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Während ich mich dem Schlaf zuneigte, dachte ich an Prag; ich hieß nicht mehr Alan Doleæal, sondern Alan Dolezal. Fast fünf Jahre waren vergangen, seitdem ich meine Heimat verlassen hatte. Manchmal schienen mir die Prager Straßen in unmittelbarer Nähe zu sein, manchmal betrat ich sie in Träumen, fremd nur in meinem Reisepass. Der Mutter schlug ich mit meiner Flucht eine Wunde, die sich bei jeder Erinnerung an mich wieder öffnen wird. Ich wusste, sie würde diese Erinnerungen niemals verlieren wollen; bestimmt hatte sie sich die Ansichtskarte aufbewahrt, die ich ihr aus dem Flüchtlingslager sandte. Mein Stiefvater wird mich kaum vermissen. Und meine Halbschwester? Jitka fragte vermutlich nach mir, gerade zehn war sie geworden, als ich sie zum letzten Mal sah.
Wieder betrachtete ich beim Frühstück den Augarten, seine Bäume waren wunderbar ausladend und dicht belaubt. Verlassen, aber nicht still war der Garten, seit Langem kannte ich seine Melodien. Im weichen Gras und auf den alten Bänken spielten Sonnenstrahlen, mit rauchdünnen Schatten füllte sich die Allee vor meinen Fenstern, der Himmel erweckte die Illusion von Sommer.
Die letzten Meter ins Josephinum musste ich laufen. Im Gang hielt ich aber an, ich wartete, bis Bernadette den Hörsaal betrat. Der war diesmal nur zur Hälfte besetzt und daher ruhig. Kaum hatte ich hinter mir die Tür geschlossen, schon winkte mir von der letzten Bank Philipp.
Im zweiten Jahr meines Pharmaziestudiums begann ich mich allmählich daran zu gewöhnen, dass ich ein Student war. Seit ich mühsam das Abitur in Prag abgeschlossen hatte, war es für mich unvorstellbar, mein Leben durch Weiterbildung einschränken zu müssen: Von Freiheit träumte ich und war dabei der festen Überzeugung, sie nur in der Fremde finden zu können.
Nur zwei bis drei Mal in der Woche kam ich ins Josephinum, denn ich arbeitete als Aufseher im Historischen Museum der Stadt Wien. Zu Beginn war das Studium eine Qual für mich, auch später noch Anlass für diverse Sorgen, doch des Glaubens an ein besseres Leben ging ich dabei nicht verlustig.
Die Vorlesung endete abrupt, wieder einmal legte der alte Professor die gewohnte Hast an den Tag, seine Mappe mit den Unterlagen landete auf dem Boden, in einer der vorderen Bänke lachte jemand auf. Philipp und ich kamen als Letzte aus dem Hörsaal, im Gang hatten sich schon kleine Gruppen von Studenten gebildet.
Auch an diesem Tag gingen wir in den Josephinumgarten. Diesmal waren wir zu acht, vier Männer und vier Frauen, alle in fast gleichem Alter. Unterwegs wurde von Manuelas Geburtstagsfeier gesprochen, die am Abend in einem Lokal stattfinden sollte. Hinter mir unterhielten sich Bernadette und Susanne. Bernadette ging erst zum dritten Mal mit uns in den Garten, in ihrer Stimme klang Entrüstung. Es ging um Christian, Susannes Freund, der einige Schritte vor ihnen schlenderte. Sein Körper war etwas übergewichtig und fast eigenwillig, doch sein Gesicht besaß feine, ebenmäßige Züge; wie die eher unauffällige, schlanke Susanne war auch er blond und blauäugig.
Üppig und rein zeigte sich der Josephinumgarten, sowohl im Sonnenschein als auch im Schatten. Mit zarten Farbtröpfchen bestreut, rief er Gedanken an alte impressionistische Gemälde wach, seine Schönheit schien unvergänglich zu sein wie eine tief eingekerbte Erinnerung. Erhaben schwangen sich seine Bäume in die Höhe, heller, verspielter Vogelgesang erklang in ihrem Laubwerk. Eher sanft als erdrückend war der Garten von Häusern umschlossen, vom Großstadtleben abgeschirmt.
Neben dem Glashaus lernten, im Gras liegend, drei Studentinnen, wenige Schritte von ihnen entfernt lächelten zwei Studenten. Wir gingen tief in den Garten hinein, schließlich setzten wir uns in den schweren Schatten eines wuchtigen Baums. Ich beantwortete Philipps Fragen über die aktuelle Ausstellung im Historischen Museum, die anderen sprachen von ihren Erlebnissen am vergangenen Wochenende. In die Düfte des Gartens mischten sich unablässig süße Parfüms, gedämpfte Frauenstimmen vibrierten in der Luft, eine Brise strich angenehm über die Haut.
Philipp seufzte auf und sagte zu Manuela, er hoffe, sein Stipendium nicht zu verlieren. Sie lächelte und sagte, ohne ihn dabei anzusehen, er brauche nur weiterhin ein braver Student zu sein. So wie Christian, fügte sie noch hinzu, bevor sie kicherte.
