Schweitzer Fachinformationen
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VERA
Im selben Moment, als der Åreskutan vor mir aus den Wolken auftauchte, sah ich den Riss in der Straße und stieg auf die Bremse. Das Wohnmobil mit norwegischem Kennzeichen, das seit einer halben Stunde vor mir hergondelte, musste in letzter Sekunde über das Loch drübergerumpelt sein - inzwischen würde es garantiert mit den Rädern darin stecken bleiben. Ich warf einen Blick in den Rückspiegel und hielt an.
Der Riss ging quer über die komplette E14 und musste ganz frisch sein. Zumindest war er noch nicht da gewesen, als ich am Morgen in die Redaktion gefahren war. Bestimmt hatten die Touris in Kopparbranten schon Alarm geschlagen, weil sie um ihre teuren SUVs fürchteten. Bislang war es nur eine Handvoll neuer Sommerhausbesitzer, allerdings türmte sich der Schutt am Straßenrand, und die Planierraupen waren Tag und Nacht im Einsatz. In den Plänen für Leif Trondes frisch erschlossenes Bauland zwischen den Hotels Copperhill und Åre Continental Inn östlich von Åre waren schon jetzt, in der ersten Bauphase, zwanzig protzige neue Gebäude eingezeichnet. Das Projekt war enorm umstritten. Wie in den meisten größeren Touristenorten stellte sich auch hier die Frage, für wen da in Wahrheit gebaut wurde und warum.
Hier unten an der Straße waren Schotter und Sand auf den Asphalt gerutscht, und am Straßenrand waren Wiesenkerbel und Schmalblättriges Weidenröschen entwurzelt worden. Irgendwie machten mir die Wurzeln Angst - so wie mir alles Angst machte, was unter normalen Umständen unsichtbar bleiben sollte: Blut, Erbrochenes und Tränen. Ich seufzte in mich hinein und sah auf die Uhr. Weit nach Abendessenszeit.
Statt irgendein Risiko einzugehen und mich auf den noch sechzig Kilometer langen Heimweg zu machen, fuhr ich an der Tankstelle raus. Mir knurrte der Magen. Ich hatte kein bisschen Hunger gehabt, bis irgendwann der Geruch angesengter Grillsteaks bis an meinen Schreibtisch geweht war, mich angetippt und das Ende meines Arbeitstags verkündet hatte. Wenn ich Glück hatte, war der Tankstellenladen noch offen.
Auf den Titelseiten der Zeitungen überall Krieg, explodierende Strompreise und steigende Zinsen. Kein Wunder, dass die Leute von der großen weiten Welt nichts mehr hören wollten. Ich versuchte, durch das getönte Schaufenster zu spähen, aber ob sich dahinter etwas rührte, war genauso unmöglich zu erkennen, wie hier draußen unbemerkt zu bleiben. Verdammte Sommersonne - unschuldig und hinterhältig wie ein junger Taschendieb. Allerdings stand noch der Werbeaufsteller an der Tankstellenzufahrt, also stellte ich den Motor ab und stieg aus. Ich griff in meine Jackentasche, um mein Portemonnaie herauszunehmen, ehe mir wieder einfiel, dass es in meiner Kameratasche auf dem Rücksitz steckte.
Ich schlug die Fahrertür zu, dann wurde es still. Der Abend war wahnsinnig schwül. Herb-säuerlicher Rainfarngeruch wehte mir entgegen, aber immerhin regnete es nicht mehr. Seit Undersåker hatten die Scheibenwischer nur noch vor sich hin gequietscht. Wie lange hatte es jetzt insgesamt geregnet? Meine Gummistiefel waren inzwischen seit Wochen im Dauereinsatz, und ich hatte mindestens zwanzig Artikel zu hochwasserführenden und überlaufenden Fjällbächen geschrieben. Das Wasser suchte sich neuerdings andere Wege und höhlte den Fels effizienter aus als jeder Bagger der Welt, seit die Waldstücke, die früher die Fluten aufgesaugt hatten, neuen Bauflächen hatten weichen müssen.
Ich betrat die Tankstelle und bestellte eine Grillwurst mit Brot. Der junge Mann an der Kasse, der meine Bestellung entgegennahm, hatte einen Sonnenbrand, windzerzauste Haare und war vermutlich eben erst am Åresjön von seinem Stand-up-Paddleboard gestiegen.
»Haben Sie den Riss draußen in der Straße gesehen?«, fragte ich.
Er zuckte zusammen, als wäre er es nicht gewöhnt, dass jemand noch andere Fragen stellte als die nach dem Toilettenschlüssel oder ob es auch glutenfreies Brot zum Würstchen gebe.
»Äh, nein .?«
Ich strich mir den Pony aus dem Gesicht und ließ die Unterhaltung verkümmern, noch ehe sie richtig begonnen hatte. Teilnahmslos schlurfte der junge Mann nach nebenan, wo sich eine einsame Kabanossi in ihrem eigenen Saft vor sich hin drehte. Eine Singlewurst, wie passend. Meine Einsamkeit war an Mittsommer voll aufgeblüht und würde noch eine ganze Zeit lang anhalten. Auch wenn ich versuchte, Facebook zu meiden, gingen mir die Status-Updates dort unter die Haut: gemeinsame Abendessen auf schicken Bootsstegen und Terrassen. Lachende Gesichter an langen Tafeln, Nahaufnahmen von aneinandergeschmiegten Wangen. Ich selbst hatte keine Clique mehr, zu der ich dazugehörte.
