Eine unentdeckte Gegend
Inhaltsverzeichnis Es macht Mühe, den kleinen Ort Klausen-Oberberg auf der Landkarte zu finden, und auch im Fahrplan steht er nicht unter den dick und fett gedruckten Stationen, wo alle Schnellzüge halten und die Bahnhofskellner mit »Bier, bittäh!« und »Heiße Würschteln« die Wagen entlang rasen.
In Klausen-Oberberg rast überhaupt nichts und niemand, noch nicht einmal die Autos haben es entdeckt. Und im übrigen ist Klausen-Oberberg sozusagen eine bahnamtliche Erfindung; denn in Wirklichkeit gibt es nur ein Klausen, das sind die drei Häuser unten an der Bahn, und dann gibt es ein Oberberg, das sind die sieben Häuser, eine Stunde höher den Berg hinan, unter dem sich die Straße taleinwärts zieht.
Straße ist auch zuviel gesagt, im Grunde ist es ein Karrenweg, daß Gott erbarm'. Es gibt aber Leute, die Gott sei Dank! sagen, daß es keine so neuzeitliche Autostraße ist mit kühnen Schraubenwindungen und Ausweichstellen, sondern ein alter, ehrlicher Karrenweg. Er hält seine Richtung ein, er geht bergauf und bergab, er stürzt und fällt und kümmert sich den blauen Teufel darum, ob er bequem ist oder nicht.
Es ist eine ganz vernachlässigte, hinterwäldlerische, unentdeckte Gegend, und das ist eben das Schöne an ihr. Und das finden auch die sechs jungen Leute, die in Klausen-Oberberg ausgestiegen sind und jetzt auf dem Karrenweg talein wandern. Sie machen sich nichts daraus, daß der Weg staubig und schattenlos ist und daß die Rucksäcke schwer sind. Sie freuen sich, daß es hier keine Autos gibt. Sie haben für Autos nichts übrig, sie sind auch weit davon entfernt, Autobesitzer zu sein, und einige von ihnen haben auch gar keine Aussicht, es jemals zu werden.
Sie sind aber so vergnügt, wie es Leute vielleicht gar nicht sein können, die immer Sorgen haben müssen, ob die Reifen halten und das Benzin reicht.
Nach einer Stunde sagt Carlos Tips: »Halt! Der Rucksack drückt ...!« Carlos Tips hat's immer mit dem Rucksack; das wissen die andern schon, daß er den Rucksack von Zeit zu Zeit umpacken muß; und das wird von vornherein in die Gehzeiten eingerechnet.
Während Tips den Rucksack umpackt, kommt der Kümmerer heran, der mit ihnen an der Haltestelle ausgestiegen ist. Sechs Leute und der Kümmerer als Siebenter sind heute in Klausen-Oberberg ausgestiegen, und gestern waren es auch sieben, und so ein Verkehr ist ein Riesenaufsehen für die Gegend.
»Ghört's ös aa zu dö Hüttenbauer heroben am Grünseekamm?« fragt er, indem er bei den jungen Leuten stehenbleibt.
»Jo!« sagt der Saliger.
»Nachher ghörn dö siebene, die gestern kemma sein, zu Enk?«
»Jo!«
Der Kümmerer mustert mit kleinen glitzernden Äuglein die zwei jungen Mädchen; denn es sind zwei junge Mädchen unter den sechsen von heute. »Und was tat's denn nachher mit dö Weiberleut? Sollen dö aa Hütten bauen helfen?«
»Naa! Dö Weiberleut soll ins kochen tan.«
»So ... kochen tan solln's Enk, dö Weiberleut!« sagt der Kümmerer und spuckt Pfeifensaft aus.
Ja, das ist in Ordnung, wenn die Weiberleut kochen tan. Dazu sind die Weiberleut da und nicht dazu, in Hosen herumzulaufen und auf die Berge klettern zu wollen. Für die Weiberleut in Hosen ist man hier in diesem hinteren Winkel der Welt wenig eingenommen, wenn es nicht eben Almerinnen sind.
Der Carlos Tips ist mit dem Umpacken fertig, und nun kann es weitergehen. Der Kümmerer mit dem Max Kopetzky und dem Arnold Lobgesang in einem ernsten Männergespräch voran. Der Kümmerer pumpt alles aus ihnen heraus, was er wissen möchte, und die zwei sind auch gerade jene, die ihm die beste Auskunft geben können. Der Kopetzky, der den Entwurf für die Hütte gemacht hat, und der Lobgesang, der künftige Hüttenwart.
So, so, also der Fürst Liechtenstein hat den Grund geschenkt, und die akademische Ortsgruppe des Alpenvereins will die Hütte auf dem Grünseekamm bauen, Hm, der Kümmerer hört sich das an und spuckt ab und zu braunen Pfeifensaft auf den Weg.
Drei Stunden sind es bis Annaberg. In Annaberg bleibt der Kümmerer zurück: schon recht mit der Hütte auf dem Grünseekamm, meint er; so einen Standort für die Berg rundum hätten sie schon lang gebraucht, und er wäre halt ein Bergführer, er, der Kümmerer. Und jetzt könnt man sie erst richtig angehen, die Lackeln, das Hochgrindeck und die Gabelspitz und das Totenhorn.
In Annaberg beginnt erst der eigentliche Anstieg. Längst schon schauen die Riesen, die den Talschluß bilden, mächtig über die grünen Schultern der Vorberge. Aber nun wachsen sie immer wuchtiger empor, das Hochgrindeck mit dem breiten grauen Satteldach, die Gabelspitze mit dem Doppelkegel und das Totenhorn, das dem Matterhorn immer ähnlicher wird, je höher man kommt.
