Schweitzer Fachinformationen
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In Katenbüll gibt es nicht viel zu feiern. Umso schlimmer, als eine der seltenen Festlichkeiten ein jähes, gewaltsames Ende nimmt: Während der Jubiläumsfeier des Einkaufszentrums rast ein Auto in die Menschenmenge. Es gehört einem alten Bekannten von Sörensen - ausgerechnet dem Ex-Praktikanten Malte Schuster. Doch der saß nicht am Steuer, denn wenig später findet man den Wagen an einem Baum inmitten der tristen nordfriesischen Einöde. Am Steuer eine weibliche Leiche. Sörensen hat Zweifel, und die führen ihn wieder einmal in düstere Gefilde.
Sven Stricker wurde 1970 in Tönning geboren und wuchs in Mülheim an der Ruhr auf. Er studierte Komparatistik, Anglistik und Neuere Geschichte. Seit 2001 arbeitet er als freier Wortregisseur, Bearbeiter und Autor und gewann in dieser Funktion mehrmals den Deutschen Hörbuchpreis. Mit "Sörensen hat Angst" war Sven Stricker für den Glauser-Preis 2017 nominiert, die gleichnamige Verfilmung gewann 2021 den Deutschen Fernsehkrimipreis sowie den österreichischen Fernsehpreis Romy. Er lebt in Potsdam und hat eine Tochter.
Sörensen schaltete in den vierten Gang und genoss das Gefühl von leichter Beschleunigung, eigentlich zum ersten Mal, seit sie losgefahren waren. Na ja, losgefahren. Sie waren die verstopfte, mehrspurige Kieler Straße entlanggeruckelt, vorbei an Waschanlagen, Spielhallen, Absturzkneipen, einer Armada von Tankstellen und billigen Hotels, eine Straße, die so kalt und kantig war, dass sie Zuzugswilligen als wohlfeile Abschreckung dienen mochte, dann hatte die ewige Baustelle auf der A7 ihren Weg zusätzlich verkompliziert, bis sie endlich auf der A23 in Richtung Husum in einen zumindest zähfließenden Verkehr geraten waren.
«Jedes Mal nervt das», sagte Sörensen mürrisch. «Nie ändert sich was.»
Er bildete sich ein, dass der Motor seines roten Gefährts Geräusche machte, die da nicht hingehörten und die etwas mit Protest, Altersstarrsinn und schlechter Laune zu tun hatten. Damit passten sie hervorragend zu ihrem Fahrer, während der Beifahrer so schief und krumm auf seinem Platz hing, dass Sörensen für einen Moment den Einsatz von Lottas Sitzerhöhung in Betracht zog. So war das mit dem Kreislauf des Lebens, dachte er. Wenn es blöd lief, war am Ende alles wieder wie am Anfang: Windeln, Zahnlosigkeit, Bevormundung, Sitzerhöhung.
Alfred Sörensen hatte sich mahnende Worte des Stationsarztes gefallen lassen müssen, in einem Tonfall, der eines erwachsenen Empfängers unwürdig war, sich mit zusammengebissenen Lippen und ohne den Hauch seines sonstigen Humors abgewandt, eine Schirmmütze mit Bayern-München-Logo über das kahle Haupt gezogen und war in ein grünes Sommerjäckchen geschlüpft, das er schon ewig besaß und das nun plötzlich mindestens zwei Nummern zu groß war. Dann war er abfahrbereit gewesen, ungeduldig, die Füße über der Bettkante baumelnd wie ein, tja, Kleinkind, der Arzt hatte sich kopfschüttelnd verabschiedet, und es hatte sage und schreibe noch eine weitere Dreiviertelstunde gedauert, bis er das Entlassungspapier unterschreiben konnte, bis sie endlich losdurften.
