Schweitzer Fachinformationen
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Im 12. Jahrhundert sorgt eine Benediktinerin vom Mittelrhein bei Geistlichen und Laien gleichermaßen für Furore: Hildegard von Bingen, Nonne und Äbtissin, früh als Heilige verehrt (und bis heute von der katholischen Amtskirche nicht kanonisiert), Seherin, Seelsorgerin, pragmatische Gründerin und Leiterin zweier Frauenklöster, Heilkundige, Erforscherin der belebten und unbelebten Natur, der Flora und Fauna, Dichterin und Komponistin, viel beschäftigte Korrespondenzpartnerin. Sie steht im Briefwechsel mit gekrönten und ungekrönten Häuptern, mit Königen und dem Kaiser, mit Äbten und Äbtissinnen, Gelehrten und Laien, Mönchen und Nonnen, Würdenträgern und sogenannten einfachen Leuten, die alle sich von ihr Rat, Zuspruch und Hilfe erhoffen. Nicht allzu oft spricht Hildegard über sich selbst. Wo sie es aber tut, tritt sie uns als zwar kluge, aber nicht akademisch gebildete Frau entgegen. Mit einem gewissen Understatement schreibt sie ihrem langjährigen Sekretär und Beichtvater Wibert von Gembloux (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen heiligen Abt des 10. Jahrhunderts) über ihre visionäre Begabung: »Denn ich werde in der Schau nicht gelehrt, wie die Philosophen zu schreiben. Die Worte in dieser Schau klingen nicht wie die aus Menschenmund, sondern sie sind wie eine blitzende Flamme und wie eine im reinen Äther sich bewegende Wolke.«
War Hildegard also keine Philosophin? Ja und nein. Sie besaß keine akademische Ausbildung, war keine Verfechterin eines philosophischen Systems geschweige denn die Begründerin einer philosophischen Schule. Zur scholastischen Richtung ihrer Zeit (etwa der des Pierre Abaelard) stand sie mit ihren Ansichten und Äußerungen sogar im produktiven Widerspruch. Hildegard lief in vielem den Denkmustern ihres Jahrhunderts zuwider, sie war unangepasst, kaum einzuordnen, eigenständig, bisweilen auch hartnäckig und aufmüpfig. Sie sah sich in erster Linie als Medium, ausersehen, die Visionen, die ihr vom »lebendigen Licht« gezeigt wurden, in Worte zu fassen und so der Mit- und Nachwelt mitzuteilen. Doch in dieser »Schau« göttlicher Wahrheit und Weisheit (und um nichts anderes handelt es sich nach Hildegards Überzeugung) und deren Verbreitung in Wort und Tat war die »Prophetin Deutschlands« (so titulierte man sie alsbald) eben doch eine Philosophin im ureigentlichen Sinn: Eine Person, der die Liebe zur Weisheit am Herzen lag, die dies aber nicht in vertrackte Systeme fasste, sondern in gewaltige poetische Bilder, die bis heute nichts von ihrer beklemmenden Unmittelbarkeit verloren haben. Und sie versuchte, als Seelsorgerin den zahlreichen Menschen, die an sie um Hilfe und Rat herantraten, etwas von dem inneren Licht, das sie schauen durfte, weiterzugeben, im Wort und in der tätigen Liebe. Insofern hat ihre »Philosophie« der göttlichen Barmherzigkeit vielleicht tiefere Spuren in Zeit und Welt hinterlassen als manches hochfahrende System eines Kathederphilosophen.
Zu Beginn ihrer seherischen Begabung steht die Aufforderung des »lebendigen Lichts«: »Scribe, quae vides et audis.« »Schreib auf, was du siehst und hörst.« Dieser Weisung kam die Seherin Hildegard treu nach. In drei prophetischen Büchern hat sie ihre Visionen detailliert in Worte zu fassen versucht. Sie hat dies mithilfe wechselnder Sekretäre getan, die des Lateinischen besser mächtig waren als sie, die akademisch ungebildete Nonne. Dennoch hat Hildegard darauf bestanden, dass die Unmittelbarkeit ihrer Worte (und damit ihrer Visionen) nicht durch ein elegantes Gelehrtenlatein verschliffen und verwässert wurde. Ihre Bücher (und mehr noch die Briefe) zeugen von einer ungewöhnlichen metaphorischen Kraft, vom geradlinigen Denken einer pragmatischen Frau, der »das Herz auf der Zunge« lag - in ihren Visionen, aber auch im Alltag. Natürlich stand auch Hildegard nicht außerhalb von theologischen Richtungen und gesellschaftlichen Strömungen. Dennoch zeigen ihre drei visionären Bücher - Scivias/ Wisse die Wege, Liber vitae meritorum/Das Buch der Lebensverdienste, Liber divinorum operum/Das Buch der Gotteswerke -, dass sie trotz einiger gedanklicher Anleihen, vor allem bei den alten Kirchenvätern, weitgehend auf eigenständigem intellektuellem Terrain steht, in vielem ihrer Zeit voraus. Oder hat tatsächlich Gott selbst, wie Hildegard es stets betont hat, in ihren Visionen zu ihr gesprochen? Dies zu entscheiden ist keine Sache des kühlen Verstandes, sondern des heißen Glaubens: Darin mögen sich die Geister scheiden. Tatsache ist, dass Hildegard durch ihre Schriften wie auch durch ihr tätiges Wirken zu einer Glaubenserneuerin des 12. Jahrhunderts wurde und dass die ihr geoffenbarten Visionen wie auch die von ihr verfassten Schriften zur Natur und Heilkunde für viele Generationen bis auf den heutigen Tag hilfreich und wegweisend waren. Und wie immer man auch zu den von Hildegard niedergeschriebenen Visionen steht: Sie haben nichts mit den subjektiven Versenkungen späterer Mystiker und Mystikerinnen zu tun, es gibt bei Hildegard keine ekstatischen Verzückungen, keine Levitationen (geistkörperliche Zustände, in denen der Körper unter Aufhebung der physikalischen Gesetze zu schweben scheint), keine Glossolalie (ein »Lallen« in fremden, ungekannten Sprachen), keine erotischen oder gar hysterischen Projektionen. Das ihr geoffenbarte Wort des »lebendigen Lichts« ist klar, hart, bildreich, aber eindeutig, in einem bisweilen etwas geradlinigen, ungekünstelten Latein abgefasst, einer Sprache, die offenbaren will und nicht verschleiern. Insofern hat sich das »lebendige Licht« tatsächlich einer Frau bedient, die nur »Medium«, also Mittlerin war, nicht eigenständige Seherin oder Denkerin. Und doch: Welch individuelle, starke, charismatische Person war dieses Medium!
