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Es war wie eine Geburt. Sie sog die eiskalte, stechende Luft ein, als wäre es das erste Mal. Das Gefühl war so befreiend, so überwältigend, dass sie nicht einmal merkte, wie sehr sie in ihrem dünnen, flatternden Nachthemd fror.
Sie wusste, sie durfte nicht stehen bleiben, keine Zeit verlieren, musste so schnell wie möglich weiter, fort von hier. Doch fort wohin? Sie reckte die Nase in die Luft, ruckartig, wie ein verschrecktes Tier, das Witterung aufgenommen hatte. Alles war fremd für sie, neu. Es war Nacht, mittendrin, keinesfalls kurz vor dem anbrechenden Morgen, es war Winter, der Boden war nass und hart unter ihren nackten Füßen. Lag da vielleicht sogar Schnee? Sie tastete sich unentschlossen voran, einen Fuß vor den anderen, die Arme ausgestreckt. Einige der Zweige konnte sie beiseitebiegen, andere aber erwischten sie wie peitschende Ruten, schlugen sie, streiften sie, zogen feine, dünne Risse in ihre Haut, hinterließen blutrote Striemen. Das musste sie sein, die Strafe Gottes. Sie senkte den Kopf und nahm die Arme höher. Das Weiche, Nasse unter ihr war das kleine Stückchen Wiese, auf dem sie in manchen Nächten hatte laufen dürfen, immer im Kreis herum, um ihre Muskeln zu trainieren, wie Papa gesagt hatte.
Papa.
Papa hatte einen Fehler gemacht. Zum ersten Mal überhaupt. Er war zu ihr herunter gekommen, in ihr Zimmer, hatte das Essen gebracht, so wie jeden Abend. Sie hatte an seinen Schritten gehört, dass er nicht ganz bei sich war, nicht sicher auf den Beinen. Er hatte gar nicht wie er selbst gerochen. Im Türrahmen stehen geblieben war er, unendliche Sekunden, einfach so, er hatte gerochen wie manchmal, wenn er undeutlich sprach und noch schlechtere Laune hatte als sonst. Sie hatte ihn gefragt, was los war, aber er hatte nichts gesagt, sie nicht beschimpft oder getadelt, nein, geschwiegen hatte er, das Tablett auf den Tisch gestellt, fast vorsichtig, und dann das Zimmer wieder verlassen, polternd, schwankend, der Rhythmus seiner Schritte war ein anderer gewesen als üblich.
Sie hatte auf dem Bett gesessen, auf der Kopfseite, ganz hinten an der Wand, in ihrem Nachthemd, die Beine angewinkelt, und ihn gehen gehört, zwei Schritte bis zur Tür, Pause, das Umdrehen der Füße, dieses leichte Wischen auf dem Boden, dann das Schließen der Tür, das Einrasten des Schlosses. So war der Ablauf. Der immergleiche Ablauf. Aber heute war nichts eingerastet. Heute nicht. Er hatte es vergessen. Wie konnte er das bloß vergessen haben? Jette hatte sofort begriffen, was das bedeutete, Panik war in ihr hochgestiegen, Panik und Euphorie und Aufregung, das pochende Herz schien sich aus dem Brustkorb befreien zu wollen, es tat ihr weh. Sie war aufgesprungen, hatte an der Tür gelauscht, bis das unrhythmische, schwerfällige Tapp-Tapp-Tapp auf der Treppe verklungen war, ihren viel zu lauten Atem eingefangen, weitere zehn Sekunden gewartet - und dann die Klinke nach unten gedrückt. Ganz vorsichtig, so als stünde sie eventuell unter Strom, als könnte das leiseste Quietschen sie bereits verraten. Aber Papa war ja oben, vielleicht im Wohnzimmer, ein fremder Ort, den sie noch nie betreten hatte. Das Wohnzimmer war wie der am weitesten entfernte Planet im ganzen Universum für sie. Unerreichbar. Außerhalb ihrer Vorstellungskraft.
Die Tür hatte nachgegeben und war ihr sanft entgegengeschwungen, als wollte sie helfen, als wäre sie auf Jettes Seite. Ihr Gehirn hatte ausgesetzt. Alles, was nun gefolgt war, war mehr oder weniger automatisch abgelaufen. Sie hatte einen Fuß vor den anderen gesetzt, langsam, aber fest, stieß nicht gegen den Absatz, den Weg nach oben hatte sie sich gemerkt, sie wusste, sie musste die fünfte, knarrende Stufe auslassen, wollte sie keinen verräterischen Krach machen. Sie machte einen behänden Satz, drohte wegzuknicken, rücklings herunterzufallen, fing sich, hielt sich am Geländer fest und ging den 45-Grad-Bogen ans obere Treppenende. Auch hier war eine Tür. Aber sie war nicht abgeschlossen. Das war sie nie. Das hätte sie gehört.
Sie hatte gelauscht. Stille. Die Tür vorsichtig geöffnet. Es roch modrig, scharf und nach dem Zeug aus Papas Mund. Sie lauschte erneut. Im Wohnzimmer lief der Fernseher, er war sehr laut, da lachten Menschen, viele Menschen, Papa klapperte mit irgendetwas, aber das war Jette egal, Hauptsache, er war abgelenkt. Sie wandte sich nach links, da ging es durch einen schmalen Durchgang in die Küche. Und dort war die Tür zum Garten. Das war der Weg, den sie kannte. Der eine Weg. Der einzige.