Alfred Sörensen hatte sehr, sehr lange für die paar Meter bis zum Parkplatz und das Einsteigen gebraucht, war augenblicklich erschöpft gewesen von den Temperaturen und seinem Körper, der nicht mal mehr im Geringsten so wollte wie er. Sein Sohn hingegen hatte stoisch mitgeholfen, auch wenn er jetzt gerne in Timbuktu, Walhalla oder Lummerland gewesen wäre, aber das Leben ging nun einmal eigene Wege, die weder erwünscht, zu erahnen noch zu verstehen waren. Schon gar nicht von ihm.
«Magst du Musik?», fragte er.
«Ja.»
Sörensen fummelte am Drehknopf des Autoradios herum.
«Ich habe nicht gesagt, dass ich welche hören will», sagte sein Vater. «Ich habe nur gesagt, dass ich Musik mag.»
«Ach so.»
Ende des Gesprächs. Sörensen drehte den Knopf wieder nach links, das gerade erst einsetzende Hintergrundrauschen verstummte. Er seufzte. Das Wetter überwarf sich mit ihnen und stellte spontan von Hitze auf Sommerregen um, er betätigte die Wischer, die quietschend protestierten. Sein Vater blickte aus dem Fenster und verfolgte die dahingleitenden Tropfen auf der Seitenscheibe, Sörensen selbst konzentrierte sich auf die Straße. Direkt vor ihnen fuhr ein weißer Lastwagen, der ihren Nachnamen als Schriftzug auf der Verladeklappe trug.
«Sind wir da eigentlich verwandt?», fragte er.
«Jeder ist mit jedem verwandt», knurrte sein Vater. «Letztlich. Auch wenn man das nicht wahrhaben will. Sieht aus wie ein rollender Grabstein, der da . Ha, like a rolling stone.»
«Papa, du stirbst nicht.»
«Die ist auf Dauer nicht zu halten, die These.»
Sörensen seufzte, blinkte und setzte zum Überholen an. Auf Wiedersehen, LKW. Auf Wiedersehen, Verwandtschaft. Was waren das denn bloß für Geräusche aus dem Motorraum?
«Ich muss eigentlich nachher erst mal ins Revier», sagte er, da waren sie schon hinter Elmshorn. «Soll ich dich vorher zu Hause absetzen? Schön mit Sofa und Eistee und so?»
«Bloß nicht», knurrte Alfred Sörensen. «Ich will jetzt nicht allein sein.»
«Aber irgendwann musst du», sagte sein Sohn. «Du kannst dich doch kaum auf den Beinen halten. Und ich muss arbeiten.»
«Von Stuhl zu Stuhl schaffe ich. Alles andere . na ja, ist vielleicht besser, jetzt keine schlechte Laune zu haben. Gibt da ja so eine Wechselwirkung, ne? Zwischen Seele und Gesundheit, meine ich. Geht einem nicht besser, wenn man schlechte Laune hat.»
«Nee», sagte Sörensen, der es nun wirklich beurteilen konnte, und überprüfte seine eigene schlechte Laune. «Im Gegenteil.»
«Okay», sagte der Ältere, gab sich einen Ruck und setzte sich aufrecht hin. «Ich kann da umschalten. Und ich muss dich ja auch motivieren, dich um mich zu kümmern. Also: Frag mich was.»
«Wie bitte?»
«Wir haben Zeit. Du kannst mich alles fragen. Alles, was du immer schon wissen wolltest. Von mir. Über dich. Oder uns. Frag einfach, ich werde antworten. Eine einmalige Chance ist das. Für dich.»
Sörensen hatte plötzlich das Gefühl, jemand hätte ihm oral einen Korken eingesetzt. Er nickte, damit schindete er Zeit, dann machte er das Autoradio an, einfach so, ganz automatisch, ein weltbekannt dünnes Stimmchen sang vom Material Girl und dass sie alle in einer materiellen Welt lebten. Alfred Sörensen betrachtete die Konsole, als säße darauf eine zum Sprung bereite Spinne.
«Ganz schön übel», sagte er. «Ich biete dir Antworten, und du schaltest das Radio ein.»
«Stimmt», sagte Sörensen und schaltete es wieder aus. «Unsicherheit. Unerfahrenheit. Unvermögen.»
