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Man scheint sich einig: Orlando di Lasso15 gilt als einer der Großen der Musikgeschichte. Doch woran misst sich (seine) Größe? Kaum jemand kann "große (= bedeutende) Werke" von ihm als im heutigen Musikbetrieb zu hörende oder gar selbst gehörte angeben. Wie auch? Es gibt sie nicht; und es gibt sie nicht, weil es sie in dieser Zeit noch nicht gibt.16 Zwar hat auch Lasso Messen hinterlassen, in der Quantität etwa Sonaten oder Streichquartetten der Klassik vergleichbar; dazu mindestens drei Passionen aus dem Alterswerk; und zwar sind von den Prophetiae Sibyllarum (von 1560/63) bis zu den Lagrime di San Pietro (1595) einige zusammengehörende Gruppen als außergewöhnlich geltender Kompositionen auf uns gekommen. Doch zählen seine Kompositionen eher im Dutzend: unter dem Überlieferten finden sich über 200 italienische Madrigale, über 140 französische Chansons, über 90 deutsche Liedsätze, eine Vielzahl lateinischer Motetten, von denen seine Söhne 1604 (im Magnum opus musicum) post mortem 516 herausgaben, über 70 Messen, 100 Magnificat-Vertonungen und anderes mehr.
Damit ist aber gleichzeitig ein zweites Problem angesprochen. Während für manchen seiner Zeitgenossen im 16. Jahrhundert ein bestimmter, dem Wirkungsort verpflichteter Stil sich uns heute einprägt - man denke etwa an eine Römische oder eine Venezianische "Schule", den jede der auch bei ihnen überaus zahlreichen Kompositionen repräsentiert, stellt sich Lasso uns als Universalist dar, der (nach Moser17) "in Antwerpen wie in München, zu Paris wie am Tiber geistig beheimatet erscheint, da er die Verkehrs- wie die Tonsprachen dieser Brennpunkte gleich spielend beherrschte". Wer einige Messen und Motetten von Palestrina gesungen hat, der kann sich ein Urteil über Palestrina als historische Tatsache zu bilden versuchen; wer einige Messen von Lasso gesungen hat, der kann dies mitnichten: er muss wenigstens noch einige Madrigale und Chansons und vor allem einige Motetten zur Kenntnis nehmen. Nichts dokumentiert solche Vielseitigkeit besser, als die bis auf uns gekommene Unsicherheit, ihn zu nennen: "Die Schreibform des Namens und Vornamens schwankt zwischen lat., frz. und ital. Fassung; die letztere gebrauchte Lasso selbst, namentlich in seinen erhaltenen Briefen an den herzoglichen Gönner, Wilhelm V. von Bayern18, aus mittlerer Zeit. Seit etwa 1562 wählte man vielfach auch nur den Vornamen Orlando (Orlandus, Orlande, seltener Roland)."19
Aber noch ein Drittes ist zu bedenken: Lassos Jahrhundert ist ein stürmisch sich entwickelndes, das konsequent auf die Differenzierung der Mittel um 1600 hinstrebt. Lasso nimmt daran teil; sein Lebenslauf und seine Entwicklung gehen parallel. Als er geboren wurde, 1532, da war Josquin Desprez (um 1450-1521), der das Mittelalter vollendete und abschloss, noch nicht lange gestorben, Nikolas Gombert (1500-1560) und Jacobus Clemens non Papa (1512-ca.1555) begannen wahrscheinlich gerade zu komponieren; und Adrian Willaert (1480-1562) entwarf vielleicht die ersten Stücke seiner Musica nova (die erst 1559 der Öffentlichkeit zugänglich wurden).
Keiner seiner Zeitgenossen hat vielleicht so früh und so virtuos die zeitgenössischen Entwicklungen aufgegriffen und verfolgt, kaum einer hat sich auch so früh einen Namen gemacht, dergestalt, dass sein eigenes reifes Werk es schwer hatte, sich gegen die Nachdrucke seiner frühen Kompositionen durchzusetzen. (Man vergleiche das berühmte Matona mia cara, früher von gymnasialen Schulchören gerne gesungen: Es entstammt der als "op. 1" bezeichneten Sammlung von 1555 und lässt den eigentlichen Lasso, den Kontrapunktiker der Motetten, den Wortausdeuter der Madrigale, den Aufrüttler der Bußpsalmen in keiner Weise ahnen.) Wie ansatzweise schon bei Josquin wird es nun bei Lasso immer wesentlicher, die Entstehungszeit einer Komposition mitzubedenken. Doch da sitzen, wie vor allem die Motetten in ihrer überaus großen Zahl zeigen, die Probleme: "Studies of Lassus's music based on chronology have been made (Boetticher), but much remains to be done. It is not easy to be sure about relative composition dates for much of this music; the publication date is of course not an infallible guide, sometimes not even a usefull one. Details of stylistic growth and change can probably be seen and analysed, but the criteria for such a study have yet to be fully developed."20
Zu Zeit und Einordnung Lassos
Dass ein Komponist des 16. Jahrhunderts so schwer fassbar erscheint, dies mag in diesem Fall auch schon bei Lasso selbst liegen, bei seiner Begabung, seiner Lebensgestaltung, bei seinem Temperament. Dass er aber so schwer einordenbar erscheint, dies liegt auch an der Zeit. Das Wesentlichste leisten auch hier die Umstände. Ein Komponist des 16. Jahrhunderts komponiert nicht aus eigenem Antrieb, er komponiert auch nicht, wozu er (neuzeitlich gesprochen) "Lust" hat. Mehrheitlich betreibt er sein Metier als "Dienst"; er produziert im Auftrag, erst einmal ohne eigenes "Geschäft", als (wiederum modern gesprochen) Angestellter eines Fürsten bzw. einer Institution.21 Anderseits kann und wird der Auftraggeber nur das dem Herstellenden Mögliche von ihm erwarten. Es scheint, als wäre Lasso mehr und Vielfältigeres möglich gewesen, als anderen.
