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Kupffer begegnet der Schönheit
Anton Raphael von Kupffer war ein Mann des erlesenen Geschmacks. Ihm war, als wäre er mit einer zu dünnen Haut zur Welt gekommen. Bereits als Kind war er wochenlang ohne ersichtliche Ursache krank gelegen und hatte die Schattenspiele der Jalousie an der Zimmerdecke studiert. Alle Eigenschaften eines alten, aber verarmten Geschlechts waren auf ihn gekommen, gute wie schlechte: Er war empfindsam und melancholisch, intelligent, doch mit einem Hang zur Nachlässigkeit, ritterlich, aber in Augenblicken der Schwäche von Selbstmitleid geprägt.
Er war der Letzte seines Namens. Sein Werk betrachtete Kupffer als einen Gipfelpunkt. Was hatten seine Ahnen denn schon hervorgebracht, was geleistet? Der eine oder andere stand zwar im Konversationslexikon, doch alle waren sie nur Gutsverwalter oder Hofbeamte, im besten Falle hohe Militärs gewesen. Sie hatten Gelder verwaltet und Schlachten geschlagen. Doch während die Soldaten Mann gegen Mann gekämpft und ihre Säbel und Bajonette in die Leiber der Feinde gestoßen hatten, waren die Kupffer'schen Offiziere in sicherem Abstand auf dem Feldherrenhügel gestanden und hatten das blutige Geschehen mit heiser gebellten Befehlen dirigiert. Hatten die Bauern in den Domänen das Getreide vor heranrollenden Gewittern eilends eingebracht, in Furcht, die Ernte knapp vor dem Scheunentor durch Hagel und Regenguss zu verlieren, so hatten die Kupffer'schen Gutsverwalter zwar auch gebangt, doch ihr Verlust war in den Kontobüchern nur als unschöne Zahl aufgetaucht und hatte sich im Winter nicht als Kälte oder Hunger verspüren lassen.
Anton Raphael von Kupffer verachtete seine Ahnen dafür. Er glaubte, diesem Geschlecht etwas Höheres, Besseres hinzuzufügen: die Liebe zur Schönheit. Er empfand seine Liebe als Erhöhung und Demütigung zugleich. Die Schönheit beseligte und verletzte ihn gleichermaßen. Die Schönheit: Das waren für ihn die Leiber junger Männer.
Sein Talent betrachtete Kupffer als Sendung. Ihm war aufgetragen, die Schönheit, von der die antiken Dichter sangen, ins Bild zu fassen. Warum also nicht in das Ursprungsland der Antike reisen, um dort dem Schönen aufzuspüren? Kupffer hatte oft genug den Atlas aufgeschlagen, mit dem Finger die Küstenlinie von Hellas nachgezeichnet und sich vorgestellt, es wäre die Silhouette eines Nackens, eines Schulterblattes, einer Hüfte. Doch wie nach Griechenland kommen? Erst im Jahr zuvor war der Freiheitskampf der Hellenen zu Ende gegangen, der osmanische Sultan gestürzt worden. Kupffer traute dem Frieden noch nicht recht. So verfiel er auf die Idee, sein arkadisches Glück in Unteritalien, dem einstigen Kleingriechenland, zu suchen. Dort erwarteten ihn, wie er dachte, Menschen verschiedenster Völker: Abkömmlinge der alten Griechen, in ihrer schlanken Anmut unvergleichlich; ebenso die Nachfahren der Römer, etwas gedrungener von Gestalt, aber nicht minder begehrenswert; und schließlich jene Sizilianer, die ihren Stammbaum nach Haar- und Augenfarbe auf die Normannen zurückführen konnten, die einst die Insel nicht nur gebrandschatzt hatten.
Kupffer selbst war Mitte vierzig. Sein Haar, das er nach Art vieler Künstler schulterlang trug, war grau meliert, am Hinterkopf klaffte bereits eine handtellergroße Lücke. Seine Haut war von grauen Flecken überzogen. Um die Augen spannte sie wie Pergament.
Der Maler litt an der Schönheit, er verehrte sie wie ein Märtyrer die Folterwerkzeuge. Sein Verfallensein glich einem Opfergang. Und zum Opfer war er bereits wiederholt geworden: In Triest war ihm einmal von einem Burschen aus dem Hafenviertel, der ihm Modell gestanden hatte, die Geldbörse gestohlen worden. Und in Rom - es war auf dem Palatin, wo einst der prunksüchtige Kaiser Heliogabal sich als Gott hatte verehren lassen - war er einmal nachts mit einem jungen Melonenverkäufer, den er porträtiert hatte, spazieren gegangen. Hinter einem Gebüsch hatte der andere ein Messer gezogen und es ihm an den Hals gesetzt. Kupffer hatte noch gefragt, ob er Geld wolle? Seine goldene Taschenuhr? Da hatte der junge Mann bereits zugestoßen, und nur einer reflexartigen Bewegung Kupffers war es zu verdanken gewesen, dass die Klinge lediglich die Haut aufgeschlitzt hatte. Der Bursche hatte das Blut gesehen, vor Schreck das Messer fallen gelassen und war in der Finsternis verschwunden. Kupffer war in einer Mischung von Scham und Erregung zurückgeblieben.
***
Auf der Suche nach der Schönheit kam Kupffer an jenem Morgen des 15. Juli 1831 nach Sciacca. Straßenjungen johlten und befingerten sein Gepäck und ließen sich vom Maultiertreiber nur schwer abwehren. Der Maler verhandelte mit ein paar Frauen, die ihm lauthals Zimmer anpriesen. Eben wollte er, des Palavers müde, einer Matrone, die ihm noch am vertrauenswürdigsten erschien, zusagen, als er plötzlich innehielt: Ein junger Mann mit rundlichen Formen, in Hemd und Hose, das lange, flachsfarbene Haar offen, drängte sich durch die Umstehenden, an der Hand einen dunkelhaarigen Knaben. Kupffer blickte in weiche Gesichtszüge, in blaue Augen, auf einen vollen Mund und wusste: Er hatte einen Abkömmling der normannischen Eroberer vor sich.