«Unverschämtheit.» Sein Vater faltete die Hände wie ein Gourmet kurz vor dem Hauptgericht. «Also, freiheraus, als hätten wir jemals ein Gespräch geführt: Was willst du wissen?»
Sörensen war blockiert. Sie hatten alles Städtische hinter sich gelassen, fegten auf der Autobahn dahin - na ja, Fegen im Sinne einer borstenlosen Handbürste -, der Regen hatte sich erschöpft, Aufklarung zugelassen, und Sörensen fiel einfach nichts ein, was er seinen Vater fragen konnte. Es erschien ihm entweder zu banal oder zu tief, es war so, als hätte man keinen Bootsführerschein, wäre das Rudern gewohnt und würde plötzlich ans Steuer eines untergehenden Flugzeugträgers gesetzt, um ihn sicher in den nächsten Hafen zu führen. So funktionierte das einfach nicht. Höchstens in Hollywood-Filmen mit entsprechendem Budget. Das hier war alles andere als Hollywood. Also sagte er nichts, sondern nickte vor sich hin. Immer wieder. Wie zur Bekräftigung des Ungesagten. Ein nonverbales Füllsel. Ein kommunikatives Luftloch.
Alfred Sörensen hatte ihn zunächst erwartungsvoll angeschaut, offen, freundlich, dann nach und nach auch noch die letzte Körperspannung verloren, mit dem Mund gemahlen, den Fingerspitzen auf den Knien getrommelt, schließlich «na ja» gesagt und es gut sein lassen. Vater und Sohn gaben sich der Leere hin, es war wie früher, nur war das Schweigen damals durch hohle Worte übertüncht worden.
Sörensens Gedanken sprangen ziellos hin und her, dann dachte er an seine Tochter Lotta und ihren Besuch an Ostern. Es war gut gelaufen, trotz aller Nervosität, aller Unsicherheit. Alfred Sörensen hatte seine Enkelin ununterbrochen zum Lachen gebracht, bis sogar sein Sohn eingestimmt und mitgealbert hatte, sie hatten ein wunderbares, warmherziges, freudvolles Osterfest verbracht, Sörensen, sein Vater, seine Tochter, Cord und, ja, Nele, Lottas Mutter, die nach und nach von der Aufpasserin zur Komplizin geworden war. Sörensen war nicht umhingekommen, das Schöne an ihr zu bewundern, das, worin er sich einst verliebt hatte und was immer noch da war. Es hatte Momente gegeben, da wünschte er sich, sie würden einfach dableiben, Nele und Lotta, ihre Hamburger Wohnung kündigen, die Schule wechseln, den Beruf, ihr Leben verändern, so wie er es getan hatte, nach Katenbüll ziehen und mit ihm zusammen eine wundersame Wiedervereinigung erleben.
Dann, auf einen Schlag, so, als wäre es nicht immer schon klar gewesen, waren sie wieder abgereist, erst Mutter und Tochter, dann Alfred Sörensen, und die anschließende Stille hatte schwerer gewogen als jede Stille zuvor, da mochte Cord hecheln, schnüffeln und winseln, so viel er wollte, er konnte nicht ausgleichen, was Sörensen mit einem Mal vermisste. Er hatte sich zum ersten Mal allein gefühlt, allein in Nordfriesland, der Deich gegenüber versprach keinen Schutz mehr, sondern engte ihn nur noch ein, schnürte ihm das Herz zu. Ihm waren seine Grenzen aufgezeigt worden. In jeder Hinsicht. Und es hielt bis heute an. Er wünschte sich ein Lachen von Lotta, ein Lächeln von Nele. Jeden Tag. Jede Stunde. Jetzt.
Die A23 endete kurz hinter Heide, sie kamen auf die Landstraße, hier galt Tempo einhundert, sie überholten mehrere landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge, schon näherte sich linker Hand Tönning, da fuhren die meisten PKW ab, denn da ging es zum Strand, zum Meer, zur Weite. Sie hingegen rasten...
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