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Bastian wusste nicht, wie lange er dagesessen und ins Leere gestarrt hatte, nachdem das Telefonat beendet war. In seinem Kopf herrschte heilloses Durcheinander. Erst schien es, als stemme sein Verstand sich dagegen, Worte zu sinnvollen Sätzen zusammenzufügen. Bastian hatte diesen seltsamen Zustand schon einige Male erlebt. Es fühlte sich an, als wate er durch einen dicken gedanklichen Brei, in dem er jedes einzelne Wort suchen und mühsam von einer klebrigen Masse befreien musste, bevor er seinen Sinn erfasste.
Schon im nächsten Augenblick jedoch rasten seine Gedanken wild los und produzierten einen Wust aus Spekulationen.
Wie akut war die Gefahr, in der Anna sich befand? Warum und wie war sie in diese Situation gekommen? Hatte sie schon Angst gehabt, als sie zwei Monate zuvor gegangen war? War das der Grund gewesen, warum sie jeglichen Kontakt zu ihm abgebrochen hatte? Was sollte er nun tun? Was konnte er tun? Zwölf Stunden dasitzen und darauf warten, dass die Polizei sich endlich meldete? Das würde er nicht durchhalten. An Arbeit war auch nicht zu denken.
Bastian sprang auf und begann, in dem kleinen Raum auf und ab zu gehen. Anna hatte nicht bei der Polizei angerufen. Auch nicht bei ihren Eltern oder jemand anderem, sondern bei ihm. Und wen ruft man im Moment der größten Not an? Den Menschen, der einem am nächsten steht. Ein weiterer Beweis dafür, dass sie noch mehr für ihn empfand, als sie ihn glauben machen wollte.
Bastian hatte von Anfang an gewusst, dass Anna ihn nicht aus freien Stücken verlassen hatte. Dass sie ihn noch liebte. Dieser Kerl aus dem Café, der sie so angestarrt hatte . Hielt er sie jetzt irgendwo in diesem . Frundorf fest? Frundorf!
Bastian ging ins Schlafzimmer, wo auf einem schmalen Tisch unter dem Fenster sein Notebook stand. Es hatte sich als gute Idee herausgestellt, den Arbeitsplatz im Schlafzimmer einzurichten. Wenn er nachts noch einen Artikel fertigschreiben musste, brauchte er nur aufzustehen und sich aufs Bett fallen zu lassen, nachdem er den Text per Mail in die Redaktion geschickt hatte.
Bastian klappte das Notebook auf, öffnete den Browser mit Google als Startseite und tippte Frundorf ein. Es dauerte eine Weile, bis eine Ergebnisliste eingeblendet wurde, die sich allerdings nicht auf das Wort Frundorf bezog, sondern auf Frundow, wie Bastian feststellte. Die Erklärung dafür stand über der Liste:
Es wurden keine mit Ihrer Suchanfrage übereinstimmenden Dokumente gefunden. Meinten Sie: Frundow?
Frundow, das konnte sein. Die Verbindung war derart schlecht gewesen, dass Anna möglicherweise wirklich Frundow gesagt hatte. Wenn dieses Frundow an der Müritz lag .
Eine eigene Website hatte das Dorf nicht, aber immerhin einen Eintrag bei Wikipedia. Laut den Angaben dort war Frundow eine Gemeinde im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte in Mecklenburg-Vorpommern und wurde vom Amt Seenlandschaft Waren mit Sitz in der Stadt Waren verwaltet. Die Einwohnerzahl wurde mit 1324 angegeben.
Bastian schloss die Wikipedia-Seite und betrachtete wieder die Google-Ergebnisliste. Wenn man nach Orten suchte, bot die Suchmaschine oft einen Link zu einem Kartenausschnitt mit der gesuchten Stadt an. Dafür war Frundow aber offensichtlich zu klein, also wechselte Bastian manuell zu Google Maps und entdeckte das Dorf schließlich schräg oberhalb der Binnenmüritz. Von Schwerin aus waren es etwas mehr als hundert Kilometer bis dorthin. Mit dem Auto vielleicht eineinhalb Stunden. Er warf einen Blick auf die Uhr unten rechts auf dem Monitor. Elf Uhr vierzehn. Eineinhalb Stunden .
Bastian rieb sich über die nackten Oberschenkel. Eine Dusche würde ihm jetzt guttun. Danach konnte er entscheiden, was er als Nächstes unternehmen würde. Er ging ins Badezimmer, zog die Unterhose aus, stieg in die enge Glaskabine, wo er das Wasser so heiß stellte, dass sich seine Haut rot färbte. Nachdem er sich die kurzen blonden Haare gewaschen und den Körper mit Duschgel eingerieben hatte, stand er mit hängenden Armen und geschlossenen Augen da und ließ sich berieseln.
Seine Gedanken wanderten wieder zu Anna, zu der dumpfen Leere, die sie in ihm hinterlassen hatte, als sie gegangen war. Erst einmal in seinem Leben hatte er ein ähnlich intensives Verlustgefühl gehabt: als damals seine Eltern verunglückt waren. Zumindest glaubte er, dass es damals ähnlich gewesen war. Sicher wusste er es nicht, dazu waren seine Erinnerungen daran zu nebulös.
Von dem Unfall selbst wusste er nur, was man ihm erzählt hatte. Er war gemeinsam mit seinen Eltern in dem Wagen gewesen, den sein Vater gelenkt hatte. Sein Vater war am gleichen Tag von einem längeren Auslandsaufenthalt zurückgekommen, hatte seine Familie angeblich aufgefordert, hastig in den Wagen zu steigen, und war losgefahren. Sie waren wohl viel zu schnell unterwegs gewesen. In einer Kurve hatte sein Vater die Kontrolle über den Wagen verloren und war gegen einen Baum geprallt. Bastian hatte den schweren Unfall wie durch ein Wunder als Einziger überlebt. Er war damals drei Jahre alt gewesen.
