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Im fernen Australien nimmt sich der Ehemann einer berühmten deutschen Opernsängerin vor der herrlichen Kulisse der Sydney Opera das Leben. Aber das ist nicht das Ereignis. Das Ereignis am Morgen des 7. Mai ist folgendes: Ein Mann tötet sich, und der Tod errichtet einen soliden Schatten. Der Schatten des Mannes ist größer als zu Lebzeiten. Er ist so groß, dass er auf die weiß glänzenden Kacheln des Opernhauses fällt, auf das multiethnische Sinfonieorchester und die Casta Diva der gefeierten Sopranistin, die er alle zum Verschwinden bringt.
Hella Karl erfuhr davon aus der Zeitung. Das Blatt landete wie immer pünktlich gegen halb fünf im Briefkasten. An diesem Morgen war sie schon auf. Sie hatte schlecht geschlafen und war nach einem Toilettengang nicht ins Bett zurückgekehrt. Aus einem der Küchenfenster sah sie den gelben Ford Fiesta des Zeitungsboten wegfahren, knotete den Gürtel des Morgenrocks zu und trat vor die Tür. So erhielt sie eher, als es sonst der Fall gewesen wäre, Kenntnis von diesem überraschenden Todesfall.
Die Luft war ungewöhnlich mild. Im Osten war der wolkenlose Himmel schon hell, und in weniger als einer Stunde würden die ersten Strahlen der Sonne die Baumkronen treffen. Von fern war das Anfahren einer S-Bahn zu hören. Dann, als ginge ein Schauer durch die Luft, setzten die Vögel ein. Ein ohrenbetäubendes Gezwitscher. Es kam aus den Hecken und Bäumen der umliegenden Gärten, aus den Wiesen im Park und dem schläfrigen Schilfgürtel am Ufer; eine Explosion kreischender Stimmen. Sie trat einen Schritt zurück. Das Gartentor war kühl vom Tau.
Hella Karl, in aller Frühe im Morgenrock auf den Beinen, erfasste die Tragweite der Nachricht in einem blitzartigen Aufleuchten des Geistes, der sich daraufhin sofort wieder zu jener gewohnten Unrast verdüsterte, die durch ein Gefühlsgemenge von Überforderung und Langeweile verursacht wurde.
Sie schloss das Tor und las die knappe Meldung noch einmal. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Normalerweise hätte sie von einem solchen Ereignis nicht erst aus der Zeitung erfahren, zumal aus ihrer eigenen. Normalerweise hätte man sie angerufen, sobald diese Meldung über den Ticker gekommen wäre. Auch an ihrem freien Tag. Vielleicht wollte man sie schonen. Wahrscheinlicher war, dass jemand es verschlampt hatte. Nicht irgendjemand, sondern eine der Praktikantinnen, die ihr die Geschäftsführung aufzwang, altkluge, nichtssagende Mädchen mit langen, wie glattgebügelten Haaren, deren Eifer nicht der Sache, sondern der Karriere diente. Spätestens vor Redaktionsschluss hätte Hella Karl informiert sein müssen. Es ging nicht um irgendeinen Toten. Es ging um den Mann, dem sie den Tod gewünscht hatte.
Nicht laut. Nicht öffentlich. Ausgesprochen hatte sie das jedenfalls nie. Aber wenn sie in sich hineinhorchte, und angesichts dieser unerwarteten Meldung horchte sie für einen Moment sehr aufmerksam, musste sie zugeben, dass sie jüngst von diesem Wunsch befeuert worden war. Er sollte zur Hölle gehen. Vor die Hunde, über den Jordan. Abdanken. Abkratzen. Ins Gras beißen. Das Zeitliche segnen. Den Löffel abgeben, die Radieschen von unten betrachten. Kurz -
Sie holte Luft.
Verbal konnte sie weit ausholen. Ihre Impulse lagen dicht unter der Oberfläche. Auch ihre Träume waren zuweilen so direkt mit den Tagesereignissen verbunden, dass am nächsten Morgen manches Problem gelöst schien, was, wie sie annahm, auf einen gesunden psychischen Stoffwechsel zurückzuführen war. Ich mache aus meinem Herzen keine Schlangengrube, sagte sie gern, gespannt, ob ihr Gegenüber sie über die falsche Verwendung der Redensart belehren würde; einer ihrer Charaktertests, bei dem in der Regel ältere Männer durchfielen. Was sie damit meinte, war: Sie konnte bis auf den Grund ihres Inneren sehen.
An diesem Morgen sah sie dort das Bild des Toten. Deutlich stieg es zu ihr auf. So war er ihr vor nicht allzu langer Zeit an der Schloßbrücke begegnet. Derselbe schlecht sitzende, zerknitterte Anzug, dasselbe grobporige Gesicht mit den dicken Tränensäcken, dieselbe abscheuliche durchgeistigte Attitüde. Sie hatte sich hinter einer der Siegesgöttinnen verborgen und die Arme aufs Geländer gestützt, als wolle sie die Aussicht auf die Spree betrachten, die träge und grau unter den ersten Lichtern des Abends durch ihr Betonbett floss, und gehofft, er würde sie von hinten nicht erkennen. Aber diesen Gefallen tat er ihr nicht. Er trat neben sie. Er legte die Hände aufs Geländer, unnötig nah, wobei sein Blick sie mit einem ironischen Lächeln streifte.
