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William hat in jüngster Zeit sehr Schmerzliches durchmachen müssen. Das müssen viele, ich weiß, trotzdem würde ich gern davon sprechen - ich kann gar nicht anders, habe ich fast das Gefühl; er ist jetzt einundsiebzig.
Mein zweiter Mann, David, starb letztes Jahr, und in meine Trauer um ihn hat sich auch Trauer um William gemischt. Trauern ist etwas, ja, etwas so Einsames, das ist vielleicht das Schlimmste daran. Als würde man an der Außenseite eines gläsernen Wolkenkratzers herunterrutschen, und keiner merkte es.
Aber hier soll es um William gehen.
* * *
Er heißt William Gerhardt, und als wir heirateten, nahm ich seinen Namen an, obwohl das damals sehr unmodern war. Meine Zimmergenossin aus dem College sagte: »Du nimmst seinen Namen an, Lucy? Ich dachte, du bist Feministin.« Und ich sagte ihr, dass es mir egal sei, ob ich Feministin war oder nicht; ich wolle nicht länger ich sein, sagte ich ihr. Zu der Zeit war ich es schlicht müde, ich zu sein, ich hatte mein ganzes Leben damit verbracht, nicht ich sein zu wollen - so empfand ich es jedenfalls -, also nahm ich seinen Namen an und war elf Jahre lang Lucy Gerhardt, aber ganz richtig fühlte es sich nie an, und fast unmittelbar nach dem Tod von Williams Mutter ging ich zur Kfz-Zulassungsstelle, um den Namen auf meinem Führerschein wieder zurückändern zu lassen, wobei das schwieriger war, als ich gedacht hatte, ich musste mehrmals hingehen und beglaubigte Dokumente vorlegen, aber ich zog es durch.
Ich wurde wieder Lucy Barton.
Wir waren fast zwanzig Jahre verheiratet, bevor ich mich von ihm trennte, wir haben zwei Töchter, und inzwischen sind wir schon lang wieder Freunde - wie das geht, weiß ich selbst nicht recht. Es gibt viele furchtbare Scheidungsgeschichten, aber bis auf die Trennung als solche gehört die unsrige nicht dazu. Zeitweise dachte ich, ich sterbe, so weh tat es, mich zu trennen und meine Töchter leiden zu sehen, aber ich starb nicht, ich habe es überlebt, und William auch.
Da ich Schriftstellerin bin, gehe ich auch dies mehr oder weniger wie einen Roman an, aber es ist wahr - so wahr, wie ich es wiederzugeben vermag. Und ich möchte sagen - ach, es ist schwer zu wissen, was ich sagen will. Aber alles, was ich von William berichte, habe ich entweder von ihm erzählt bekommen, oder ich habe es selbst miterlebt.
Also setze ich mit dieser Geschichte zu der Zeit ein, als William neunundsechzig war, was jetzt knapp zwei Jahre her ist.
Für den optischen Eindruck:
Williams Laborassistentin nennt ihn neuerdings »Einstein«, und William fühlt sich offenbar sehr geschmeichelt dadurch. Für mich sieht er kein bisschen wie Einstein aus, auch wenn ich verstehe, was die junge Frau meint. Er hat einen sehr üppigen Schnauzbart, weiß mit Grau dazwischen, aber es ist kein wilder Schnauzbart, und auch sein volles weißes Haar ist ordentlich geschnitten, obwohl es zugegebenermaßen etwas vom Kopf absteht. Er ist ein großer Mann, und er kleidet sich sehr gut. Und ihm fehlt dieses leicht Irre im Blick, das Einstein für mein Gefühl hatte. Williams Gesicht ist oft hinter einem Visier eiserner Liebenswürdigkeit verborgen, außer bei den ganz seltenen Gelegenheiten, wenn er den Kopf zurückwirft und lauthals lacht; es ist lange her, dass ich das erlebt habe. Seine Augen sind braun, und sie sind groß geblieben; nicht jedermanns Augen bleiben im Alter groß, aber die von William schon.
Jetzt also:
Morgen für Morgen stand William in seiner weitläufigen Wohnung am Riverside Drive auf - schlug die leichte Steppdecke mit dem dunkelblauen Baumwollbezug zurück, ohne seine Frau neben ihm in dem großen Ehebett zu wecken, und ging ins Bad. Seine Glieder waren, jeden Morgen wieder, steif. Aber er hatte seine Übungen, die er regelmäßig machte, er ging ins Wohnzimmer dazu, wo er sich auf dem großen, rot-schwarz gemusterten Teppich unter dem antiken Kronleuchter auf den Rücken legte und mit den Beinen in der Luft Fahrrad fuhr und sie dehnte und streckte. Dann zog er in den ochsenblutfarbenen Lehnsessel am Fenster um, wo er einen Blick auf den Hudson River hatte, und las dort auf seinem Laptop die Nachrichten. Irgendwann tauchte aus dem Schlafzimmer Estelle auf und winkte ihm verschlafen zu, bevor sie ihre Tochter Bridget weckte, die zehn war, und nachdem William geduscht hatte, frühstückten die drei zusammen an dem runden Küchentisch; William mochte das Gleichbleibende daran, und seine Tochter war ein redefreudiges Mädchen, auch das gefiel ihm, es sei, als hörte man einem Vogel zu, sagte er einmal, und ihre Mutter redete ebenfalls gern.