Seine eigenen Erinnerungen reichten nicht so weit zurück. Nur bis zu der Zeit danach, im Kinderheim. Als die Tage bestimmt waren von hilflosem kindlichen Schmerz und die Nächte von furchtbaren Albträumen, aus denen er weinend und schreiend aufwachte. Sieben oder acht war er da schon.
Nie in seinem Leben hatte Bastian sich so fremd und verlassen gefühlt wie in diesen ersten Jahren ohne jemanden, der ihn liebte. Die Familie seiner Mutter lebte in Amerika. Es hatte keine näheren Verwandten außer seiner Großmutter väterlicherseits gegeben, einer alten, gebrechlichen Frau, die ihn in zwei Jahren nur drei- oder viermal besucht hatte, bevor sie starb.
Niemand war da gewesen, wenn Bastian das Bedürfnis nach Nähe gehabt hatte oder danach, in den Arm genommen zu werden. Wenn es allzu schlimm wurde, hatte er sich im Bett zusammengerollt wie ein Säugling. Er hatte die Decke über den Kopf gezogen und sich eng darin eingewickelt. Die dunkle Wärme, der Stoff, der seinen Körper dicht umschloss . ein Ersatz für die Umarmung seiner Mutter oder die Brust des Vaters, an die er sich nicht drücken konnte.
Bastian riss sich von diesen Gedanken los. Damals war er ein Kind gewesen. Hilflos. Hoffnungslos. Nun war es anders. Er musste nicht mehr ohnmächtig akzeptieren, was geschah. Mit ihm oder dem Menschen, den er liebte. Anna.
Mit energischen Bewegungen drehte er das Wasser ab, griff sich das Handtuch, das über der Glastür hing, und begann, seinen Körper trockenzureiben. Er würde nicht dasitzen und abwarten, was passierte.
Er würde etwas unternehmen, aber zuvor wollte er mit jemandem reden, einem Freund: Safi Hammoud.
Der in Frankfurt am Main geborene Libanese war ein exzellenter Fotograf und arbeitete wie Bastian beim Schweriner Telegramm, der zweitgrößten regionalen Tageszeitung.
Safi war rund zehn Jahre älter als Bastian. Früher war er Kunstlehrer gewesen, zu einer Zeit, als Zahlen für ihn noch keine so bedeutende Rolle spielten. Damals hatte er noch keine drei Armbanduhren besessen, die er mehrmals täglich penibel kontrollierte.
Safi nannte sich selbst Herrscher der Zahlen. Dahinter verbarg sich eine ausgeprägte Zwangsstörung, die dazu geführt hatte, dass er seinen Job als Lehrer verlor. Ein halbes Jahr später wurde er von seiner Frau verlassen.
Wann genau die zwanghaften Gedanken und Handlungen begonnen hatten und was der Auslöser dafür gewesen war, wusste Bastian nicht. Safi redete nicht gern über sein altes Leben, wie er selbst es nannte, und Bastian akzeptierte das. Außer ihm gab es jedoch kaum jemanden, der freiwillig seine Zeit mit Safi verbrachte, was Bastian durchaus verstehen konnte. Zeit mit Safi zu verbringen konnte anstrengend sein. Ebenso wie ein Telefonat mit ihm, wie Bastian in diesem Moment wieder einmal feststellen musste. Noch bevor er Safi von Annas Anruf erzählen konnte, sprudelte der los: »Bastian. Gut, dass du anrufst. Sag mal, wann hast du zum letzten Mal eine Schifffahrt auf dem Schweriner See gemacht? Ich habe gerade darüber nachgedacht. Bei mir ist das 162 Tage her. Verrückt, nicht wahr? Wo der See doch quasi vor meiner Haustür liegt. 2100 Meter bis zur Bootsanlegestelle, wenn ich den kürzesten Weg nehme. Es war ein Dienstag, neunzehn Grad. Ich habe die Schifffahrt sehr genossen. Sie dauerte achtundachtzig Minuten. An dem Tag habe ich beim Spazierengehen an der Straße entlang 121 Pfosten angetippt, sechzig davon sogar am Stück, ohne einem Fußgänger oder Radfahrer ausweichen zu müssen. An einem Stück! Das war ein verdammt guter Tag. An dem Abend .«
»Safi«, unterbrach Bastian den Redeschwall. »Ich muss dir was erzählen. Es ist wichtig.«
Safi verstummte augenblicklich, für Bastian die Aufforderung, weiterzureden. »Anna hat mich eben angerufen.«
»Anna?« Safi wusste offensichtlich gleich, wen er meinte, obwohl er Anna nur ein paarmal gesehen hatte.
»Sie hat sich einen guten Tag ausgesucht. Vor sechsundsechzig Tagen ist sie bei dir ausgezogen. Schnapszahl. Ob das Absicht war? Kommt sie wieder zurück?«
»Nein, sie hatte große Angst und sagte, sie würde in einem Dorf an der Müritz festgehalten. Und dass jemand sie töten will.«
»Was? Jemand will sie töten? Aber . Das ist doch absurd. Wie hat sie das gemacht? Dich anzurufen, wenn jemand sie festhält und töten will?«
»Ich weiß es nicht. Es war windig, sie hat wohl im Freien gestanden, als wir telefonierten. Das Gespräch endete plötzlich, als...
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