Schweitzer Fachinformationen
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Ich ziehe mir die Hose hoch, setze ein harmloses Gesicht auf und gehe wieder nach vorn.
«Hallo.»
«Tach.»
Inzwischen haben sich ungefähr zwanzig Leutchen vor dem Gemeindehaus versammelt, darunter Andreas. Hä, ich wusste gar nicht, dass er mitkommt, eigentlich hätte er ja mal was sagen können. Er hockt zusammengesunken auf einem riesigen Rucksack, seine Augen sind von Hitze und Geilheit ganz glasig, kommt mir jedenfalls so vor. Wie immer trägt er eine hautenge Wrangler Jeans, in der sich seine Rute abzeichnet wie nichts Gutes.
Von den Erwachsenen sind bisher nur die Fiedlers da, die können's gar nicht abwarten, dann das Ehepaar Wöllmann und Herr Schrader, unser Nachbar aus dem neunten Stock. Die Wöllmanns kenne ich von der Gemeindearbeit, sie sind um die vierzig, kommen aus Hessen und sprechen unfassbar breiten Dialekt, obwohl sie schon vor Ewigkeiten nach Hamburg gezogen sind. Das ewige Gebabbele grenzt bisweilen an Geistesschwäche, und dieser Eindruck wird von Frau Wöllmanns «Frisur» unterstützt: kurzes braunes, wirr abgeschnittenes Haar, es sieht aus, als ob ihr Mann ihr immer die Haare stutzt, wenn sie so richtig besoffen sind. Dabei trinken sie bestimmt nur mal sonntags zum Essen ein Glas Wein oder Silvester einen Sekt zu zweit. Herr Wöllmann hat die Marotte, immerzu mit den Augen zu rollen. Ansonsten sehen sie normal aus, normaler geht's nicht. Sie sind sehr freundliche und anständige Leute, die es ernst nehmen mit der Nächstenliebe, sie haben mehrere Patenschaften in der Dritten Welt und kümmern sich außerdem noch um Obdachlose. Zweimal in der Woche ist bei ihnen zu Hause großer Wasch- und Futtertag, da laden sie die Obdachlosen zu sich ein, damit die mal so richtig schön baden können und sich rasieren und Haare waschen und sich vollfuttern.
Herr Schrader hat mit Kirche nichts am Hut, wahrscheinlich ist er noch nicht mal getauft. Seit dem Tod seiner Frau fährt er mit, der Pastor hat ihn überredet, damit er nicht immer so alleine ist. Er gehört wie die Fiedlers zum Inventar, ein warziger, staubiger alter Mann, unter dessen Zehennägeln Flöhe leben. Könnte ich mir jedenfalls gut vorstellen. Sommers wie winters trägt er eine abgeranzte Taxifahrerlederweste, in der Dutzende Kugelschreiber stecken, und die ewig gleiche Cordhose. Vom Kettenrauchen (LUX-Zigaretten) ist er schon ganz gelb, nicht nur die Finger. Herr Schrader ist fast so dick wie Herr Fiedler, aber anders. Während Herr Fiedler eine riesige Ballonwampe vor sich herträgt, ist Herr Schrader am ganzen Körper gleich dick. Stammfettsucht nennt sich das, hab ich mal gehört. Weil er so unappetitlich ist, nennen wir ihn hinter vorgehaltener Hand Ekelopa. Er hat den ganzen Tag nichts zu tun und liegt deshalb ständig auf der Lauer, um uns irgendwas anzuhängen: Müll wegwerfen, rauchen und Alkohol trinken, Klingelstreiche, in den Fahrstuhl pissen, Schmierereien. Schrader ist Blockwart von eigenen Gnaden, selbsternannter Privatsheriff, einer, der dem Bademeister petzt, wenn jemand ins Becken gepinkelt hat.
«Tach, Herr Schrader.»
«Tach, Thorsten. Kein Scheiß machen.»
Jaja.
