über ihn sagen: Er sei anders als andere Väter, weil er immer gut drauf sei. Er interessiere sich nicht sonderlich für Sport und höre ihnen aufmerksam zu, wenn sie mit ihm redeten. Er versetze sich in sie hinein. Das alles scheinen seltene Vorzüge von Vätern zu sein, was ich traurig finde.
Als ich klein war, hat er mich immer mit hierher genommen, damals, nachdem er die Direktorenstelle bekommen hatte. Er hob mich hoch auf die Bühne und inszenierte Geschichten für mich. Wenn wir dort oben saßen, im Licht eines einzelnen Scheinwerfers, brachte er mir das Lesen bei, während wir uns an Märchenbüchern (von denen ich wie besessen war und bin) und der Standardlektüre angehender Schauspieler abarbeiteten. Das gehört zu meinen schönsten Erinnerungen. Selbst wenn Dad arbeiten musste, holte er mich von der Schule ab und fuhr ohne Umwege mit mir zum Theater. Während er mit irgendeinem tourenden Ensemble zusammensaß und die Aufführung plante, rannte ich umher, tollte über die Bühne oder marschierte durch die Stuhlreihen, rufend und singend. Zu meinen Geburtstagen fingen wir irgendwann an, gemeinsam kleine Theaterstücke zu schreiben und sie mit der Theatergruppe aufzuführen, für alle unsere Verwandten und Freunde. Diese kleine Tradition war das Größte für mich! Jetzt fühlt es sich an, als sei es lange her.
Natürlich sehnte ich mich danach, in einem richtigen Stück mitzuspielen, aber Dad schob es immer wieder hinaus. »Die Leute würden gleich von Vetternwirtschaft in der Kunst ausgehen«, ermahnte er mich. »Die Kritiker würden uns zerreißen wie wilde Hunde.« Ich bezweifle ernsthaft, dass die Theaterkritikerin unserer Lokalzeitung in der Lage ist, irgendetwas zu zerreißen, geschweige denn eine Person, da sie eine sanftmütige siebzigjährige Frau mit einer Vorliebe für den längst verstorbenen Schauspieler Noël Coward ist. Doch Dad ließ sich nicht erweichen. Letztes Jahr weigerte er sich, mich die Cecily in Ernst sein ist alles spielen zu lassen mit der Begründung, es gäbe einige gefährliche Stunts. So ein Schwachsinn!
Als die Theatergruppe dann aber dieses Stück auswählte und es eine Rolle für ein fünfzehnjähriges Mädchen gab, bettelte ich Sally regelrecht an, sie mir zu geben. Sie war einverstanden unter der Bedingung, zuerst Dad zu fragen - »aus gesundheitlichen Gründen«. Ehrlich gesagt machte ich mir keine Hoffnungen. Ich weiß ja, dass er mich nicht für eine schlechte Schauspielerin hält, die an seinem Ruf kratzen könnte, sondern sich einfach nur Sorgen um mich macht. Am liebsten würde er mich in einem kleinen Zimmer einschließen und niemals rauslassen. Nein, Moment mal, das klingt schrecklich. Am liebsten würde er mich in Luftpolsterfolie einpacken und ....
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