Wenn er danach das Haus verließ, nahm er den Weg durch den Central Park und stieg dann in die U-Bahn zur 14th Street, von wo er die restliche Strecke bis zur New York University zu Fuß zurücklegte; er genoss diesen täglichen Spaziergang, auch wenn er feststellen musste, dass er nicht mehr so schnell war wie die jungen Leute, die an ihm vorbeizogen mit ihren Doppelkinderwagen, ihren Tüten voller Lebensmittel, ihren glänzenden Leggings, Ohrstöpseln und Yogamatten, die ihnen an Gummistrippen über der Schulter hingen. Er tröstete sich damit, dass er seinerseits viele Leute überholte - den alten Mann mit dem Rollator, die Frau mit dem Gehstock oder auch einfach eine Person in seinem Alter, die langsamer vorankam als er -, und das gab ihm das Gefühl, gesund und lebendig und nahezu unverwundbar zu sein in einer Welt permanenten Getriebes. Es machte ihn stolz, dass er jeden Tag mehr als zehntausend Schritte ging.
William fühlte sich (nahezu) unverwundbar, das will ich damit sagen.
Bei diesen Morgengängen dachte er manchmal, o Gott, ich könnte dieser Mann da sein!, in seinem Rollstuhl in der Sonne des Central Park, neben ihm auf der Bank eine Pflegerin, die auf ihrem Handy tippte, während sein Kopf immer tiefer auf die Brust herabsank, oder jener Mann dort!, mit seinem vom Schlaganfall verkrümmten Arm und dem humpelnden Gang . Doch dann dachte William jedes Mal: Nein, das bin ich nicht.
Und das war er auch nicht. Er war, wie ich schon gesagt habe, ein großer Mann, der im Alter nicht dick geworden war (bis auf einen kleinen Bauch, den man im bekleideten Zustand aber kaum sah), ein Mann, der noch immer Haare hatte, weiß inzwischen, aber voll, und er war - William. Und er hatte eine Frau, seine dritte, die zweiundzwanzig Jahre jünger war als er. Alles in allem keine schlechte Bilanz.
Aber nachts befiel ihn oftmals die Angst.
Das gestand mir William eines Vormittags - vor nicht ganz zwei Jahren -, als wir uns an der Upper East Side zum Kaffee trafen. Wir saßen in einem Diner Ecke 91st Street, Lexington Avenue. William hat viel Geld, und er spendet viel; eine der Einrichtungen, die er unterstützt, ist eine Klinik für Jugendliche ganz in meiner Nähe, und wenn er dort in der Vergangenheit einen Morgentermin hatte, rief er mich an, und dann tranken wir in diesem Diner einen schnellen Kaffee. An dem Tag - es war März, wenige Monate vor Williams siebzigstem Geburtstag - saßen wir an einem Ecktisch; auf die Fensterscheiben waren für den St.-Patrick-Tag Kleeblätter gemalt, und ich dachte - doch, das dachte ich -, dass William müder als sonst wirkte. Ich habe oft festgestellt, dass William mit fortschreitendem Alter immer besser aussieht. Das dichte weiße Haar gibt ihm etwas Distinguiertes; er trägt es eine Spur länger als früher, so dass es leicht vom Kopf wegsteht, mit dem großen, hängenden Schnauzbart als Ausgleich, und seine Backenknochen treten stärker hervor; seine Augen sind immer noch dunkel, und das kann einen merkwürdigen Effekt haben, denn er richtet den Blick voll auf sein Gegenüber - einen freundlichen Blick, der jedoch ab und zu etwas Bohrendes bekommt. Was durchbohrt er mit diesem Blick? Ich habe es nie gewusst.
Als ich ihn an dem Tag im Diner fragte: »Und? Wie geht es dir, William?«, da erwartete ich, dass er mir antworten würde wie immer, mit einem leicht ironischen »Mir geht es blendend, danke, Lucy«, aber an diesem Morgen sagte er nur: »Ganz gut.« Er trug einen langen schwarzen Mantel, den er auszog und über den Nachbarstuhl legte, bevor er Platz nahm. Sein Anzug war maßgeschneidert; seit er Estelle kannte, trug er nur Maßanzüge, und das Jackett saß perfekt; der Anzug war dunkelgrau, das Hemd dazu hellblau und die Krawatte rot, was sehr gediegen wirkte. Er verschränkte die Arme vor der Brust, eine Geste, die er häufig macht. »Gut siehst du aus«, sagte ich, und er sagte: »Danke.« (Ich kann mich nicht erinnern, dass William mir bei all den Malen, die wir einander über die Jahre gesehen haben, je gesagt hätte, dass ich schick oder hübsch oder auch nur nett aussehe, und um ehrlich zu sein, habe ich immer gehofft, dass er es doch irgendwann tut.) Er bestellte unseren Kaffee und ließ den Blick in dem Lokal umherschweifen, und dabei zupfte er an seinem Schnauzbart. Er redete eine Weile über unsere Töchter - er fürchtete, Becka, die jüngere, könnte wütend auf ihn sein, sie war - im weitesten Sinne - ruppig zu ihm gewesen, als er sie vor kurzem angerufen hatte, um ein wenig mit ihr zu schwatzen, und ich sagte ihm, dass er ihr einfach Zeit geben müsse, sie müsse erst in ihrer Ehe ankommen, über solche Themen sprachen wir eine Zeitlang, und dann schaute William mich an und sagte: »Button, ich muss dir etwas sagen.« Er lehnte sich kurz ein Stück vor. »Ich habe nachts seit einer Weile so schreckliche Angstzustände.«
Wenn er...
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