Schweitzer Fachinformationen
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Es ist also der August des Jahres 1997, eitel Sonnenschein, »Mittelmeersommer«, in einem kleinen Ort im Westen der Republik, und zwar dort, wo die wunderbare Ahr in den absolut immer trüben Rhein mündet, in Sinzig.
Und nicht einfach nur »Sinzig«, sondern natürlich mit der Ergänzung »am Rhein«, damit hier auch ja keine Verwechslungen entstehen, es gibt nämlich absolut nur ein Sinzig auf der Welt, und das ist verdammt noch mal am Rhein. Am Rhein mit seinem Hochwasser, seiner Melancholie, seinen Ironman-Anekdoten, den Geschichten seiner Brücken während der Weltkriege, dem Binnenschiffsverkehr und den mittlerweile entkoffeinierten Kaffeefahrten der Köln-Düsseldorfer Dampferflotte. Von den Schiffen in Haifischoptik krächzt aus den Deckenlautsprechern die immerwährende Weisheit: »Der Rheinländer kehrt immer wieder ins Rheinland zurück«, so wie der Täter an den Tatort.
Der Tatort, an den ich die nächsten zweieinhalb Jahre regelmäßig zurückkehren sollte und an dem ich zum Komplizen wurde, zum Komplizen einer Art Verbrechen an mir selbst, einer Unkenntlichmachung meines ursprünglichen Ichs, ist ein beschauliches Stück deutscher Traditionsgastronomie. Die Wendelinusstube ist ein Landgasthof neben einer Kirche, die man eher Kapelle hätte nennen sollen, mit einem Saal für gut- bis spießbürgerliche Ereignisse (Gemeinderatssitzungen, Karnevalsfeste, Hochzeiten, Trauerfeiern) bei Kaffee, Blechkuchen und belegten Brötchen. Ein warmherziger Familienbetrieb, gelegen auf einem Hügel oberhalb des Sinziger Stadtkerns, im verschlafenen Nest Koisdorf. Ein paar Fremdenzimmer, ein gemütliches Restaurant und eine angrenzende Kneipe mit Dart und Würfelspiel für die Dorfältesten und die Junggesellen .
Martin ist dort Lehrling im zweiten Lehrjahr. Aber er ist auch zweiter Mann. Zweiter Mann hinter dem Küchenchef. Sous Chef also.
Martin sieht ein bisschen so aus, wie man sich den gemeinsamen Sohn von Benjamin von Stuckrad-Barre und Boris Becker vorstellen würde. Zur Zeit des Geschehens allerdings ist Boris Becker gerade auf dem Weg, sich aus dem Profisport zu verabschieden, und erklärt, mit auf Wimbledon schielenden Augen, seiner zukünftigen Exfrau Barbara, sein Hirn sei Rührei. Benjamin von Stuckrad-Barre arbeitet in Hamburg bei einem Plattenlabel, und zwar nicht für oder mit Udo Lindenberg, und ist auch weder fürs Rauchen noch fürs Koksen einem breiteren Publikum bekannt. Bücher hat er auch noch keine geschrieben.
Mich selbst zu dieser Zeit zu porträtieren, fällt mir gar nicht so leicht. Verblasste Erinnerungen und der Mangel an Beweismaterial. Handys mit Kamera gab es noch nicht, nur schwere Mobiltelefon-Installationen in teuren Autos von Menschen mit enormer Wichtigkeit. Fotoapparate waren was fürn Urlaub. Ich mein, es war noch D-Mark, Leute.
Ich versuche mich dennoch an mir selbst.
Im zarten Alter von fünfzehn - ich hatte gerade knapp mein erstes Mal überstanden, meinen leiblichen Vater bei einer New-York-Reise kennengelernt und mit Pauken und Trompeten zum zweiten Mal die achte Klasse des Gymnasiums vermasselt - war ich dabei, mein Äußeres in Richtung Hybrid aus Jim Morrison und Kurt Cobain zu optimieren. Schlank genug war ich, sogar so spindeldürr, dass ich unter meinen zerrissenen Jeans aus Scham eine weitere Hose trug, eine Nummer kleiner, in deren Gesäßtaschen ich Taschentuchpackungen platzierte, um mein Hinternvolumen zu vergrößern. Meine Haare waren fast kinnlang (und wurden leider nie mehr länger), Naturhaarfarbe undefinierbar. In meinen ausgelatschten hohen Vans schlurfte ich mit schlechter Körperhaltung, voller Wut auf alles und null Bock auf irgendwas durchs fade Rheinland.
Zweimal in derselben Klassenstufe sitzenzubleiben bedeutet, von der Schule zu fliegen. Wie man es auch dreht, man fliegt von der Schule. Und von der Schule zu fliegen war, entgegen meinen Erwartungen, nicht sonderlich cool.
Die Eltern sind enttäuscht, die Freundin findet's doof. Ausschluss aus der Klassengemeinschaft. Verlust von Kontakten oder sogar Freundschaften.
Mir speziell boten sich nach dem Scheitern zwei Möglichkeiten: entweder direkt steil bergab, runter auf die Hauptschule, oder als Zwischenstopp die Realschule.