Zu bedenken ist dabei der allgemeine zeitgenössische Kontext der Musikproduktion in der beginnenden Frühen Neuzeit. Unserem heutigen Verständnis nach komponiert ein Komponist ein "Werk", zwar in der Perspektive eines "Marktes", aber letztlich autonom, um es dann aufführen zu lassen. Das Werk existiert in der Optik des bürgerlichen Musiklebens des 20. Jahrhunderts gleichsam unabhängig von seiner Realisation als ein geistiges Produkt, als "Kunstwerk". Solche nachmozartische Vorstellung beginnt sich im 16. Jahrhundert erst vorsichtig anzubahnen. Der Komponist ist Teil einer Hofmusik, ein primus inter pares, entweder als Sänger (wie z. B. Josquin, aber eben auch Lasso) aktiv oder als Instrumentalist (Vokalstimmen z. B. auf einer Laute oder auf einem Tasteninstrument verstärkend, ersetzend oder zusammenfassend, d. h. "absetzend") beteiligt.22 Er hat das Singen und Spielen dieser Hofmusik im Rahmen definierter Situationen anzuleiten. Solche sind vor allem: Höfisches Fest und täglicher Gottesdienst sowie Kammermusik im weitesten Sinn; sie unterscheiden sich nicht wesentlich, vor allem auch nicht darin, dass der Hof sie sich veranstaltet. Im Mittelpunkt steht, hierzu ein "Aussprechen" zur akustischen Wirklichkeit zu bringen, in einer Weise freilich, die den an der Situation Beteiligten angemessen erscheint. Dabei spielt die Hofkapelle (u. a.) eine alle(!) vertretende aktive Rolle.
Singen, das feierliche und dem Alltag enthobene "Aussprechen" von Text, hat sich im Laufe des Mittelalters immer mehr spezifisch menschlichen Vorstellungen vom Schönen (und darin vom Singen) angepasst. Solche Anpassung aber geschah gerade auch im Interesse der Teilhabenden. Das 16. Jahrhundert nun kennzeichnet die Tendenz, Texte so "auszusprechen" (= zu singen), dass die Teilhabenden auch inhaltlich an ihnen mit-meinend teilhaben können. (Die Reformation mit der besonderen Rolle des Singens in ihr ist nicht zufällig eine Bewegung dieses Jahrhunderts!) Dazu entwickeln Komponisten ein besonders "sprechendes" Singen, einschließlich der Mittel der sog Affektdarstellung und der figürlichen Heraushebung bedeutungszentraler Begriffe. Die Hofkapelle, die einen Text (den der Potentat als "seinen" vielleicht selbst ausgesucht bzw. genehmigt hat) als Motette singt, singt ihn so, dass der teilnehmende Hof (und vor allem der Potentat), in dessen Namen die Hofkapelle singt(!), diesen Text gleichsam selbst "ausspricht" resp. innerlich (mit-)vollziehen kann.
Der Komponist hat also das Hofmusikkollegium in einer bestimmten Situation singen (und spielen) zu machen, in einer Weise, die eine sozusagen aktive Teilhabe derer an der Situation, "für" die die Hofkapelle als pars pro toto tätig ist, eröffnet. Er tut dies, indem er für das Kollegium, bezogen auf die Situation, ein entsprechendes Singen (und, wie wir sehen werden, fortschreitend Spielen) entwirft. Ist die Tätigkeit vollzogen, ist das "Werk" getan.23 Dann eröffnet sich aber auch die Möglichkeit, die übriggebliebenen Entwürfe zu sammeln und sie anderen Kollegien oder Kantoreien für analoge Situationen anzubieten. Genau dies ist etwa seit 1500, seit der Erfindung auch des Notendrucks mit beweglichen Lettern, sich vermehrend geschehen. Auch Lasso hat seine "Werke" regelmäßig an den wichtigsten Druckorten Europas in Sammeldrucken herausgeben lassen.24 Dabei geben nicht selten die Dedikationen einen Hinweis darauf, bei wem resp. wo der Autor einen entsprechenden...
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