»Ich hatte noch nie Ehrfurcht vor der Presse. Auch wenn die räudige Meute diesmal Ihre hübsche Visage trägt.«
Er sagte das im gleichen Tonfall, den er auch vor langer Zeit, als er noch völlig unbekannt gewesen war, auf einem Podium zu Ehren eines hochgeschätzten, betagten Theaterkritikers schon an den Tag gelegt hatte. Damals hatte er gesagt: »Ich habe keine Ehrfurcht vor den Alten. Ich will Macht.«
Auf der zugigen Schloßbrücke hatte sie ihm entgegnet: »Man muss Ihre Aufrichtigkeit einfach bewundern.«
Natürlich war das Gegenteil der Fall.
Aber so war sie, Hella Renata Karl. In Wirklichkeit wünschte sie niemandem den Tod. Sie ließ sich aber auch von niemandem unterbuttern.
Ein Typ für Morgenmäntel war sie nicht. In der dunklen Kühle des Schlafzimmers hatte sie fröstelnd nach dem Morgenmantel ihres Mannes gegriffen, der zu dieser frühen Stunde noch schlief. Sie hatte eine unklare Unruhe nicht mehr schlafen lassen. Ein Anflug von Düsterkeit hatte sie aus dem Zimmer getrieben, in dem es kühler war als in der schon frühlingswarmen Luft des Gartens. Als sie jetzt über den schmalen Weg zurück zum Haus ging, hob sie den Morgenrock ein wenig an, damit er nicht über den Kies schleifte.
Vor ihr lag das alte Steinhaus, verwunschen in der morgendlichen Stille. Die Front war mit Weinranken bewachsen. Die Fenster der großen Veranda im Erdgeschoss zeigten nach Süden, zum See. Hinter dem Haus, von der Straße nicht einsehbar, lag eine überdachte Terrasse mit verwitterten Terrakottafliesen. Das kleine Anwesen mit Walmdach, das aus den 1930er Jahren stammte, war in diesen Zeiten viel wert. Im hinteren Teil des Gartens wuchsen wilde Brombeeren.
Das Radio des Nachbarn, das sonst im Dauermodus lief, war so früh am Morgen noch nicht eingeschaltet. Normalerweise hätte es nach einer solchen Meldung nicht lange gedauert, bis auf irgendeinem Sender Kai Hochwerth zu hören gewesen wäre. Bei einer Tragödie wie dieser wäre Hochwerth sofort um einen Kommentar gebeten worden. Auch ungebeten hätte er sich geäußert, weshalb ihr sein Schweigen im Laufe des Morgens nur umso bewusster wurde. Öffentlich Stellung zu beziehen, gehörte für jemanden wie Hochwerth zum Berufsethos. Nicht, dass ihr seine Stimme an diesem Vormittag fehlte. Es wäre nur aufschlussreich gewesen zu erfahren, wie er sich zu einem solchen Vorfall geäußert hätte.
Er hätte nicht über die Verzweiflung des Täters, sondern über die geistige Armseligkeit und das Pathos der Tat gesprochen. Er hätte die Tat ins Lächerliche gezogen. Das Ganze war eine Zumutung, hätte er gesagt. Hella Karl konnte ihn fast durch die Johannisbeersträucher hindurch hören. Ein massiger, von Wein und Bluthochdruck unablässig gepushter toter Körper hinter den Kulissen einer weltberühmten Oper; eine Zumutung für Künstler und Publikum! Und erst die Kosten. Was allein die Überführung der Leiche vom anderen Ende der Welt kostete! Die Ehefrau, die ihre Tournee abbrechen musste, hätte Kai Hochwerth nicht erwähnt. Aber er hätte sich, davon war Hella überzeugt, daran ergötzt, dass die deutsche Kulturszene einen fetten neuen Skandal hatte.
Der Mensch muss den Mund aufmachen, hatte Hochwerth einmal zu ihr gesagt, wenn er im Leben vorankommen will; eine Maxime, der auch sie treu war. Hochwerth war dieser Maxime schon gefolgt, bevor er Intendant einer großen Kultureinrichtung in der deutschen Hauptstadt geworden war und sich noch mit Kleinstadthonoratioren und den knappen Budgets von Landestheatern herumgeschlagen hatte. Er machte den Mund auf. Das tat er auch, wenn die Angelegenheit nur indirekt mit ihm zu tun hatte. Die Angelegenheit am Morgen des 7. Mai betraf ihn direkt.
Aber Kai Hochwerth konnte den Mund nicht mehr aufmachen. Man äußert sich nicht nachträglich zu seinem eigenen Todesfall.
Eine Weinranke hatte sich gelöst und baumelte vom Gebälk über der Haustür. Hella unterdrückte den Impuls, sie abzureißen. Dann hätten sich weitere Ranken gelöst, die wiederum andere mit sich gerissen hätten, und ein Trommelhagel aus Putzbröckchen und vertrockneten Trauben wäre auf sie niedergegangen. Der Wein reifte nie aus. Die Trauben blieben sauer. Im Frühsommer krochen Wespen in die Blüten, um den klebrigen Saft herauszulutschen, und webten das Haus in ein endloses, eintöniges Gesumme. Die ersten Früchte im Spätsommer fraßen die Vögel, die im Vorbeiflug an die Fensterscheiben kackten, ein violetter ätzender Dünnschiss, der schwer abging und sich, wenn er die Rahmen traf, ins Holz fraß. Sie hatte ihren Mann gebeten, die Weinranken entfernen zu lassen, die noch von den Vorbesitzern stammten. Aber T hatte plötzlich diesen Flitz für alte Gemäuer entwickelt. Er fing an, von der Romantik restaurierter Ruinen zu schwärmen, etwas, das ihr völlig abging. Als ihr Streit eskalierte, hatte sie ihn erst nostalgisch und später reaktionär genannt, und er hatte sich zu der Behauptung verstiegen, das Haus überhaupt nur wegen der Weinranken gekauft zu haben.
In Flur und Küche war es...
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