Der Weg die Almwiese hinan ist steil, im üppigen Gras läuten fernher und traumhaft die Glocken der braunen Kühe. Ein Marterl meldet schlicht: »Johann Neuwirth wurde am 5. Oktober 1872 allhier bereits tot aufgefunden und gab am selben Tag mit qualvollen Leiden seinen Geist auf. Gott wolle ihm eine selige Auferstehung verleihen.«
»Schau, schau«, grinst der Lobgesang, »der ist gar am selben Tag zweimal verstorben.«
»Wogegen zu bemerken«, belehrt Saliger, »daß >bereits< hier im Sinn von fast oder beinahe gebraucht ist, was so einem Mediziner allerdings nicht ohne weiteres einleuchtet.«
Valerie bleibt beim Marterl stehen und verschnauft ein wenig.
»Ich nehme dir gerne etwas ab, Valerie«, sagt Saliger, »wenn dir der Rucksack zu schwer ist.«
Aber Valerie Mayrhofer will von solchen Weichlichkeiten nichts wissen. Ihr Herz klopft ihr im Hals, sie streicht das braune Haar aus der Stirn und lächelt, »Was fällt dir ein? Das wäre schöne Kameradschaft! Nein, in den Bergen muß schon jeder das Seine selber tragen. Und ich hab' doch von Haus aus weniger geladen als ihr.«
Die Magda Kaspar, das andere Weiberleut, wird von niemandem gefragt, ob ihr der Rucksack etwa zu schwer ist. Sie ist ein gutes Mädchen, aber plump und sommersprossig, mit einer Brille auf der Nase, und bei ihr versteht es sich von selbst, daß niemand die Bergkameradschaft fälschlich dahin auslegen wird, ihr etwas von dem Ihren abzunehmen.
Nach der Almwiese kommt der Wald, der Weg klimmt unverdrossen, womöglich noch steiler zwischen Lärchen und später zwischen Fichten hinan. Es geht gegen Abend, aber die Sonne meint es noch immer brav, und die Rucksäcke werden immer schwerer. Nur gut, daß der Carlos Tips den seinen noch zweimal umpacken muß. Ja, Gott sei Dank, hier hinauf würde man noch lang keine Bergbahn bauen, da muß man sich schon selber schinden.
Dann wird der Wald lichter, die Bäume treten zu Gruppen auseinander, der Wacholder hockt geduckt am Weg, und endlich treten die Latschenbüsche mit ihrem Schlangengestrüpp die Herrschaft an.
Da steht auch die Almhütte endlich dunkel vor dem gleichmäßigen Goldgrund des Abendhimmels, und aus dem Schoß des Goldgrundes kommt ein Jodler, ein Prachtstück von Jodler mit mindestens zehn Oktaven zwischen dem höchsten und dem tiefsten Punkt.
»Das ist der Bircher Schnacksele«, sagt Arnold Lobgesang, der künftige Hüttenwart. Natürlich ist es der Bircher Schnacksele, wer sonst soll es sein, wer ist noch so ein Jodelkünstler wie der Bircher Schnacksele aus Innsbruck?
Sieben Mann stehen oben vor der Almhütte, sechs in einer Reihe, und der siebente, der Bircher Schnacksele, vor ihnen mit dem Rücken gegen die Ansteigenden. Auf einer Mundharmonika, einer Zupfgeige und vier Taschenkämmen spielen sie den Einzug der Gäste auf der Wartburg, und der Bircher Schnacksele ist der Herr Kapellmeister und gibt mit einem Kochlöffel den Takt.
In der Almhüttentür steht die alte Regei, die Sennerin, und macht ein Gesicht wie siebentausend Teufel. Der Kochlöffel gehört ihr, und daß man einen Kochlöffel zum Musikmachen nimmt, das ist schon ganz aus der Weis'. Saublöde Stadtfrack, saublöde übereinander!
Der Herr Kapellmeister macht Schluß, dreht sich um, verneigt sich und sagt: »Willkommen auf dem Grünseekamm!«
Der Bircher Schnacksele schaut seinem Landsmann ähnlich, dem Andrä Hofer, hat auch genau denselben fuchsroten Bart, so jung er sonst noch ist. Und jetzt zieht sich der Bart in die Breite, denn der Bircher Schnacksele grinst übers ganze Gesicht. »Je ... und die Valerie is auch mit gekommen ... vor Tische, will sagen, vorgestern las man es noch anders.«
Ja, vorgestern, da ist noch die Abdampfschale auf der Flamme gestanden, denn Valerie Mayrhofer ist Chemikerin und arbeitet für ihre Dissertation an einer furchtbar schwierigen Analyse. Schon seit drei Monaten, und die Probe im Vakuum ist der letzte entscheidende Akt. Dann aber kommt der Saliger ins Laboratorium und bittet Valerie zu einer kurzen Besprechung hinaus. Die Besprechung zieht sich in die Länge, und wie Valerie zurückkommt, ist der Scheiblersche Vakuumexsikkator noch da, und die Abdampfschale ist noch da, aber das Zeug, das darin gebrodelt hat, ist fort. Verdampft, spurlos verschwunden. Und das kommt von den kurzen Besprechungen.
Drei Monate Arbeit sind vertan, und Valerie kann von vorne anfangen. Aber das kann sie ebensogut in vier Wochen oder in fünf, und diese vier oder fünf Wochen kann sie auch zusammen mit Magda oben auf dem Grünseekamm für die Hüttenbaumannschaft kochen. Der Saliger hat durch seine kurze Besprechung mit freundlicher Beihilfe der Verdampfung doch genau das erreicht, was er wollte, daß nämlich Valerie mitkommt.
So ist das gewesen, und so erklärt es sich, daß Valerie trotz ihrer Weigerung von vorgestern doch heute auf der...