Nehmen wir zum Beispiel das Problem mit der Müllabfuhr. Einmal wöchentlich, dienstags. Mein Küchenabfalleimer fasst gerade so viel, dass er nach Ablauf einer Woche bis an den Rand angefüllt ist. Da die Müllabfuhr um 9 Uhr früh vorbeikommt, muss ich den Eimer montags abends, oder spätestens dienstags früh, zum Müllcontainer im Hof tragen und entleeren. Das bedeutet bei drei Stockwerken mit jeweils zwei Stiegen zu je 21 Stufen .
Herr Theobald hielt inne. Er öffnete die Lade des Küchentisches, an dem er saß, und suchte. Nach kurzem Stöbern hielt er einen stark abgenutzten Bleistiftstummel in der Hand. Er zog eine Zeitung zu sich heran und blätterte nach einer wenig bedruckten Seite. Dann leckte er kurz über die Bleistiftspitze und begann zu rechnen.
Das Ergebnis war niederschmetternd. Herr Theobald griff nach den am Küchentisch lehnenden Krücken und erhob sich schwankend. Er humpelte zum Kühlschrank und nahm geschickt eine Packung Milch heraus. Er füllte ein Glas. Er trank.
Seit der Rückkehr aus dem Spital vor drei Wochen, das er mit Beschwerden betrat und als Krüppel verließ, kam er aus den Problemen nicht mehr heraus.
Letzte Woche hatte er am Montagabend das Rote Kreuz angerufen. »Bitte, dringend kommen. Mir ist nicht gut.« »Geht es auch etwas präziser?« Unhöflicher Zivildiener, Drückeberger vor der Waffe. Wenn ich da an meine Generation . »Hallo, sind Sie noch dran?« »Ja, ja. Meine Beine sind komplett taub und lassen sich nicht mehr bewegen.« »Wie alt sind Sie?« »Jahrgang 50.«
Da standen sie also dann in seiner Wohnung. Ein verschlafen aussehender Hippie (wahrscheinlich der vom Telefonat) und ein immerhin erwachsen wirkender Vierzigjähriger mit Bauch und Brille. Sie glotzten abwechselnd auf die Beinprothese (links) und das leere Hosenbein über dem Stumpf (rechts). Pulsmessung, Blutdruck und eine unmissverständliche Ermahnung. »Es ist strafbar, die Rettung ohne triftigen Grund zu einem Einsatz zu beordern. Das nächste Mal kommen Sie nicht straflos davon!«
Als sie, die mitgebrachte Tragbahre mühsam durch die Tür bugsierend, die Wohnung verließen, rief Herr Theobald aufgeregt hinterher: »Hallo, nehmen Sie doch bitte meinen Abfalleimer mit in den Hof, entleeren ihn und bringen ihn bitte wieder herauf!«
Die Sanitäter blieben abrupt stehen. Dann drehte sich der Hippie um und reckte den Mittelfinger der rechten Hand in die Höhe. Ohne ein weiteres Wort verschwanden die menschenverachtenden Teufel im Stiegenhaus.
Vor zwei Wochen war ihm der Mülleimer im zweiten Stock aus der Hand gerutscht, die ja auch noch die blöde Krücke halten musste. Zum Glück gelang es ihm, rasch genug noch in seine Wohnung zurück zu krückeln, bevor andere Hausbewohner die Treppenhausversauung entdeckten.
Natürlich hatte er es auch schon mit dem Boten des Lebensmittelladens versucht. Täglich brachte ihm dieser Fertiggerichte, Gulaschdosen oder leicht zuzubereitende Nudelgerichte. Leider sah sich ja die Stadtverwaltung genötigt, den Zustelldienst >Essen auf Rädern< aus budgetären Gründen einzustellen. Darüber hinaus bestünde für Herrn Theobald nur dann Anspruch auf diesen Sozialservice, wenn er Pflegegeld bezöge. Aber beim Pflegegeld hatte wiederum die Krankenkasse den Rotstift angesetzt.
