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Kapitel 1
Ich bin getrennt.
Das ist mein erster Gedanke, als ich aus dem Haus gehe, die Straße überquere und in unseren alten Kombi steige. Eigentlich müsste es heißen, wir sind getrennt, aber dass es überhaupt so weit gekommen ist, liegt wohl größtenteils an mir. Ich schaue in den Rückspiegel und sehe Jody, meine Frau, an der Tür stehen, das lange Haar ganz zerzaust. Sam, unser achtjähriger Sohn, vergräbt den Kopf in ihrer Kleidung. Gleichzeitig versucht er, sich Augen und Ohren zuzuhalten. Aber nicht, weil er dagegen ist, dass ich wegfahre. Sondern weil er weiß, dass gleich der Motor anspringt und er die Lautstärke nicht aushält.
Ich mache eine dämliche Entschuldigungsgeste, als hätte ich gerade jemandem aus Versehen die Vorfahrt genommen. Dann drehe ich den Zündschlüssel. Der Wagen rollt schon, da klopft Jody plötzlich an die Scheibe. Ich kurbele sie herunter.
»Pass auf dich auf, Alex«, sagt sie. »Bitte, setz dich endlich damit auseinander. Das hättest du schon vor Jahren machen sollen, als wir noch glücklich waren. Wenn du es damals getan hättest . wer weiß. Vielleicht wären wir dann noch immer glücklich.«
Eine Träne läuft ihr über die Wange. Wütend wischt sie sie weg. Als sie mich wieder anschaut, wird ihr Blick plötzlich weicher. Vielleicht liegt es an meiner schuldbewussten, bekümmerten Miene.
»Erinnerst du dich noch an unseren Campingurlaub in Cumbria?«, fragt sie. »Als die Ziegen unser Zelt auffraßen und dir vor Kälte fast die Füße abgestorben sind? Das war viel schlimmer als das hier.«
Ich nicke wortlos. Dann lege ich den Gang ein und fahre los. Als ich das nächste Mal in den Rückspiegel schaue, sind Jody und Sam nicht mehr zu sehen. Die Haustür ist zu.
Das war's dann wohl. Neun Jahre waren wir zusammen, aber jetzt ist anscheinend Schluss. Und ich sitze in unserer Schrottkarre und habe nicht die geringste Ahnung, wo ich hinfahren soll.
Sam war ein schönes Baby. Er war von Anfang an schön. Schon bei seiner Geburt hatte er dichtes braunes Haar und einen großen Schmollmund. Er sah aus wie ein winziger windeltragender Mick Jagger.
Von Anfang an war er aber auch schwierig. Er wollte nichts zu sich nehmen, er wollte nicht schlafen. Er schrie die ganze Zeit, er schrie, wenn er bei Jody war, und er schrie, wenn er ihr weggenommen wurde. Er schien zutiefst empört darüber, auf der Welt zu sein. Es dauerte einen ganzen Tag, bis er sich endlich stillen ließ. Als Jody ihn an der Brust hielt, heulte sie vor Erleichterung, so fertig und verzweifelt war sie. Und ich schaute verstört und verwirrt zu, klammerte mich an eine Sainsbury's-Tüte mit Schokoriegeln und Zeitschriften, lauter sinnlose Mitbringsel für die frischgebackene Mutter. Ich begriff sehr schnell, dass ich ihr nichts geben konnte, was es irgendwie leichter machen würde. So war es also. Unser neues Leben. Die reinste Achterbahnfahrt.
»Du kannst so lange bleiben, wie du willst, Alter«, sagt Dan, als ich dreiundzwanzig Minuten später bei ihm klingele. Ich war mir sicher, dass ich auf Dan zählen konnte - oder zumindest war ich mir sicher, dass er sonntagnachmittags zu Hause sein würde, weil er sich dann normalerweise von einer Cluberöffnung, einem One-Night-Stand oder einer aufregenden Mischung aus beidem erholt.
»Du kannst im Gästezimmer pennen«, sagt er, als wir in den Aufzug steigen. »Irgendwo hab ich 'ne Luftmatratze. Kann aber sein, dass die undicht ist. Aber das sind die ja immer, oder? Hast du schon mal auf 'ner Luftmatratze gepennt, die nicht undicht war? O Mann, tut mir leid, du hast gerade andere Sorgen. Hab's kapiert.«
Dann stehe ich wie betäubt in seiner Wohnungstür, in der Hand die Nike-Sporttasche mit Klamotten, meinem Notebook, ein paar CDs (warum nur?), Waschzeug und einem Foto von Jody und Sam, das ich vor vier Jahren beim Urlaub in Devon aufgenommen habe. Darauf sitzen beide am Strand und lächeln, aber das war bloß eine Farce. Die ganze Woche damals war der reinste Albtraum, weil Sam nicht in dem komischen neuen Bett mit der ungewohnt schweren Decke schlafen konnte, ganz abgesehen davon, dass er furchtbare Angst vor Möwen hatte. Also schlief er bei uns, aber er war total unruhig und wachte dauernd auf - und irgendwann waren wir schließlich alle so erschöpft, dass wir es kaum noch schafften, den Wohnwagen zu verlassen. Danach waren wir im Grunde nie wieder im Urlaub.
»Willst du rausgehen und dich besaufen?«, fragt Dan.
