Schweitzer Fachinformationen
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Wenn man ein Staatsexamen bestanden hat, heißt das noch lange nicht, dass man seinen Job auch sicher beherrscht. Im Rettungsdienst gibt es Eventualitäten und viele Komplikationen, die Ihr Retter-Leben in einen Scherbenhaufen verwandeln können und die Sie professionell und routiniert im Auge behalten müssen. Es treten Zustandsänderungen auf, die man niemals erwartet hat. Oder der Patientenzustand geht rapide und steil bergab. Wenn einem in der Situation nichts Passables einfällt, fährt man mit dem Patienten zusammen auf direktem Weg in die Hölle - man selbst, weil man versagt hat, und der Patient, weil er das nicht überlebt.
Als Praktikant im Rettungsdienst bewegte man sich noch auf sicherem Terrain. Man hatte den verantwortlichen Rettungsassistenten dabei, der jederzeit in die Bresche springen konnte, wusste man als Praktikant nicht weiter. Man trat dann einen Schritt zurück, hob die Hände und sagte: »Könntest du bitte übernehmen? Danke.« Je nachdem, ob der Praktikant während seiner Ausbildung eine funktionsfähige Verbindung zwischen Theorie und Praxis herstellt, kommt er im Anschluss sicher oder weniger sicher durch das Rettungsdienstleben. Irgendwann war es bei mir so weit: Ich hatte meine Urkunde, einen Dienstvertrag und eine Menge Motivation, Menschen auf professionellem Niveau zu helfen. Der verantwortliche Kollege war ab diesem Zeitpunkt ich. Einen meiner ersten Dienste als Rettungsassistent Mitte der neunziger Jahre werde ich nie vergessen.
Die Rettungsleitstelle schickte Lenny und mich zu einer »unklaren Befindlichkeitsstörung«. Das ist ein fantasievolles Einsatzstichwort, wenn man bedenkt, dass die Leitstelle mit ein oder zwei Fragen den Sachverhalt genauer hätte ermitteln können. Der Disponent hatte hier äußerste Flexibilität hinsichtlich Verdachtsdiagnose und Abfragekompetenz bewiesen. Als Lenny den beigen Mercedes 312 mit quietschenden Reifen in der sommerlichen Mittagshitze vor dem Wohnkomplex geparkt hatte, schafften wir unseren Kram in den dritten Stock. Das Treppenhaus war mit einem blauen Farbstreifen in Kopfhöhe verziert, der an manchen Stellen mit dem Weiß darunter verlaufen war. Wir betraten die Wohnung durch die geöffnete Wohnungstür. Lippert stand auf dem Klingelschild.
»Hallo. Wir sind vom Rettungsdienst. Was ist denn passiert?«, fragte ich die Frau, die rückwärts vor uns herlief und uns wie an einem unsichtbaren Seil hinter sich herzog. Lenny streifte eine Blumenvase mit der Kante des EKGs. Ein nasser Scherbenhaufen mit buntem Gemüse blieb zurück.
Herr Lippert stand in der Raummitte und hielt sich mit der linken Hand den Hals und mit der anderen die Brust. Sein blaues Business-Hemd schien ihm zu eng zu sein. Schweiß rann ihm die Stirn hinab. Er schien an starken Schmerzen und Atemnot zu leiden und wirkte, als zöge ihm jemand einen unsichtbaren Strick um den Hals zu. Seine Augen fixierten mich und schrien um Hilfe. Zu spät. Herr Lippert verdrehte die Augen und brach leblos auf seinem lachsfarbenen, dicken Wohnzimmerteppich zusammen. Ich höre es noch heute - die Schnappatmung des Sterbenden und die spitzen Schreie der Ehefrau, die mir wie eine Rasierklinge in den Rücken fuhren. Die Fenster standen offen, es roch nach Fritten und Sommerwind. Jemand unter uns kochte. Frau Lippert sagte, ihr Mann hätte sich gerade einige Male an die Brust gegriffen. Lenny packte den Mann, drehte ihn auf den Rücken und riss ihm mit einem Ruck das Hemd auf, dessen weiße Knöpfchen zur Seite sprangen. Ich packte die Geltube, trug das Gel auf die Paddles des orangefarbenen Defibrillators mit der Aufschrift Corpus 300 auf und verteilte es mit kreisenden Bewegungen. Laden auf 160 Joule. Das Gerät bot nur diese und noch 320 Joule zur Auswahl an. Der Drucker des EKGs surrte automatisch los und dokumentierte alles in Form eines schmalen EKG-Streifens. Dann drückte ich die Paddles fest gegen den Brustkorb des Mannes, der mittlerweile tiefblau angelaufen war. Ein Dauerton, der in die Ohren stach - die Kondensatoren des Gerätes waren geladen. Ich zögerte. »Mann, drück endlich ab«, zischte Lenny in meine Richtung. Ich merkte, dass ich eine Hemmschwelle zu überwinden hatte. Für mich fühlte es sich an, als würde ich dem Patienten Schmerzen zufügen - und das, obwohl der Patient in diesem Moment tot war. Während der Defibrillation durfte niemand den Patienten berühren, und es war meine Aufgabe, dies sicherstellen. Ansonsten bestand durch den hohen Stromfluss Lebensgefahr für denjenigen, der Kontakt zum Patienten hatte. Niemand bewegte sich. Keiner atmete. Ich blickte zu Lenny, der mit seinem Blick »mach jetzt endlich was« signalisierte, und drehte meinen Kopf. Frau Lippert hielt sich beide Hände vor das Gesicht, starrte mich mit aufgerissenen Augen an und zitterte. Schweißperlen rannen ihr den Hals hinunter. Ich wandte mich wieder Herrn Lippert zu, dem mein allerletzter Blick vor der Stromabgabe galt. Gleichzeitig drückte ich beide Knöpfe der Paddles. Der Mann zuckte zusammen. Kurzes Innehalten und der Blick auf den Monitor. Die unkoordinierten Zacken auf dem EKG, die für den Tod stehen, waren in eine gleichmäßige, koordinierte Form übergegangen.