Zurück aber zu dem Supermarktboten. Ob dieser so nett wäre, ihm den Mülleimer . Selbstverständlich wäre er so nett; er dürfe dafür aber die weiter nicht erwähnenswerte Kleinigkeit von 15 Euro verlangen? Mühsam beherrschte sich Herr Theobald und sah von Handgreiflichkeiten ab. Schließlich war er auf die Lieferdienste angewiesen.
Wenn alle Stricke rissen und die Überfüllung des Küchenmülleimers drohte, so könnte er sich ja vom Supermarkt (um weit weniger als 15 Euro) einen dieser Obsteimer (leer!) bringen lassen, und so eine zweite Abfalllagerstätte schaffen.
Oder nehmen wir das Problem der Körperpflege. In der Mietwohnung, die er nun schon fast vierzig Jahre bewohnte, unbeweibt und kinderlos, gab es im Badezimmer keine Dusche, sondern nur eine Badewanne. Seinerzeit hatte er sie auch infolge seines Sauberkeitsfimmels fast jeden Sonn- und Feiertag benutzt. Aber jetzt? Steigen Sie doch einmal mit zwei Krücken in eine Badewanne! Sie schaffen es? Dann weiß ich auch, wo man Ihre sterblichen Überreste finden wird.
Herr Theobald lag bei seinem ersten beinlosen Wannenbad lange im bereits wieder kalten Wasser, verzweifelt nach einem Ausweg suchend. Vielleicht sollte ich das Badewasser so lange ansteigen lassen, bis es mich über den Wannenrand hinausspült, hatte er überlegt. Aber als Mindestrentner scheute er vor dieser Wasserverschwendung zurück.
Schließlich verfiel er auf die Lösung, das Badewasser komplett abfließen zu lassen. Dann nahm er die Abdeckung des Abflussloches heraus. In das nunmehr geöffnete Loch steckte er eine Krücke senkrecht hinein, sodass sie wie ein Fahnenmast vor ihm in die Höhe ragte. Mithilfe seiner ja bestens trainierten Armmuskulatur war es ihm unter größter Mühewaltung schließlich gelungen, sich empor zu ziehen und die Badewanne lebend zu verlassen. Er tröstete sich seither mit dem Gedanken, dass eine gewisse Schmutzschicht am Körper ja bekanntlich auch als eine Schutzschicht gegenüber Bazillen fungieren kann. Jedenfalls sank fortan sein Wasserverbrauch merklich.
Einmal wöchentlich kam jemand von einer privaten Pflegeagentur vorbei, um kleine Hilfstätigkeiten zu leisten. Vorwiegend bestanden diese im Austausch von schmutziger Wäsche durch frisch gewaschene, für deren Säuberung die nahe gelegene Wäscherei und Putzerei Sorge trug, und der Versorgung mit Toilettenartikeln und Medikamenten.
Die Agentur rechnete nach Stunden ab. Dummerweise hatte er einen Dauerauftrag für Dienstag 10 bis 12 Uhr abgeschlossen, was in Hinsicht auf das Müllproblem den ungünstigsten Termin überhaupt darstellte. Änderungswünschen gegenüber zeigte sich die Agentur unflexibel, weil man bei Abschluss des Fünfjahresvertrages ohnehin einen Rabatt von 0,5 Prozent gewährt habe.
Quälenderweise schickte man ihm als Pflegekraft eine dralle Blondine mit aufreizendem Dekolletee und vulgären Bewegungen. Darüber hinaus verstand sie sehr wenig Deutsch, da: »Bin ich aus Slowakei, du mir zeigen, nix verstehn.«
Als Herr Theobald ihr zu verstehen geben wollte, dass sie ihm ein Bad einlassen und ihm dann bei der Benützung desselben helfen solle, gab die Blonde ihm eine Ohrfeige und telefonierte dann in einer Fremdsprache, vermutlich slowakisch, mit ihrer Agentur.