Ich war gerade im Begriff, mich neben Philipp hinzulegen, als es zwischen Christian und Bernadette zu einem Streit kam. Bernadette war schlagfertig und giftig, mit eisiger Ironie brachte sie zum Ausdruck, wie tief ihre Abneigung gegen übergewichtige Menschen war. Ihr Gesicht war scharf, aber schön geschnitten, ihr milchweißer Teint makellos zart. Das blonde, schulterlange Haar, glatt und fein, glänzte so hell wie das meine, ihre Lippen waren schmal und gleichmäßig geschwungen, spiegelklar ihre grünblauen Augen. Sie war ein bisschen kleiner als ich, aber sportlich gebaut und geschmeidig. Eine seltsam düstere Anmut wohnte ihrer Erscheinung inne. Wir pflegten einander zu meiden, nicht einmal gegrüßt hatten wir uns, und wenn sich zufällig unsere Blicke kreuzten, so wich ich geflissentlich aus. Manuela hatte einmal erzählt, Bernadette brauche weder ein Stipendium noch einen Job, denn sie bekomme viel Geld von ihren Eltern.
Miriam sprach Bernadette von der Seite an. Sie wechselten nur wenige leise Worte und standen auf. Bevor sie gingen, verabschiedete sich Miriam. Irgendwie sahen sich die beiden ähnlich, nur war Miriams Haar dunkel, und sie war von aufgeschlossenem Naturell. Schon als ich das Studium begann, war Miriam viel mit Bernadette zusammen, doch zu engen Freundinnen sind sie nie geworden.
Liegend starrte ich in die herrlich lebendige Baumkrone, die darin versteckten Stimmen waren plötzlich die einzigen in dem Garten. Er solle Bernadette nicht ernst nehmen, war der erste Satz, der das Schweigen brach. Und dann gab Franz noch weitere Bemerkungen von sich. Nachdem wir uns später alle vor dem Josephinum voneinander verabschiedet hatten, ging ich mit Franz zur Haltestelle. Er konnte nicht zu Manuelas Geburtstagsfeier kommen, denn er hatte Dienst. Er arbeitete vier Mal die Woche als Kellner, doch er mochte den Job, war gern unter Menschen. An der Haltestelle drückte er mir die Hand und wünschte mir viel Spaß. Danach überquerte er die Straße, und ich sah, wie sein Gesicht ernst wurde.
Zuhause angekommen aß ich ein paar Überreste vom Vortag und versuchte zu lernen. Kaum aber hatte ich eine Seite durchgelesen, blieb mein Blick am Telefon hängen, das vor mir neben dem Computer stand. Ich erhob mich und trat ans Fenster. Mutters Tschechisch klang wie mein eigenes leise und nur in meinen Gedanken an. Seitdem ich das Flüchtlingslager verlassen hatte, ertönte mein Tschechisch nur in meinen Gedanken. Wieder stellte ich mir vor, wie ich nach dem Telefon greife und dann die Stimme meiner Mutter höre. Ich schloss die Augen und senkte den Kopf.
Das Telefon klingelte. Johanna war dran. Sie bat mich, ihren Dienst zu übernehmen.
»Wann denn?«, fragte ich. »Was kriege ich dafür?«
Am Abend traf ich mit Verspätung im Lokal ein. Laute Popmusik wurde gespielt, überall standen oder saßen junge Leute. Von einem Tisch winkte mir Philipp zu, strahlend inmitten meiner Bekannten. Als ich mich zu ihnen durchdrängte, bemerkte ich Bernadette, die allein an der Bar saß. Ich war überrascht, dass diesmal sie meinem Blick auswich. Ich begrüßte alle meine Bekannten und wandte mich Philipp zu. Da sprach mich Miriam an, sie wolle mit mir reden. Zerstreut nickte ich, wurde aber von Manuela auf den Stuhl niedergedrückt und zum Anstoßen gezwungen.
Als ich später zur Bar blickte, war Bernadette immer noch allein. Sie schien in die Betrachtung einer Gruppe tanzender Leute versunken, wirkte aber unruhig. Jitka kam mir in den Sinn. Sie musste schon in dem Alter sein, in dem Mädchen zu Frauen werden. Sie könnte sogar ein ähnlicher Typ wie Bernadette sein. Da begegnete ich Miriams bohrendem Blick und sah, wie sie auf mich zukam. Ich folgte ihrem Wunsch und ging mit ihr hinaus auf die Straße. An der Hausecke hielten wir an, und sie sagte, Bernadette stecke in der Klemme und brauche dringend Hilfe. Ich sah sie überrascht an.
»Ihr Stiefvater hat sie am Nachmittag zuhause hinausgeworfen«, erklärte Miriam, »und du bist der Einzige, der ein Zimmer frei hat. Nur für ein paar Tage.«
»So etwas Verrücktes habe ich lange nicht mehr gehört«, sagte ich. Eine Weile bedrängte mich Miriam. Sie selbst wohnte in Untermiete, darum durfte sie Bernadette nur einen Tag in ihrem Zimmer behalten.
»Ich kann mir das nicht vorstellen«, sagte ich mit ernster Stimme auf dem Rückweg ins Lokal, Miriam aber lächelte mich an und tätschelte meine Schulter. Im Lärm der Musik trennten wir uns schließlich, ich ging zu unserem Tisch und Miriam zu Bernadette.
Ich war der Erste, der sich verabschiedete. Der Wein machte mich müde, ich hatte zu schnell getrunken. Auf der...
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