Die Lehrer und Direktoren der verschiedenen im Kreis ansässigen Schulen hatten selbstverständlich miteinander kommuniziert, und keiner von ihnen hatte den pädagogischen Ehrgeiz, sich eines Fünfzehnjährigen aus intakten sozialen Verhältnissen und mit besten Voraussetzungen anzunehmen. Ihre Aufmerksamkeit galt Schülern, die sich nicht sehenden Auges und selbstverschuldet zum Opfer degradierten und aufs Abstellgleis beförderten. Zu Recht.
Vom Abstellgleis aus fuhren dann nur noch zwei Züge mit One-Way-Ticket. Und zwar in Richtung Internat ganzweitweg und in Richtung Ausbildung vor der Tür.
In meiner bescheidenen schulischen Karriere hatte ich mir durchaus einiges Wissen darüber angeeignet, was ein Internat ist. Im ersten Moment flackerten vor meinem inneren Auge lebhaft unschöne Szenen auf: große Schlafsäle, superfrühes Aufstehen und Bettenmachen, militärische Strenge, Gebete, Homosexualität, Schülerverbindungen und Saufen mit Haltung und Stolz und bis zum Umfallen.
Kurz darauf schob sich in meine Vorstellung vom Internatsabsolventen hingegen das Bild vom Getümmel der Abschlussfeierlichkeiten und dem Dress eines amerikanischen College-Primus. Frenetisch feiernde Eltern mit Tränen des Stolzes und der Erleichterung in den Augen. Eltern, die sich selbst auf die eigene Schulter klopfen und sich gegenseitig beglückwünschen, alles richtig gemacht zu haben. Eltern, die nicht müde werden, gegenüber ihren Platznachbarn bei der Zeremonie zu betonen, dass ich ihr Sohn sei.
Danksagungen und Einträge von Professoren im Jahrbuch, meine Unterschrift in die Ehemaligenwand eingraviert wie die Namen der im Krieg gefallenen CIA-Spione in Langley. Berichte des Schulpsychologen über meine Person. So wie die Berichte, die Robin Williams mit immer tatwaffenpräzise gespitzten Bleistiftminen über den hochbegabten Good Will Hunting in sein Moleskine kritzelte. So schnell kritzelte er, weil sein hochintelligenter Patient im Sekundentakt Myriaden neuer Facetten seiner immens interessanten Persönlichkeit entwickelte. Und so wäre das bei mir, Good Max Strohe, dann auch gewesen.
Wenn man zu meiner Zeit ein Gymnasium bis zur achten Klasse besuchte, wusste man zwar, was ein Internat ist, aber man wusste nicht so recht, was eine Ausbildung ist.
Zumindest bereitet der Lehrplan einen nicht darauf vor. Vielleicht habe ich es auch einfach nicht mitbekommen oder in Gänze ignoriert.
Nachdem ich also das ein oder andere Internat in Augenschein genommen hatte und mir dabei nicht unbedingt warm ums Herz geworden war, kam meine Mutter mit viel Verständnis und der Möglichkeit einer Ausbildung um die Ecke.
Es galt nun herauszufinden, was mir liegt oder was ich gerne tue. Viel Zeit blieb nicht, die Sommerferien waren in vollem Gange, Mittelmeersommer und so.
Ich musste mit Erschrecken über mich selbst erfahren, dass ich handwerklich vollkommen unbegabt bin, was mich in eine denkbar ungünstige Position manövrierte: Völlig talentfrei, ohne Begeisterung und ohne Schulabschluss einen handwerklichen Ausbildungsplatz zu finden, in einem kleinen Kaff, in dem den meisten Einwohnern meine demonstrative Lethargie nur allzu gut vertraut war.
Was mir immer verhältnismäßig viel Freude bereitet hatte, war das gemeinsame Kochen daheim. Und mit ein bisschen Glück und Beziehungen kam ich in der Hoffnung, meine kulinarische Unfähigkeit etwas kaschieren zu können (immerhin wusste ich, wie man aß), zu einer Praktikumsstelle in einer Küche.
Das Team in der Wendelinusstube ist klein. Familienbetrieb, zwei Generationen.
Die Eltern, Barbara und Werner, fungieren so ein bisschen als Geldgeber und Aushilfen, ihr Sohn Thomas betreibt den Laden gemeinsam mit seiner Langzeitfreundin Susan. Martin ist Thomas' rechte Hand.
Dorfstraßenseitig teilen sich Restaurant und Dorfschänke einen Eingang. Man tritt ein, rechts Gastraum und links Kneipe. Geradeaus befindet sich eine Tür mit der Aufschrift »Privat«. Als meine Mutter mich zum ersten Arbeitstag meines Praktikums in Koisdorf abliefert, betreten wir meine sozusagen erste Wirkungsstätte durch den Haupteingang. Oder, besser gesagt, den Eingang für die Gäste. In Zukunft jedenfalls werde ich den Laden über den Hintereingang betreten, mit eigenem Schlüssel. Personal VIP, klar.
Dienstbeginn ist um vierzehn Uhr.
Natürlich, und da hat meine Mutter großen Wert drauf gelegt, sind wir schon um dreizehn Uhr dreißig vor Ort. Meine...
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