In diesem Jahr hatte ich nicht vor, auch nur einen einzigen Urlaubstag zu nehmen. Ich hatte keine speziellen Pläne und konnte deshalb genauso gut den Sommer durcharbeiten. Im Herbst würde es wieder einfacher werden, da wäre Thomas von seiner bescheuerten Tanzreise nach Argentinien zurück. Ich war überrascht, wie sehr er mir fehlte - nicht weil es einfacher war, mit jemandem Zeit zu verbringen, der genauso einsam war wie man selbst, sondern weil ich mich in seiner Gesellschaft wohlfühlte. In den Monaten vor seiner Abreise hatten wir viel unternommen, fast so viel wie früher als Kinder, und ich hatte mich erschreckend schnell daran gewöhnt, einen Freund zu haben, mit dem ich reden, zu Abend essen und Waldspaziergänge machen konnte.
»Ketchup oder Senf?«
Der Junge hatte bereits nach dem Ketchup-Spender gegriffen, der von der Decke herabbaumelte.
»Nur scharfen Senf bitte. Und ordentlich rohe Zwiebeln.«
Nur nichts für selbstverständlich halten, Jüngelchen.
Als ich nach draußen ging, um zu essen, fielen sofort die Gnitzen über mich her. Drecksbiester. Ich versuchte, sie wegzufuchteln. Gnitzen krochen einem überall rein, auch in den Mund. Mehrmals musste ich die Hand wechseln, der Senf lief mir über die Finger, ich leckte ihn weg, die Serviette hatte ich wie immer vergessen.
Ich stopfte die Wurst in mich hinein, öffnete die Beifahrertür und warf das Wurstpapier zum übrigen Müll in den Fußraum. Kramte mein Mückenmittel heraus und sprühte mich erst mal ein. Der Citronella-Duft konnte über das stark Chemische nicht hinwegtäuschen. Anschließend zündete ich mir eine Zigarette an, blieb noch kurz an der Tankstelle stehen und genoss die Stille. Obwohl das Wetter zuletzt alles gegeben hatte, um den Radfahrern, Wanderern und Kletterern das Leben schwer zu machen, schien die Sommerkarawane kein Ende zu nehmen. Corona hatte die reinste Fjällseuche hervorgebracht. Nur gut, dass das Gedränge die Schönheit der Landschaft nicht vollständig verstellen konnte: das Wasser, das sich von den Bergen hinunter ins Tal schlängelte, wogende Fichten und Birkenkronen. Allerdings rückte die Baumgrenze zusehends höher - oder war es das Gebirge, das sich von uns zurückzog, damit es vom Zugriff der Menschen verschont blieb? Die Wildnis war größer und weiter, als unser Menschenarm reichte; wir bildeten uns lediglich ein, dass unsere Reichweite allumfassend war.
Mein Blick blieb erneut an dem Riss in der E14 hängen und wanderte dann den Berg gegenüber hinauf. Dort schien ein Felsvorsprung zu beben. Ein wenig Erde rutschte den Hang herab. Ängstlich flatterten Vögel auf. Urplötzlich fiel mir auf, dass sich sämtliche Bäume und Straßenlaternen in ein und dieselbe Richtung lehnten. Mein Puls beschleunigte sich, ich ließ die Zigarette in einen Topf mit schlappen Stiefmütterchen fallen und wich instinktiv einen Schritt zurück.
Im selben Moment hörte ich das Grollen.
Der Erdboden schien aus der Tiefe heraus zu brüllen. Riesige Lehmmassen gerieten in Bewegung, Abwasserrohre und Stromleitungen wurden aus der Erde gedrückt. Alles vermischte sich zu einem braunschwarzen Brei, der immer flüssiger zu werden schien. Dann rutschte der gesamte Hang ab und riss alles mit - als würde Gott mit der Hand ein paar Krümel wegfegen. Ich sah, wie alles Grün verschluckt wurde, als Grassoden herumgewälzt wurden und im Schlick erstickten. Die Zufahrten zu den bereits erschlossenen Grundstücken wurden ausradiert, Wasser strömte, Steine flogen, Birken und Straßenlaternen kippten um wie Mikadostäbchen. Oben auf einem Felsvorsprung balancierten zwei Ferienhäuser, ehe der Boden unter ihnen nachgab. Das Knacken der Holzwände übertönte kurz den Rest des Getöses, ehe alles einstürzte und im Schlamm nach unten rutschte. Was, wenn auch Leute da oben waren?
Scheiße, Scheiße, Scheiße!
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie hinter mir die Tür aufflog. Das Glöckchen am Eingang hörte gar nicht mehr auf zu bimmeln.
»Was ist denn da los?«, stammelte der Wurstjunge.
»Erdrutsch in Kopparbranten! Gehen Sie sicherheitshalber auf Abstand!«, schrie ich, ohne mich nach ihm umzusehen.
»Und Sie? Wollen Sie nicht .?«
»Hauen Sie ab!«
Die Tür fiel ins Schloss, und dann entfernten sich seine Schritte über den Asphalt.
Die Lehmflut schien an Wucht nur mehr zuzunehmen. Würden die Massen näher kommen? Vielleicht sogar bis hierher? Am liebsten hätte ich ebenfalls die Flucht ergriffen, mich in Sicherheit gebracht, trotzdem blieb ich stehen, obwohl meine Knie schon ganz weich waren. Mit zitternden Händen nahm ich meine Kamera aus der Tasche. Das Tele war immer noch aufgesetzt, seit ich am Vormittag in Edsåsdalen das Skirennen fotografiert hatte. Mein Atem ging stoßweise, als ich das Objektiv in Richtung Verwüstung anhob und den Auslöser gedrückt hielt. Im selben Moment presste die Flut eine alte Scheune in eine Senke. Eine Vogelscheuche verschwand ebenfalls, nur ihr Strohhut...
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