»Ich . ist es okay, wenn ich meinen Kram ins Zimmer bringe und mich ein Weilchen hinsetze?«
»Klar. Ich mach uns 'nen Tee. Ich glaub, es sind auch noch Kekse da. Bin mir sogar ziemlich sicher.«
Dan geht in die Küche, und ich trotte ins Gästezimmer, schmeiße meine Tasche auf den Boden und sinke auf den Bürostuhl vor Dans Computer. Einen Moment lang überlege ich, den Computer einzuschalten und Jody eine E-Mail zu schicken, aber dann schaue ich doch nur aus dem Fenster. Was soll ich denn schreiben? »Hi Jody, tut mir leid, dass ich unsere Ehe verbockt habe. Können wir die letzten fünf Jahre nicht einfach vergessen? LOL.«
Ehrlich gesagt weiß ich inzwischen gar nicht mehr, wie ich überhaupt noch mit ihr reden kann, geschweige denn, was ich ihr schreiben soll. Wir haben nämlich unsere gesamte Ehe eigentlich nur damit verbracht, uns um Sam zu sorgen. Entweder hatte er Wutanfälle und brüllte uns an, oder aber er schwieg beharrlich, verkroch sich in sein Bett und verweigerte jeden Kontakt mit uns. Und während wir tagelang, ja monatelang damit beschäftigt waren, uns für den nächsten Super-GAU zu wappnen, ging das, was uns als Paar verband, allmählich immer mehr verloren. Und jetzt fühlt es sich auf einmal ganz seltsam an, nicht mehr bei Sam zu sein. Die Anspannung ist weg, aber stattdessen bin ich nur noch traurig. Der Zustand emotionaler Leere ist von der Natur anscheinend nicht vorgesehen.
Von Dans Wohnung im siebten Stock einer schicken neuen Anlage am Stadtrand hat man einen Blick auf ganz Bristol; ein Pflasterstein-Panorama aus viktorianischen Reihenhäusern, Kirchtürmen und Bürogebäuden aus den Sechzigern, die sich wie hektische Pendler aneinanderdrängen. Da draußen gibt es Tausende von Häusern, in denen Familien leben - Familien, die nicht gerade eben erst auseinandergebrochen sind.
Vielleicht sollte ich mich doch besaufen? Plötzlich sind meine Augen ganz verschwommen. Ich brauche ein paar Sekunden, um zu kapieren, warum. Oh. Okay. Ich heule. Und dann laufen mir die Tränen auf einmal wie Sturzbäche über die Wangen, meine Nase fängt an zu laufen, und ich zittere.
»Tee ist fertig«, ruft Dan aus dem Flur. »Ich dachte, ich hätte noch Schoko-Hobnobs, aber ich hab nur noch diese Packung Rich Tea. Ist das auch okay?«
Dann sieht er, dass ich schluchzend neben seinem Bürostuhl auf dem Boden sitze.
»Okay«, sagt er und stellt sanft den Tee auf den Schreibtisch. »Ich schau mal nach, ob ich nicht doch ein paar Hobnobs finde.«
Wir beschließen, uns nicht zu besaufen.
Nachts träume ich, dass ich in einem schrecklichen schwarzen Sumpf versinke, aus dem es kein Entrinnen gibt. Ich schrecke hoch und ringe nach Luft. Ein Alptraum, kein Wunder bei meinem desolaten Gemütszustand. Erst ein paar Sekunden später bemerke ich, dass Luft aus der Matratze entweicht und ich buchstäblich einsinke. Aha. So viel zum Unterbewusstsein.
Wie bin ich bloß hierhergeraten? Jetzt fängt die Matratze auch noch an, wie ein Welpe vor sich hin zu furzen. So ist das eben, wenn man morgens um drei sein Leben analysiert: Wenn die Luft langsam rausgeht, bleiben nur noch die Fehler übrig, die man begangen hat, die vielen Momente des Scheiterns - die Löcher. Man kann im Dunkeln sogar hören, wo die Löcher sind. Oder wenigstens glaubt man das. Aber dann stellt man fest, dass sie doch ganz woanders sind. Wie bei einer Luftmatratze eben. Die altgriechischen Philosophen hatten ja diesen Spruch, »Erkenne dich selbst«. Ich weiß noch, was ich an der Uni über Ödipus gelernt habe: Sein großer Fehler bestand darin, nicht zu wissen, dass er nach der Geburt von seinen Eltern getrennt worden war und deshalb besser darauf verzichtet hätte, unterwegs wildfremde Typen zu töten oder Frauen zu vögeln, die doppelt so alt waren wie er. Aber wer erkennt sich schon selbst? Damit will ich natürlich nicht sagen, dass wir alle in unserem Leben die gleichen Fehler wie Ödipus machen werden, das wäre ja idiotisch. Aber wer kennt denn wirklich die Gründe unseres Handelns? Ich stecke in diesem Scheißjob fest, mache dauernd Überstunden, stapfe im Dunkeln nach Hause und rede mir ein, dass ich es tun muss, weil wir das Geld und die Sicherheit brauchen. Sam bekommt Sprachtherapie, und Jody kann nicht arbeiten gehen, weil Sam ständig auf sie angewiesen ist. Jedes Mal, wenn ihm sein eigenes Verhalten Angst macht, läuft er zu ihr. Und ich stehe dann besorgt und dämlich im Hintergrund herum und biete nutzlose Hilfe an. Wie kann ich es nur hinkriegen, dass alles wieder gut wird?
Irgendwann gegen vier falle ich in ein Halbkoma, das ich jetzt mal großzügig Schlaf nenne. Aber nur gefühlte Minuten später dringt Licht durch die Jalousien, und es ist Montagmorgen. Dan steht in eng anliegenden schwarzen Calvin-Klein-Boxershorts in der Tür und schaufelt hungrig Frosties aus einer Schüssel.
»Gehst du zur Arbeit?«, fragt er. »Ich kann dir 'nen Schlüssel dalassen. Ich muss in zehn Minuten los. Ich helfe gerade Craig mit seiner Website für dieses Musiklabel in Stokes Croft. Nimm dir Kaffee und Müsli. Bist du okay? Du siehst schon etwas besser aus. Ich meine, du siehst echt scheiße...
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