Ein Grund dafür, dass ich mich unwohl fühlte, war die Tatsache, dass dem Rettungsdienstpersonal anno 1996 Maßnahmen, die in die Unversehrtheit des menschlichen Körpers eingriffen, nicht erlaubt waren. Die Defibrillation mit einem manuellen Gerät war in den Augen der Akademiker eine rein ärztliche Maßnahme, von der der Nicht-Arzt schön brav die Hände zu lassen hatte. Niemand sollte den studierten Medizinern schließlich die Butter vom Brot nehmen. Wenn ein Sanitäter einen venösen Zugang gelegt hatte, bekam er in manchen Kreisverbänden Ärger - bis hin zur Kündigung. Unglaublich, sagen Sie? Nein, Normalität. Eigentlich galt man unterm Strich als Taxifahrer mit medizinischem Hintergrundwissen. Der Grund war das Rettungsassistentengesetz, nach dem es dem Mitarbeiter nur gestattet war, als Helfer des Arztes tätig zu werden. Etwas in einen Menschen hineinzuschieben, hineinzustechen oder Strom anzuwenden war lediglich erlaubt, wenn ein rechtfertigender Notstand gegeben war. Übersetzt heißt das: War ein Mensch in Lebensgefahr und kein Arzt verfügbar, brach man das Heilpraktiker-Gesetz, um ein Leben zu schützen. Um ansonsten Heilkunde auszuüben, musste man aber Arzt oder Heilpraktiker sein. Die Ärztelobby schien riesig. Jeder, der hier eine Änderung durchzusetzen versuchte, kämpfte einen einsamen Kampf gegen Windmühlen. Dabei war eines sicher: Niemand wollte (Not-)Ärzte aus dem System der Notfallmedizin herausdrängen und ein Paramedic-System einführen, das unflexibel und starr erscheint. Stattdessen sollte nur versucht werden, das System zu verbessern.
Mittlerweile ist der Beruf des Rettungsassistenten abgelöst. Seit Anfang 2014 gibt es als höchste nicht-ärztliche medizinische Fachkraft in der Notfallmedizin den Notfallsanitäter, der mehr Möglichkeiten mit auf den Weg bekommen hat, um Menschen zu helfen. Im Gegensatz zum Rettungsassistenten darf der Notfallsanitäter explizit invasiv tätig werden, solange er aktuell gültige Leitlinien beachtet und die Grenze seines eigenen Könnens nicht überschreitet. Als Nicht-Arzt ist es aber sowieso ratsam, keinerlei Experimente am Patienten zu probieren und Maßnahmen durchzuführen, die man nicht sicher beherrscht. Der Haken an dieser Sache war für mich: Um den begehrten Titel Notfallsanitäter zu erlangen, musste ich selbst als langjähriger Rettungsassistent ein zweites Staatsexamen ablegen. Und na ja - ganz ehrlich: Das ist der einzige Beruf, in dem man nach 30 Jahren erneut ein Staatsexamen absolvieren muss, um weiterhin seinem eigentlichen Job nachgehen zu dürfen. Einfach mies durchdacht.
Der Druck war immens, denn es gibt nur zwei Versuche, das Examen zu bestehen. Wenn man beide vergeigt, ist das Ende der Teerstrecke erreicht: Notfallsanitäter ade. Ab spätestens 2024 dürfen die Betreiber Rettungsassistenten bundesweit aber nur noch als Beifahrer in einem Krankentransportwagen oder als Fahrer in einem Rettungswagen einsetzen. Das Zepter hält ab diesem Zeitpunkt ein Notfallsanitäter in den Händen. Für mich war daher glasklar: Ich musste das Staatsexamen zum Notfallsanitäter bestehen. Und am besten gleich beim ersten Versuch.
Gesagt, getan. Im Winter des Jahres 2016 saß ich schweißgebadet nach einer harten, aber fairen Prüfung im Vorraum zwischen einem alten Kicker und einem Getränkeautomaten und wartete darauf, dass man mich zum Blutgerüst rief. Zwei Prüflinge vor mir kamen mit leeren Händen und eckigen Gesichtern aus dem Lehrsaal. Jeder von uns wusste, was die Stunde geschlagen hatte. Einer der beiden hatte feuerrote Augen. Die Typen griffen nach ihren Unterlagen und verzogen sich, ohne ein Wort über das Desaster zu verlieren. Trotz der Kühle draußen fühlte ich mich, als wäre ich in Timbuktu. Das Aroma von eingetrocknetem Kaffee und der Geruch des Angstschweißes der Anwesenden stießen eine...
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