Hildegards erste Lebenshälfte weist in keiner Weise auf ihre spätere Bedeutung hin. Es ist ein Leben in Abgeschiedenheit, in Klausur, in Demut, Askese und Selbstverleugnung - bevor das »lebendige Licht« in ihr leuchtet und sie aus der körperlichen wie geistigen Verdunkelung herausführt, hinein ins Licht der Öffentlichkeit.
Hildegard wird im Jahre 1098 geboren. Es ist eine Zeit gesellschaftlicher Umbrüche und Verunsicherungen. Im selben Jahr belagert ein Kreuzfahrerheer das syrische Antiochia. Im Jahr darauf erobern die Ritter die Stadt Jerusalem und errichten in Palästina ein christliches Königreich. In den Städten des Abendlandes entstehen die ersten Handwerkerzünfte. Der Handel nimmt immer mehr zu, auch der Fernhandel mit entlegenen Ländern. Durch den Kontakt mit anderen Kulturen (vor allem Siziliens, Granadas und des Orients) werden die Naturwissenschaften gefördert. Der Rationalismus treibt eine erste Blüte, und auch die Theologie wird von ihm berührt: Im fernen Paris lehrt der Frühscholastiker Pierre Abaelard, dass Vernunft und Verstand glaubensweisend seien. Dem gegenüber steht die zisterziensische Bewegung unter ihrem großen Prediger Bernhard von Clairvaux, die Glauben als Gottvertrauen predigt und zu neuer Selbstbescheidung, zu Armut und Askese aufruft. Es ist der Beginn bürgerlicher Emanzipation und des Aufstiegs der freien Reichsstädte in Konkurrenz zum Adel, dessen staatstragende Bedeutung im Schwinden ist. In der Literatur blüht der Minnesang auf (ausgehend von der französischen und provenzalischen Dichtung der Trouvères und Troubadours). Die ersten Universitäten entstehen, allen voran die Sorbonne in Paris (und lösen damit nach und nach die Kloster- und Kathedralschulen als alleinige Hüter des akademischen Wissens ab). Und in der Architektur wagt man den Bau der ersten himmelstürmenden gotischen Kathedralen.
Hildegard freilich bekommt von solchen Neuerungen wohl kaum etwas mit. Und das Geschrei der Wanderprediger, die durch die Städte ziehen und dazu aufrufen, Schwert und Kreuzbanner zu nehmen und gegen die muslimischen Feinde zu ziehen, dürfte ebenfalls an ihr vorübergehen. Sie wächst behütet auf, als Tochter aus adligem Hause, auf einem Herrenhof im ländlichen Bermersheim bei Alzey in Rheinhessen. Ihre Eltern heißen Hildebert und Mechthild. Es ist den Zeitumständen entsprechend eine kinderreiche Familie: Hildegard ist das zehnte und letzte Kind. Sie ist ein zartes, wohl etwas kränkliches Mädchen. Da der Herrenhof nicht genügend abwirft, um allen Sprösslingen eine angemessene Mitgift zukommen zu lassen, werden mehrere Söhne und Töchter dem geistlichen Stand zugeführt: Ein Bruder Hildegards namens Hugo wird später Kantor am Mainzer Dom und Lehrer an der dortigen Kathedralschule. Ein anderer Bruder namens Rorich wird Kanonikus in der alten Abtei Tholey im heutigen Saarland. Eine Schwester, Clementia ist ihr Name, wird Nonne (später wird sie in dem von Hildegard gegründeten Kloster Rupertsberg leben).
Für Hildegard ist früh eine besondere geistliche Lebensform ausersehen: Sie soll Inkluse werden, Eremitin in einem - der Begriff deutet es an - »verschlossenen«, also zugemauerten Haus. Zu jener Zeit breitet sich zu beiden Seiten des Rheins die Kunde von einer frommen Inkluse namens Jutta von Sponheim aus. Sie wohnt im Schutze des Benediktinerklosters Disibodenberg, das sich auf einem Hügel über dem Nahetal, unweit der Mündung in den Rhein, befindet. Als Hildegard acht Jahre alt ist, bringen die Eltern sie als Oblatin zum Disibodenberg, sechs Jahre später wird Hildegard nach dem Willen der Eltern der frommen Frau Jutta übergeben. Es ist ein Abschied auf immer. Hildegard wird ihre Eltern nicht wiedersehen.
Hildegard ist ein besonderes Kind. Glaubt man der von ihren Schülern Gottfried und Theoderich um 1180 verfassten Lebensbeschreibung, so habe sie bereits in jungen Jahren erste Visionen gehabt: »Kaum war sie imstande, die ersten Worte...
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