Haha, guck mal, da ist ja auch Peter Behrmann, der Trottel! Total abgehetzt. Als er den riesigen Rucksack absetzt, bemerke ich seinen klatschnassen Rücken. Ihhh, der ganze Rücken ein Schweißfleck, wie bei alten Leuten. Er schaut sich suchend um, offenbar kennt er niemanden. Peter ist ein dauernervöser Typ mit einem zu kleinen Kopf. Irgendwie wirkt er wie ein Hamster oder ein Eichhörnchen, das ständig vor sich hin zittert und nach Löchern sucht, in denen es seine Vorräte bunkern kann. Hauptsache bunkern. Ich hasse Peter Behrmann, weil er ein ekelhafter Geschäftemacher ist. Vor einem Jahr hat er mir ein wertvolles Mikroskop, das ich von meinem Opa geerbt habe, für acht Mark siebzig abgekauft. Den ganzen Nachmittag hat er mich weichgekocht und immer weiter runtergehandelt; irgendwann war ich zu erschöpft und habe es ihm zu dem Spottpreis überlassen. Zu Hause hat's dann richtig Ärger gegeben, mein Vater hätte mir fast eine gescheuert, er rief bei Behrmanns an, Peter solle das verdammte Mikroskop wieder rausrücken, aber Herr Behrmann hat nur gesagt, dass die Jungs das unter sich abmachen müssen, und wenn ich zu doof zum Handeln bin, selber schuld. Mein Vater ist weiß geworden vor Wut, konnte aber nichts machen, weil Herr Behrmann Polizist ist, sonst hätte er ihm bestimmt eine reingehauen und sich das verdammte Mikroskop wiedergeholt. Ich weiß, dass Peter das mit andern auch so macht, ständig kauft er irgendjemandem was ab, mir ist völlig rätselhaft, wo er das ganze Geld herhat. Aber irgendwo muss er den ganzen Kram ja lassen, sein beknacktes Kinderzimmer ist viel zu klein, deshalb gräbt er's bestimmt im Wald oder sonst wo ein, der Pickerhamster. Peter besitzt als einer der wenigen ein Mofa, lässt uns jedoch nur gegen Geld darauf fahren. Pro Runde nimmt er zehn Pfennig, das ist umgerechnet fast so teuer wie Autoscooter. Das kriegt er zurück, in den nächsten zwei Wochen wird abgerechnet. Er schaut und schaut und schaut mit seinem kleinen Pickerkopf, aber ich werde ihm nicht den Gefallen tun, mich mit ihm zu unterhalten. Das ist ganz bitter, wenn man auf einer Freizeit niemanden kennt und keinen Anschluss findet. Ganz bitter. Übrig bleiben ist noch schlimmer, als verlassen zu werden.
Ein Freizeitteilnehmer nach dem anderen trudelt ein, langsam müssten wir mal vollzählig sein. Die meisten Jugendlichen kenne ich nur flüchtig, vom Sehen oder von früher von den Konfirmandenfreizeiten. Ich weiß nicht, zu wem ich mich stellen soll, deshalb setze ich mich auf meine Reisetasche und tu abwesend. Kurz vor drei kommt der Bus und manövriert wie irre auf dem viel zu kleinen Parkplatz herum. Alle stehen im Weg, der Fahrer wird sauer und schreit in seinem überhitzten Bus rum wie sonst was, obwohl wir doch eine christliche Familienfreizeit sind.
Im Sitzen spüre ich erst so richtig, wie alles brennt, hoffentlich fängt meine Hose kein Feuer, haha. Kann aber eigentlich nicht sein, denn ich habe eine dunkelblaue, farbneutrale Baumwollhose aus irgendeinem nichtbrennbaren Schrottmaterial an. Wir haben zu Hause ziemlich wenig Geld; wenn ich mir mal richtige Klamotten kaufen wollte, müsste ich mir die selber verdienen.