Herrn Theobalds Hoffnungen, es würde ihn beim nächsten Mal jemand Kompetenteres betreuen, erfüllten sich nicht. Als er die Tür öffnete, stand die Dralle mit dem großen Busen vor ihm. Bevor sie jedoch eintrat, öffnete sie ihre ordinäre rote Handtasche und zeigte Herrn Theobald, was sie diesmal mitbrachte. Erschreckt starrte dieser auf ein Pfefferspray und kontrollierte sofort ängstlich den korrekten Sitz der Knöpfe seiner Hose. Insgeheim sagte er sich, dass diese Hexe ihm auch bei einem Montagstermin sicher nicht den Mülleimer ausgeleert hätte.
Wochen vergingen. Herr Theobald hatte manchmal melancholische Momente. Dann träumte er von einem Rollstuhl.
In der ohnehin nicht sehr geräumigen Küche wurde es zunehmend ungemütlicher. Neben dem mit einem Topfdeckel bedeckten Küchenmülleimer standen drei weitere, zu Abfallbehältern mutierte Obsteimer aus Kunststoff. Glücklicherweise hatte man ihm auch die dazugehörigen Deckel mitgeliefert. Denn es fiel nicht schwer, sich vorzustellen, dass Speisenreste, Obstschalen oder schlampig ausgeleckte und ausgeleerte Konservendosen als Nährboden für die Entfaltung eines gewissen Eigenlebens dienen würden.
Aber auch in der eigenen Haut fühlte sich Herr Theobald immer unwohler. Ihn plagte ständiger Juckreiz. Die ungewaschene Haut (vor allem der Rücken!) begann, Anforderungen an seine Riechtoleranz zu stellen. Der angewiderte Gesichtsausdruck der Slowakin und der auf größtmögliche Distanz bedachte Bote aus dem Lebensmittelladen sprachen Bände.
Seit einiger Zeit war er daher dazu übergegangen, seinen Körper, also das, was ihm die Ärzte davon noch gelassen hatten und sich in Reichweite seiner Hände befand, mit Rasierwasser zu waschen. Der penetrante Moschusgeruch verursachte ihm zwar Kopfschmerzen und aus Kostengründen musste er nun seine Wäschewechsel-Intervalle verlängern, was wiederum Geruchsfolgen zeitigte, die den Rasierwasserverbrauch steigerten; aber den Körperausdünstungen waren vorerst gewisse Grenzen gesetzt.
Erkennen konnte man das auch daran, dass der Supermarktbote und die Slowakin ihren Respektabstand von drei auf zwei Meter verkürzten.
Jedoch bereitete ihm das nach wie vor ungelöste Müllproblem weiterhin Sorgen. Als er eines Tages aus dem Badezimmer eine Rasierwasserverpackung in die Küche trug, um sie zu entsorgen, kam ihm unvermutet die rettende Idee. Problem 1: In der Küche wird der Platz knapp. Problem 2: Die Benützung der Badewanne ist ein Ding der Unmöglichkeit. Lösung: Verwende Problem 2 als Lösung von Problem 1! Nutze die Badewanne als Lagerstätte für die Mülleimer!
Bei dem gegebenen Volumen des Wanneninneren und der Raumverdrängung durch einen zweckentfremdeten Obstkübel beläuft sich das Fassungsvermögen der Badewanne auf gut und gern .
Das Ergebnis stellte ihn sehr zufrieden. Herr Theobald griff nach den am Küchentisch lehnenden Krücken und erhob sich schwankend. Er humpelte zum Kühlschrank und nahm geschickt eine Flasche Wein heraus. Er füllte ein Glas. Er trank.
Wieder vergingen Wochen. Herr Theobald hatte manchmal glückliche Momente. Zum Beispiel, wenn er nicht in der Küche war. Oder im Badezimmer. Sondern...