Es waren vier Schritte, vorbei an dem links von ihr brummenden Kühlschrank, vorbei an der rechts über ihr immer ein wenig bedrohlich tickenden Wanduhr. Nicht gegen den Esstisch stoßen, dachte sie. Zwei Schritte nach rechts. Einer nach links. Dann stand sie da, direkt vor der Tür zum Garten. Zur Freiheit. Sie spürte den Luftzug, der durch die Ritzen drängte. Wie mochte die Tür bloß aufgehen? Sie hatte sie noch nie geöffnet, natürlich nicht, das hatte immer Papa gemacht. Sie tastete am Rahmen entlang, da war Glas, viel Glas, links ein Widerstand, war das die Klinke? Nein, ein Hebel. Sie betastete ihn und zog ihn nach unten. Ihre ganze Kraft musste sie dafür aufwenden. Die Tür hob sich in einer zügigen Gegenbewegung, es gab ein ächzendes, tiefes Geräusch, viel zu laut war es, aber Papa war ja abgelenkt, er roch komisch, er war nicht er selbst, im Fernsehen lachten Menschen. Sie fand einen Knauf, zog daran, die Tür öffnete sich, ließ eisige Winterluft hinein, Jette schlüpfte hinaus, dachte sogar daran, die Tür so weit wie möglich wieder zuzuziehen. Und nun?
Nun stand sie da, im Garten, sog die Luft ein, fror, wandte sich zu allen Seiten und war hilflos. Desorientiert. Hatte Entscheidungen zu treffen, das war sie nicht gewohnt. Ging wahllos einige Schritte, ließ sich Zweige gegen das Gesicht schlagen, tastete sich immer weiter vorwärts, bis große, raue Widerstände ihr den Weg versperrten. Bäume. Spitze Gegenstände schnitten ihr die Füße auf. Sie ignorierte es. Den Kopf gesenkt, die Hände ausgestreckt, ging sie immer weiter vorwärts. Ob sie zehn Meter weit gekommen war oder fünfzig, sie wusste es schon bald nicht mehr. Ob sie immer noch in Sichtweite war? Und was hieß das überhaupt? Wie weit musste man weg sein, um nicht mehr in Sichtweite zu sein? Sie arbeitete sich vorwärts. Meter für Meter, hoffentlich ging sie nicht immer nur im Kreis.
Plötzlich, nach unendlich mühsamen Minuten, Stunden, Jahren, änderte sich die Luft, änderte sich der Boden. Er war nun glatter, leiser. Kälter. Aber es war besser auf ihm zu laufen. Man kam leichter vorwärts. Jette spürte, dass sie eigentlich überhaupt keine Kraft für all das hatte, dass sie erschöpft war. Jetzt schon. Natürlich, dies war vielleicht die weiteste Strecke, die sie jemals gegangen war, und wirklich weit konnte sie noch nicht gekommen sein. Sie musste sich zusammenreißen. Alles aus ihrem fehlerhaften Körper herausholen. Irgendwann würde sie irgendwo ankommen. Und im Moment, ja, im Moment ging es nur darum, zu laufen. Sich zu trauen. Immer wenn es unter ihren Füßen feucht wurde, erdig, korrigierte sie ihre Schritte, blieb auf dem harten Untergrund. Sie keuchte, ihre Seiten stachen, ihr Herz schlug immer schneller, sie spürte ihre Zehen nicht. Außer einmal, als sie sich an einem spitzen Stein stieß und Angst hatte, der große Zeh wäre gebrochen. Warum hatten die Finger eigentlich Namen und die Zehen nicht?, dachte sie. Wenn der dicke Finger Daumen heißt, heißt der große Zeh jetzt Zaumen, dachte sie. Zaumen. Der Zaumen schmerzte.
Der Weg machte Kurven, nicht oft, aber doch. Ihr Oberkörper beugte sich weit nach vorne, sie ging fast gebückt, einmal fiel sie hin, rappelte sich wieder auf, die Natur reagierte nicht, blieb still und unbeeindruckt. Was, wenn sie längst wieder auf dem Weg zurück war, versehentlich, wenn gleich Papa vor ihr auftauchen würde, wütend, sehr, sehr wütend, unendlich wütend? Wenn er sie nicht nur beschimpfte, sondern auch bestrafte, mit dem Stock oder dem Gürtel? Wenn er sie für all die Sünden körperlich leiden ließ, die sie selbst und die anderen Menschen begangen hatten? Denn das war doch ihre Aufgabe, so hatte Papa es immer und immer wieder behauptet. Jette glaubte nicht, dass das stimmte. Sie glaubte nicht, dass das ihre Aufgabe war, dass sie überhaupt eine Aufgabe hatte. Jette bemerkte, dass sie einen eisernen Willen hatte. Sie wollte nur laufen. Je weiter sie lief, desto weiter blieb alles hinter ihr zurück.
Der Wind nahm zu, er peitschte ihr entgegen, trug salzige, nasse Luft, und irgendwann transportierte er ein Geräusch, das anders war, das nicht hineinpasste in die Umgebung und das sich Jette aus größerer Entfernung näherte. Ihr war in der ganzen Zeit keine Menschenseele begegnet. Zumindest nicht, dass sie es gehört hätte. Vielleicht gibt es hier gar keine Menschen, hatte sie zwischendurch gedacht. Keine Menschen außer Papa. Vielleicht war sie auf einer Insel. Auf einer Insel ohne Menschen. Wie Robinson Crusoe. Die Geschichte kannte sie, die hatte Papa ihr vorgelesen. Das Geräusch kam näher. Es war ein Brummen, ein tiefes, leicht stotterndes Brummen. Vielleicht ein Wolf? Papa hatte sie immer vor den Wölfen gewarnt. Dadraußen, hatte er gesagt, wären jede Menge Wölfe. Gierige, blutdurstige Wölfe, die sie reißen würden, sollte sie auch nur einen Fuß in die Welt setzen. Die Wölfe und der Teufel und der Tod. Jette blieb stehen,...
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