Seit zwei Jahren trage ich Zeitungen aus (Bild am Sonntag/Welt am Sonntag), denke aber gar nicht daran, das Geld in Kleidung zu investieren. Ich trage schon seit so vielen Hunderten von Ewigkeiten schlechtsitzende Stoffhosen und bescheuerte Hemden und kaputte Schuhe und dumme Mickymausunterwäsche, dass es total auffallen würde, wenn ich plötzlich mit Wrangler Jeans oder gar einer Veddelhose in die Schule käme. Ich will aber nicht auffallen, unter keinen Umständen. Mir ist eh schon alles peinlich genug. Ich schäme mich zu Tode, seit ich denken kann, und weiß nicht, wofür, wird schon stimmen.
Mein Zeitungsgeld habe ich sowieso viel sinnvoller investiert, in ein gebrauchtes Starflite Mofa, das mir Maik Hansen für hundert Mark verkauft hat. Woher er die Kiste hat, weiß kein Mensch, wahrscheinlich geklaut, und falls nicht, hat er dafür auf gar keinen Fall mehr als fünfzig Mark bezahlt, da bin ich mir sicher, er ist ja nicht bescheuert. Ist mir in Wahrheit auch egal. Hundert Mark, das sind umgerechnet mindestens 100000 Bamms und Wamms plus Weihnachtsgeld. Starflites sind die schwächsten Mofas überhaupt, sogar noch schwächer als Mars Mofas aus dem Quellekatalog. Das beste Mofa ist die Flory Dreigang, das einzige Mofa auf der ganzen Welt mit Gangschaltung. Ich kenne niemanden persönlich, der eine hat, vielleicht gibt's die in Wahrheit auch gar nicht oder nur auf dem Papier. Meine Starflite ist weder frisiert noch angemeldet, weil mir meine Mutter kein Mofa erlaubt. Ich fahre daher schwarz, zahl weder Steuern noch Versicherung und hab auch kein Nummernschild. Wenn mich die Bullen erwischen oder wirklich mal was passiert, bin ich fällig und meine Eltern auch. Es ist totales Glück, dass ich die Mühle bei Ute im Fahrradkeller unterstellen darf. Ute ist so was wie meine beste Freundin. Wir gehen in dieselbe Klasse, und sie hat dauernd was am Laufen mit älteren Typen. Ihr neuer Freund war angeblich schon mal für ein halbes Jahr im Jugendknast und will mit ihr schlafen, sie ist aber noch unentschieden, von wegen ob er es ernst meint und der ganze Quatsch. Ute zieht mich regelmäßig ins Vertrauen, sie fragt mich ernsthaft nach meiner Meinung, ob sie mit ihm schlafen soll oder lieber nicht. Ich bin immer stolz wie Bolle, wenn Ute mich als ihren besten Freund vorstellt:
«Das ist Thorsten, mein bester Freund.»
Fast jeden Nachmittag treffe ich mich mit Ute, damit sie mir den Fahrradkeller aufschließt und ich endlich fahren kann. Peter Behrmann nennt diesen Zustand der Vorfreude «fahrgeil». Wo er recht hat, hat er recht, selbst wenn es Peter Behrmann ist.
Endlich sind alle da, bis auf einen. Dann muss der eben hierbleiben, er ist schließlich nicht alleine auf der Welt.
«Abfahrt! Wir wollen mal endlich los!» Herr Schrader hat vor Wut eine rote Rübe. «Selber schuld. Wer nicht hören will, muss fühlen. Los jetzt, Abfahrt!»
Pastor Schmidt entscheidet, noch ein paar Minuten zu warten.
Zwanzig nach drei. Herr Schrader rast vor Wut: «Gleich schrei ich Kakao. Abfahrt!!!»
Endlich erscheint am Horizont eine flirrende Silhouette. Als sie näher kommt, erkenne ich, dass es Harald Stanischewsky ist, im algengrünen Sportblouson. Oneinonein, Harald Stanischewsky, bitte nicht Harald Stanischewsky! Was soll das denn, wieso kommt der denn mit, der ist ja noch nicht mal...
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