»Was steht ihr hier rum?« Der junge Mann schob die Matrone beiseite.
»Eh, Rosalia, was schert es dich? Geh wieder hinunter zum Strand und lass dich von den Kerlen begaffen, wenn du schon deinen Michele zu kurz kommen lässt!«
Rosalia? Kupffer war verwirrt. War damit der junge Mann gemeint? Der stieß die Matrone gerade mit beiden Händen zurück.
»Lucia, du alte Vettel, halt den Mund! Habe ich dich um deine Meinung gefragt?«
»Bei allen Heiligen! Braucht's da eine Meinung? Die Spatzen pfeifen's ja von den Dächern!«
»Was pfeifen sie, du Kröte?«
»Lieber bin ich eine Kröte«, maulte die kurzatmige Matrone, »als ein Postmeisterliebchen.«
»Woher willst du das wissen, du schielendes Ungeheuer?«
Kupffer blickte auf die Matrone. Er konnte an ihren Augen keine Missbildung entdecken.
»Weil ich Augen im Kopf habe!«, schrie die Matrone. »Man braucht sich ja nur deinen Balg anzusehen«, sie zeigte auf den Knaben, »um zu kapieren, welcher Pflug den Acker bearbeitet hat. Oder hat dein Michele etwa schwarzes Haar? Blond ist er, dein gehörnter Mann, und du selbst auch, wenn du dir die Zotteln nicht färbst, du Hur'!«
Die Matrone sank, von einem Kinnhaken getroffen, zu Boden.
»Da hast du deine Hur'! Vor dir habe ich mich nicht zu verteidigen!«
Kupffer betrachtete Rosalia. Er musste sich eingestehen, dass er keinen jungen Mann, sondern ganz offensichtlich eine Amazone vor sich hatte.
Die Matrone rappelte sich ächzend auf. »Das sollst du mir büßen, du Schickse!«, schrie sie. Drohend reckte sie die Faust.
In diesem Augenblick hörte man vom Rand des Platzes eine Männerstimme rufen: »Eh, Leute, das müsst ihr euch anschauen! So etwas habt ihr noch nicht gesehen!«
Alle wandten sich um. Kupffer riss die Augen auf. Ein blonder Jüngling, etwa siebzehnjährig, stand dort. Er war beinahe nackt. Um die Hüften hatte er einen Stofffetzen geschlungen. Auf den Schultern, der Brust, dem Bauch, den Beinen - das Wort »kolossal« durchzuckte Kupffers Hirn - schimmerten Wasserperlen. Ein junger Gott, der eben den Fluten entstiegen war!
»Was soll der Aufzug?«, rief die Amazone dem Jüngling zu. »Mach, dass du nach Hause kommst!«
Kupffer trat ein paar Schritte näher, um die Erscheinung besser betrachten zu können.
»Ach, sei still, erst mir die Hose wegschnappen, und dann .«
»Ich habe sie nun einmal an«, rief Rosalia, »damit musst du dich abfinden, Angelo!«
Alle lachten.
Ein Engel!, raunte es in Kupffers verworrenem Kopf.
»Kommt doch her«, rief der Engel, »so etwas habt ihr wirklich noch nie gesehen!«
Kupffer nickte zustimmend.
»Was?«, rief einer. »Einen halbnackten Trottel, der sich von seiner Schwester aufziehen lässt?«
Wieder lachten alle.
Angelo schüttelte unwillig den Kopf. »Eine Rauchsäule! Senkrecht zum Himmel hinauf!«
Ein Raunen ging durch die Menge. Einige rannten in die Richtung, die Angelos ausgestreckter Arm wies. Auch Rosalia tat ein paar Schritte, doch Kupffer verstellte ihr den Weg.
»Verzeihen Sie, Signora. Ich bin ein Maler aus Deutschland. Auf der Durchreise.« Umständlich zog er den Hut. »Antonio Raffaele di Kupffer mein Name. Ich suche Obdach, für ein paar Tage, vielleicht auf ein paar Wochen. Ich benötige keinen Luxus. Einfachheit ist eine Zier, nur sauber muss es sein . Ich will hier malen, Sie wissen, die Schönheit . Könnten Sie mir in Ihrem Hause vielleicht .?« Hatte er sich zu weit vorgewagt?
»Eh, bene«, Rosalias Gesicht hellte sich auf. »Sie haben doch Geld? Und Sie sind ein Christenmensch?«
Kupffer nickte.
»Ich habe ein schönes Gästezimmer. Es ist ruhig, geht zum Hof hinaus. Eine Kammer für den Knecht ist auch da. Ich kann für Sie kochen, wenn Sie wollen. Zu einem guten Preis, Sie verstehen?« Sie rieb Zeigefinger und Daumen aneinander.
Kupffer nickte wieder. »Wir werden uns einigen. Ich bin kein geiziger Mensch.«
»Und ich keine ehrlose Frau«, antwortete Rosalia.
Angelo trat heran. »Komm doch, Rosalia, die Rauchsäule!«
»Sie sind also der Bruder der Signora?« Kupffer lächelte den Burschen an.
»Und Sie sind Maler?« Angelo deutete auf die Staffelei.
»Lieben Sie Bilder?«, fragte Kupffer zurück.
»Ja . doch....
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